Vom Töten zum Beten

Wer in Lateinamerika aus einer kriminellen Bande aussteigen will, muss um sein Leben fürchten. Außer er lässt sich von einer evangelikalen Pfingstkirche bekehren. Hier findet er auch den nötigen sozialen Rückhalt.

Roberto war 16, als er sich „den Nummern“ anschloss – diesen Namen geben sich Mitglieder der transnationalen lateinamerikanischen Bande „Mara Dieciocho“ oder „M-18“. „Sie hatten Autos, sie hatten Waffen, sie wurden ‚respektiert‘“, erinnerte sich Roberto. Und „Respekt“ war genau das, was er brauchte. Aufgewachsen in Amatitlán in Guatemala, in einem Haushalt mit wenig Geld und viel Gewalt, hegte Roberto einen tiefen Groll gegen seinen Vater und sehnte sich als junger Mann danach, seinen Mut zu beweisen. Die Schule brach er ab, nachdem ein älterer Klassenkamerad versucht hatte, ihn sexuell zu missbrauchen. Der Anschluss an die Gang eröffnete ihm die Möglichkeit, Waffen, Drogen, Kameraden und ein Gefühl der Achtung zu bekommen. Er forderte andere auf, ebenfalls mitzumachen: seine Freunde, einen Cousin, einen jüngeren Bruder. Endlich hatte Roberto das Gefühl, eine loyale Familie und eine vielversprechende Karriere zu haben.

Autor

Robert Brenneman

ist Soziologe und lehrt am Saint Michael’s College in Burlington, Vermont. Sein Buch „Homies and Hermanos: God and the Gangs in Central America“ erschien 2012 bei Oxford University Press.

Doch mit seiner „Berufserfahrung“ nahm auch die Zahl seiner Feinde zu. Bald wurde er von so vielen gesucht, dass er sich nicht länger frei in der Stadt bewegen konnte. Die Todesdrohungen häuften sich. Seine Mutter musste sogar ihre Wohnung verlassen und in eine andere Stadt ziehen, weil sie befürchtete, wegen der Aktivitäten ihres Sohnes umgebracht zu werden. Aus Angst um sein Leben zog Roberto nach Escuintla, einer Industriestadt an der Südküste. Dort lernte er seine spätere Ehefrau kennen, und er begann, in einer Textilfabrik zu arbeiten. Doch nach anderthalb Jahren hatte er noch immer ein Problem mit Drogen und in seiner Verzweiflung folgte er der Einladung eines Freundes zu einem Gottesdienst in einer Pfingstkirche. Dort begegnete er einem Pastor, der ihm sein Leben kritisch vorhielt und ihn aufforderte, die Bande zu verlassen und der Kirche beizutreten. Roberto begann, mit Hilfe der Kirche seine Gewohnheiten, seine Sprache und seinen Kleidungsstil zu ändern. Seine früheren Kameraden fielen indessen dem „Bumerangeffekt“ der Bandengewalt zum Opfer: 2007 waren nur noch vier der ursprünglich 22 Mitglieder von Robertos Clique am Leben.

„Die Bande hat dich Tag und Nacht im Auge“

Robertos Eintritt in die Gang ist keineswegs einzigartig. In Gesprächen mit 63 ehemaligen Bandenmitgliedern 2007 und 2008 in Guatemala, Honduras und El Salvador hörte ich viele erschütternde Geschichten. Sie handelten von Erfahrungen sozialer Ausgrenzung, die dazu geführt hatten, dass sie sich der Bande anschlossen und sich schließlich einem gewaltsamen Einstiegsritual, „Taufe“ genannt, unterzogen. Die Gang bot den heranwachsenden Jungen die Möglichkeit, sich wie „Männer“ zu fühlen, indem sie sich wie „Erwachsene“ die Zeit vertrieben. Sie hatten häufig Sex, betranken sich oder nahmen Drogen und trugen Waffen. Da die staatlichen Schulen unzureichend und überfüllt waren und es nur wenige Jobs gab, hatten diese schnellen Wege zum Erwachsensein einen besonderen Reiz.

Während die Banden wachsen, gehen christliche Kirchen aktiv gegen das Bandenleben und die Gewalt vor. Kleine evangelikale Pfingstkirchen in den Stadtvierteln sind besonders aktiv. Ihre Bemühungen, häufig „Wiederherstellungsdienst“ genannt, haben zum Ziel, Bandenmitglieder vor dem tödlichen Schicksal der Gang zu retten. Sie  werden gedrängt, die Bande zu verlassen, sich einer Kirche anzuschließen und den langen Prozess zu beginnen, der im Neuaufbau einer stark stigmatisierten Identität besteht.  Doch ein solcher Schritt ist nicht einfach. Aussteiger sind in der Regel nicht nur zum „Abschuss“ durch ihre ehemaligen Kameraden freigegeben. Sie sind mit einer skeptischen Gesellschaft konfrontiert, die ihnen die früheren Taten übelnimmt, und ihnen nicht traut.

