Eine Kathedrale ohne Gott

Claudia Piñeiro: Kathedralen, Unionsverlag, Zürich 2023, 320 Seiten, 24 Euro

Als die verbrannte Leiche der 17-jährigen Ana Sarda gefunden wird, gehen alle von einem Sexualmord aus. Doch sie war Opfer von religiösem Fanatismus. Claudia Piñeiro rechnet in ihrem Roman mit der Macht der Kirche in der argentinischen Gesellschaft ab.

Spannend wie ein Hitchcock-Thriller kreist das Buch der argentinischen Erfolgsautorin und Frauenrechtlerin Claudia Piñeiro um das Thema Abtreibung und die menschenfeindliche Haltung der Kirche dazu. Das Original „Catedrales“ erschien 2020, kurz bevor das argentinische Parlament im November nach langen Kämpfen der Frauenbewegung den Schwangerschaftsabbruch legalisierte. Nach drei Jahren liegt es nun in deutscher Übersetzung vor und gibt facettenreiche Einblicke in eine vom römisch-katholischen Glauben geprägte Gesellschaft.  

Piñeiro erzählt, wie die Familie Sarda an dem grausamen Tod der jüngsten Tochter Ana zerbricht. Vater Alfredo sucht verzweifelt nach der Wahrheit – ohne sie „hört der Schmerz nie auf“. Wie das Verbrechen an Ana aufgeklärt wird, erzählt Piñeiro in einem kunstvollen Spannungsbogen, der aus Rückblenden besteht: Familienmitglieder, ein Kommissar und Anas Freundin Marcela erzählen aus ihrer Perspektive vom Tod des Mädchens. Für die Leserin setzt sich so Kapitel für Kapitel ein Puzzle zusammen, das nicht nur verrät, was damals geschehen ist, sondern auch, was die Beteiligten wissen, wie sie fühlen und welche Schuld oder Verantwortung sie übernehmen. 

Lia glaubt nicht mehr an Gott, Carmen ist tief religiös

Den Anfang macht Lia, die während der Totenwache für Ana bekennt: „Ich glaube nicht mehr an Gott“. Sie zieht dann nach Santiago de Compostela – sie schätzt, dass die Pilgerinnen und Pilger dort nicht alle streng religiös sind – und betreibt dort eine Buchhandlung. Nur mit ihrem Vater hält sie Briefkontakt. Als der sie um ein Foto der dortigen Kathedrale bittet, schickt sie ihm stattdessen eine Kurzgeschichte von Raymond Carver, in der ein Mann einem Blinden erklärt, wie eine Kathedrale aussieht, indem beide gemeinsam mit übereinandergelegten Händen eine zeichnen. 

Carmen, die älteste der drei Sarda-Schwestern, ist dagegen tief religiös und heiratet Julian, der einmal Priester werden wollte. Als deren gemeinsamer Sohn Mateo während einer Reise zu verschiedenen Kathedralen in Europa den Kontakt zu ihnen abbricht, wird nach 30 Jahren im spanischen Santiago de Compostela das erschütternde Familiengeheimnis um Anas Tod gelüftet. 

Die „eigene Kathedrale“ errichten

Die titelgebenden „Kathedralen“ sind der rote Faden, der den Roman durchzieht bis zum Epilog von Alfredo. Dieser besteht aus einem Brief an Lia und Mateo, den er kurz vor seinem Tod verfasst hat, nachdem er aufklären konnte, wie Ana gestorben war. Er ist froh, dass die beiden sich „von der religiösen Bindung befreit“ haben, die „euch durch unsere Familie aufgezwungen wurde“.

Jeder solle „seine eigene Kathedrale errichten“– aus dem, was ihm oder ihr wichtig sei. Der Roman gründet auf Piñeiros Engagement gegen Gewalt an Frauen und gegen andere Missstände wie Korruption in Behörden und der Kirche und das Zölibat. Er gibt tiefe Eindrücke vom Leben in Argentinien zwischen religiöser Scheinheiligkeit und politischer Emanzipation – bei maximalem Lesevergnügen.

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