Die Kolonialgeschichte nicht verdrängen

Historisches Schwarz-Weiß-Bild: Robert Clive (1725–1774), der erste britische Gouverneur von Bengalen, erhält vom indischen Großmogul Shah Alam II die Verfügung, dass die Ostindien-Kompanie die Steuern in Bengalen eintreiben darf.
Hulton Archive/Getty Images
Ein Dekret leitet indische Steuern in britische Taschen: Robert Clive (1725–1774), der erste britische Gouverneur von Bengalen, erhält vom indischen Großmogul Shah Alam II die Verfügung, dass die Ostindien-Kompanie die Steuern in Bengalen eintreiben darf.
Globale Ungleichheit
In der Debatte darüber, was gegen internationale Ungleichheit zu tun ist, wird die Kolonisierung meist ausgeblendet. Dabei hat sie den Norden reicher und große Teile des Südens ärmer gemacht – mit Folgen bis heute.

Die Ungleichheiten in der heutigen Welt sind vom Erbe der europäischen Kolonialgeschichte geprägt. Sie führt uns vor Augen, dass die Armut des heute sogenannten globalen Südens (ich spreche lieber von „ehemals kolonisierten Ländern“) und der Reichtum des globalen Nordens (der ehemaligen Kolonialmächte) eng miteinander verknüpft sind. Dieselben historischen Vorgänge, die den Reichtum europäischer Länder geschaffen haben (hier schließe ich die Siedlergesellschaften der USA und Kanadas als Ableger des europäischen Kolonialismus ein), haben Gebiete woanders arm gemacht. Das hat eine lange Reihe von Denkern und Aktivisten aufgezeigt – von Dadabhai Naoroji in Indien über Anna Julia Cooper in der Karibik bis hin zu Walter Rodney und Samir Amin in Afrika.

Das vorherrschende Verständnis von globaler Ungleichheit blendet die koloniale Beziehung jedoch häufig aus. Ungleichheiten werden als Folge innerer Faktoren der untersuchten Weltgegenden dargestellt, das heißt ihrer Unterentwicklung. Die Sichtweise ist hier bedeutsam. Denn wenn wir glauben, dass andere Länder wegen ihrer inneren Schwächen arm sind, dann reagieren wir in der Regel mit Almosen, Mildtätigkeit oder Entwicklungshilfe – und in schwierigen Zeiten wächst der politische Druck, dass Wohltätigkeit zu Hause anfangen soll. Wenn wir hingegen begreifen, dass dieselben historischen Vorgänge, die andere Länder arm gemacht haben, uns reich gemacht haben, dann können wir die Frage nach Ungleichheit neu formulieren: im Sinne von globaler Umverteilung oder, wie ich argumentiere, von Reparation.

Das Hauptproblem im vorherrschenden Verständnis von globaler Ungleichheit, das etwa in den Arbeiten von Thomas Piketty und Branko Milanović zutage tritt, liegt darin, dass sie auf Ungleichheit innerhalb von Nationalstaaten sowie zwischen ihnen blicken. Aber die meisten untersuchten Länder waren nicht über den betrachteten Zeitraum hinweg Nationalstaaten. Zum Beispiel betrachten sowohl Piketty als auch Milanović Ungleichheiten innerhalb und zwischen Großbritannien und Indien in den jüngsten zweihundert Jahren. Aber es ergibt keinen Sinn, die Volkswirtschaften Großbritanniens und Indiens für diese Periode zu vergleichen, als wären es getrennte Wirtschaftseinheiten. Angemessener ist, sie als koloniales Gebilde zu begreifen, das aus einem kolonisierenden Staat sowie den von ihm einverleibten Territorien und Bevölkerungsgruppen besteht. Das gleiche gilt für andere europäische Kolonialmächte und die von ihnen kolonisierten Gebiete und Menschen. Sie wurden erst nach der Dekolonisierung zu Nationen.

Die East India Company und der Transfer von Reichtum

Offizielle britische Stellen begannen den ersten bedeutenden Transfer von Reichtum aus Indien im späten 18. Jahrhundert, nachdem die East India Company das Recht erhalten hatte, in den Provinzen Bengalen, Bihar und Orissa mit insgesamt 30 Millionen Menschen die Steuern der lokalen Herrscher einzutreiben. Die East India Company war eine Aktiengesellschaft, der Königin Elisabeth I. im Jahr 1600 erstmals ein königliches Privileg gewährt hatte. Das private Unternehmen handelte im Namen der britischen Krone. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts war es in erster Linie eine Handelsgesellschaft, aber bis Ende des 18. Jahrhunderts war es dann an bedeutenden territorialen Eroberungen beteiligt. Der Sieg in der Schlacht von Plassey 1757 über den Herrscher (Nawab) von Bengalen, Siraj-ud-Daulah, gilt als der Beginn der politischen Herrschaft der Ostindien-Kompanie in Indien.

