Die USA greifen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ aus der Luft an. Das wird an dem mörderischen Chaos im Irak nichts grundsätzlich ändern. Die Entscheidung ist trotzdem richtig, meint „welt-sichten“-Redakteur Tillmann Elliesen.
Im Juli 1915 verschanzten sich 4000 Armenier auf dem Berg Musa Dagh am Mittelmeer im Süden der heutigen Türkei. Sie leisteten dort Widerstand gegen die Jungtürken, die sie aus ihren Dörfern vertreiben wollten – so wie die hunderttausenden armenischen Frauen, Männer und Kinder, die diesem ersten Völkermord im 20. Jahrhundert zum Opfer fielen.
99 Jahre später wiederholt sich diese Geschichte 600 Kilometer weiter östlich im Norden des Irak. Zehntausende Frauen, Männer und Kinder der religiösen Minderheit der Jesiden sind dort vor der anrückenden islamistischen Terrormiliz IS in das Sindschar-Gebirge geflüchtet. Die Islamisten haben mit den Jesiden und anderen Andersgläubigen und Andersdenkenden wie Christen, Schiiten und moderaten Sunniten dasselbe vor wie die Türken damals mit den Armeniern: sie zu vertreiben oder umzubringen.
Die Vereinten Nationen haben die irakische Regierung aufgefordert, den Jesiden und anderen bedrohten Minderheiten zu helfen. Doch dazu ist sie weder in der Lage noch offenbar ernsthaft gewillt. So wie sie in der Vergangenheit nicht gewillt war, ihre zerstörerische, gegen die Sunniten gerichtete Politik zu ändern, die das mörderische Chaos im Irak mitverursacht hat.
Die internationale Gemeinschaft muss handeln
Zur Zeit des Völkermords an den Armeniern gab es kein internationales Recht, das die Bürger eines Staates vor den Verbrechen oder der Unfähigkeit ihrer Regierung schützte. Das hat sich seitdem geändert: Heute gibt es für solche Fälle eine Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, die „Responsibility to Protect“. Die Bedrohung der Jesiden im Irak ist ein klarer Fall, in dem diese Schutzverantwortung zur Anwendung kommen muss.
Es ist deshalb richtig, dass sich US-Präsident Barack Obama für Luftangriffe gegen die Mörder der IS entschlossen hat. Diese Angriffe werden die Lage im Irak insgesamt nicht verbessern. Und sie ändern auch nichts daran, dass Washington mit seinem Krieg gegen den Irak und seiner desaströsen Politik seitdem mitschuldig ist an dem Unheil, das heute in dem Zweistromland herrscht. Aber sie geben den vom Tode bedrohten Menschen im Sindschar-Gebirge hoffentlich die Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen.
Die 4000 Armenier vom Musa Dagh wurden nach 53 Tagen von französischen und britischen Kriegsschiffen gerettet. Heute müssen die Jesiden vom Sindschar gerettet werden. Auch Deutschland kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen. (ell)
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