Zwei Jahre, nachdem sie das Recht erhalten hatte, im Namen des Mogulkaisers Steuern einzutreiben, versuchte der britische Staat, eigene Rechte an diesen Einnahmen durchzusetzen. Dies scheiterte zwar, aber ab 1767 musste die Kompanie einen jährlichen Tribut von 400.000 Pfund an die britische Krone zahlen. Dieser erhebliche Betrag ermöglichte es der britischen Regierung, die Steuer auf Grundbesitz um ein Viertel zu senken und so die für die britische Politik entscheidende ländliche Elite der Grundeigentümer zu umwerben. Außerdem verschob sie damit den Zeitpunkt, an dem sie Steuern von der breiten Bevölkerung erheben musste. Zweihundert Jahre lang, bis zum Ende des Empires, wurden die aus der kolonialen Besteuerung stammenden Einkünfte genutzt, um Steuern für die britische Bevölkerung zu mindern.

Autorin

Gurminder K. Bhambra

ist Professorin für historische Soziologie an der University of Sussex und Mitherausgeberin des Buches „Imperial Inequalities. The politics of economic governance across European empires“ (Manchester 2022).

Als 1858 der britische Staat formell von der Kompanie die direkte Kontrolle über Indien übernahm, wurden Pläne für eine Einkommensteuer vorgeschlagen. Die indische Einkommenssteuer von 1860 folgte eng dem britischen Vorbild – nur dass, wie Charles Trevelyan als Gouverneur von Madras (1859–1860) feststellte, zwar das Finanzsystem nach Indien verpflanzt wurde, aber „eine grundlegende Voraussetzung dieses Systems fehlte, die politische Vertretung der Steuerzahler“. Die Kolonialbevölkerung in Indien wurde von der Regierung in Westminster mit einer Einkommenssteuer belegt, durfte aber nicht mitbestimmen, wie oder für wen diese Steuer ausgegeben wurde. Damals waren die Arbeiterklasse und der Mittelstand in Großbritannien nicht einkommensteuerpflichtig – sie begannen erst Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts, Einkommensteuer zu zahlen. Aber sie galten als legitime Empfänger öffentlicher Mittel, die aus der Verteilung von Kolonialsteuern stammten. 

Rund 45 Billionen US-Dollar aus Indien herausgepresst

Diese Geschichte ist wichtig im Zusammenhang mit Ansichten im gesamten politischen Spektrum Europas, wonach Migranten und Minderheiten keine legitimen Nutznießer der nationalen Wohlfahrtsstaaten sind. Einige wie der emeritierte deutsche Soziologieprofessor Wolfgang Streeck haben Migranten und Asylbewerber in Europa als Eindringlinge bezeichnet; andere haben ihr Recht auf Zugang zu Leistungen in Frage gestellt, zu denen sie angeblich nichts beigetragen haben. Das Beispiel Indiens zeigt jedoch, dass die kolonisierten Völker zwar in die europäischen Staatshaushalte eingezahlt haben, für die Verteilung dieser Einnahmen aber nie als Bürger betrachtet wurden. Mit der Entkolonialisierung und der Entstehung eigenständiger Staaten verschwanden die Argumente für eine Umverteilung erneut aus dem Blick.

Das genaue Ausmaß des Ressourcentransfers von den Kolonien an die Kolonisatoren ist noch nicht vollständig geklärt. Aber die indische Wirtschaftswissenschaftlerin Utsa Patnaik rechnet anhand von Steuer- und Handelsdaten aus zwei Jahrhunderten vor, dass Großbritannien von der Schlacht von Plassey (1757) bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs insgesamt rund 45 Billionen US-Dollar, umgerechnet in heutige Währung, aus Indien herausgepresst hat. Um einen Eindruck zu geben, wie viel eine Billion ist: Wenn man Ihnen einen Dollar pro Sekunde gäbe, hätten Sie in einer Minute 60 Dollar, in einer Stunde 3.600 Dollar beisammen. Für 1 Billion würde man bei einem Dollar pro Sekunde 31.700 Jahre brauchen, also 317 Jahrhunderte. 

Der industrielle Reichtum Großbritanniens als Folge kolonialer Prozesse

Viele Wissenschaftler erkennen an, dass zwei Jahrhunderte Kolonialherrschaft die Entwicklungslogik Indiens beeinträchtigt haben. Aber selten wird diskutiert, wie sich die Kolonisierung und insbesondere der daraus geschöpfte Reichtum auf die Entwicklungslogik Großbritanniens ausgewirkt hat.

So wird die industrielle Revolution in der Regel als zentral für den Wohlstand Großbritanniens angesehen und die Baumwollindustrie in Manchester als Schlüssel zu diesem Erfolg. Der 150 Jahre währende Protektionismus in Form einer merkantilistischen Politik gegen die indische Textilimporte wird jedoch kaum erörtert; dabei schuf er den Rahmen, in dem diese Industrie in Gang kommen und dann florieren konnte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte Indien einen Anteil von 25 Prozent am Weltmarkt für Textilwaren. Ende des 19. Jahrhunderts hatte die britische Kolonialpolitik Indien jedoch zu einem Lieferanten von Rohbaumwolle für die britische Industrie degradiert. Dabei wurde die indische Fertigung systematisch zerstört, ebenso wie die Lebensgrundlagen und die Existenz der Menschen, die von ihr abhingen. Der industrielle Reichtum Großbritanniens ist also nicht von innen entstanden, sondern auch als Folge kolonialer Prozesse.

Kategorien wie „Nation“ zu verwenden, um den Grad der Ungleichheit im Verlauf der Geschichte zu bestimmen, und auszublenden, dass diese „Nationen“ entweder Kolonien oder Kolonialmächte waren – das ist schlechte Wissenschaft und nährt populistische Politik. Die grundlegende und grundlegend falsche Annahme ist, dass der für Verteilung zur Verfügung stehende, überkommene Reichtum eben national sei: Es handele sich um einen Wohlstand, den Bürger eines Nationalstaats mit der Zeit geschaffen hätten und dessen Verwendung und Verteilung im Sinne „des Volkes“ im eigentlichen Sinn geregelt werden müsse, da er dessen Arbeit und Anstrengung widerspiegele. Aber weil die europäischen Staaten nicht einfach Nationen waren, sondern Kolonialmächte, geht ein erheblicher Teil dessen, was als ihr nationaler Reichtum dargestellt wird, historisch auf die Aneignung der Ressourcen anderer zurück. Was soll da heißen, man müsse diesen Wohlstand ausschließlich für die eigenen Bürger bewahren? 

Europäer wanderten massenhaft in Kolonien aus

Selbst die Länder Europas, die nicht direkt als Kolonialmächte gelten, haben vom Ertrag des europäischen Kolonialprojekts profitiert: Ihrer Bevölkerung wurde die Auswanderung in Kolonien ermöglicht. Im 19. Jahrhundert verließen mehr als 60 Millionen Europäer ihre Heimatländer, um sich in von anderen bewohnten Ländern eine neue Existenz aufzubauen. Jeder neuen Auswanderergeneration wurde Land am Rande von bereits kolonisiertem Territorium zugewiesen, und sie beteiligte sich somit daran, die dort ansässige Bevölkerung zu enteignen und zu beseitigen. So wirkten nicht nur die europäischen Kolonialmächte, sondern auch breitere europäische Bevölkerungsschichten an der Erzeugung globaler Ungleichheiten mit. Nur wenn wir diese Kolonialgeschichte ernst nehmen, können wir die Form und das Ausmaß dieser Ungleichheiten richtig verstehen und angemessene Rezepte dagegen entwickeln.

Wiedergutmachung, nicht Entwicklungshilfe fordert Chenzira Kahina, Ex-Präsidentin der ­Caribbean Studies Association, auf der Konferenz der AU zu Reparationen in Accra 2023.

Ein Ansatz wäre, die von der Kolonialgeschichte geschaffenen asymmetrischen Beziehungen ins Zentrum zu stellen und über Wiedergutmachung nachzudenken. Vergangene Ungerechtigkeiten können nicht in dem Sinne geheilt werden, dass man Leid ungeschehen oder die Vergangenheit rückgängig machen könnte. Für Reparationen einzutreten heißt auch nicht, einen Ausgleich für individuelle Verluste zu fordern. Das Argument wendet sich dagegen, heutige Arten der Ungleichverteilung als rein historisch darzustellen und damit als jenseits von Recht und Gerechtigkeit zu stellen. Das heutige System von Ungleichheit erfordert Umverteilung derart, dass aus kolonialer Aneignung stammende und bis heute andauernde, ungerechtfertigte Vorteile anerkannt werden. So hat die Karibischen Gemeinschaft CARICOM 2013 die Karibische Reparationskommission eingerichtet und befürwortet kollektive Reparationen, die insofern inklusiv sind, als sie allen Bürgern gleichermaßen zugutekommen sollen.

Die Kolonialgeschichte war für die Entstehung und Erhaltung globaler Ungleichheiten von zentraler Bedeutung. Wir müssen sie ernst nehmen, um die Probleme zu verstehen. Ihre Lösung erfordert, dass wir zusammenarbeiten, um eine Welt zu schaffen, die für uns alle taugt.

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

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Dass heutezutage Iran,China,Russland, die BRIC-Staaten ( mit Indien) ein Gegengewicht zu Europa und USA bilden und die Weltherrschaft der USA und Europa in Frage stellen, der sich aus dem hypokritischen Geist der europäischen Kolonialherren( Spanier in Lateinamerika, Engländer in China(Opiumkrieg) und Indien und alle zusammen in Afrika entwickelt hat und noch heute weiterlebt im anmaßenden Anspruch auf einer "wertebasierenden demokratischen Weltherrschaft"....führt hoffentlich nicht zum 3. Weltkrieg, sondern müsste in einem globalen 'Community Development' (auch von der Kirche ) verarbeitet werden.

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