Viele Bandenführer machen bei evangelikal-pfingstlerisch Bekehrten eine Ausnahme von der „Regel“, dass ehemalige Bandenmitglieder getötet werden, weil sie es gewagt haben, die Gang zu verlassen. Vera, die früher zu einer Bande in Guatemala gehörte, erklärt: „Heute besteht die einzige Möglichkeit auszusteigen darin, hundert Prozent in der Kirche mitzumachen. Aber“, setzt sie hinzu, „die Bande hat dich Tag und Nacht im Auge, um zu sehen, ob du dich tatsächlich daran hältst.“

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Das mag merkwürdig klingen, doch Bandenführer kennen die hohen Anforderungen an den Lebensstil pfingstlerischer „hermanos“ (Brüder in Christo). Die Mitglieder von Pfingstkirchen rauchen und trinken nicht, sie gehen nicht tanzen und kleiden sich anständig. Diese religiösen Verpflichtungen bedeuten, dass ein „wahrer“, zum pfingstlerischen Glauben Bekehrter mit großer Wahrscheinlichkeit keine Drogen mehr verkaufen und nicht mehr als Erpresser tätig sein wird. Damit stellt er keine Konkurrenz mehr dar – ein wichtiges Anliegen von Bandenchefs, die befürchten, dass ihre Organisation in Gefahr ist, wenn Aussteiger ihre beachtlichen Fertigkeiten nutzen und sich geschäftlich selbstständig machen.

Außerdem haben viele Bandenführer über rein praktische Überlegungen hinaus eigene religiöse Überzeugungen, wie die Vorstellung, dass man besser daran tut, eine Bekehrung nicht gewaltsam zu beenden. Im Straßenslang der Bande lautet das: „Con el Colocho no se juega“, das heißt: „Mit dem Lockigen spielt man nicht“. Die Ermordung eines ehemaligen Bandenmitglieds, der sein Leben Jesus gewidmet hat, gilt als Einmischung in die Angelegenheiten des „Lockigen“, des langhaarigen Jesus, wie er auf so vielen schlechten religiösen Bildern dargestellt ist.

Die „Ausnahmeregelung” für evangelikale Bandenaussteiger könnte Grund genug sein, eine Bekehrung zu erwägen. Aber es gibt noch andere Gründe, warum sich ausstiegswillige Gangmitglieder zu den Pfingstkirchen im Stadtviertel hingezogen fühlen. Diese Gemeinden haben häufig dichte, sich überschneidende soziale Netzwerke, über die ein ehemaliges Bandenmitglied die so dringend benötigte soziale Unterstützung finden kann. Wie viele ehemalige Gangmitglieder berichten, erhielten sie auf Empfehlung eines Pastors oder eines anderen Gemeindemitglieds ihren ersten Job nach dem Ausstieg. Außerdem kommen diese Barrio-Gemeinden sehr regelmäßig zusammen und erwarten von den Neubekehrten, dass sie häufig an den Treffen teilnehmen. Die ehemaligen Gangmitglieder sind beschäftigt, brechen mit ihren ehemaligen sozialen Netzwerken und halten sich von früheren Aufenthaltsorten fernhält. Außerdem finden die ungemein lebendigen Gottesdienste der Pfingstkirchen am Freitag- und Samstagabend statt – genau zu der Zeit, wenn die Bande sich trifft, um „la vida loca“ (das verrückte Leben) zu feiern.

Sie finden eine Gemeinschaft und eine neue Identität

Aus soziologischer Sicht ähneln sich die Pfingstkirche im Barrio und die Bandenzelle stark. Überlappende soziale Netzwerke vermitteln ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Klare Verhaltensregeln bestimmen die Identität von Mitgliedern und unterscheiden sie von Außenstehenden. Und schließlich binden zutiefst emotionale Rituale – einschließlich Initiationszeremonien, sowohl in der Kirche als auch in der Gang „Taufe“ genannt – die Mitglieder an die Gemeinschaft und verstärken ihren Wunsch, mitzumachen und Opfer für die Organisation zu bringen.

So verwundert es nicht, dass viele Gangmitglieder, die Zuflucht in den Pfingstkirchen suchten, dort beides gefunden haben: eine Gemeinschaft, deren soziale Gestalt sich vertraut anfühlt, und hilfreiche Angebote, um eine neue Identität aufzubauen. Und obwohl viele katholische Gemeinden wichtige berufsbezogene Projekte entwickelt haben, die Jugendlichen Alternativen zum Bandenleben bieten, finden sich doch bei den Pfingstkirchen im Barrio die erfolgreichsten Beispiele für einen Wandel des Lebensstils.

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Es bleibt die Frage, wie dauerhaft eine solche religiöse Verwandlung ist. Sind ehemalige Gangmitglieder, die sich bekehren, in der Lage, ihren neuen Lebensstil beizubehalten? 2013 traf ich Roberto noch einmal. Er ist noch verheiratet, hat zwei Kinder und ist weiterhin in der Kirche engagiert, inzwischen leitet er Gottesdienste. Aber es war nicht leicht. 2007 war er sechs Monate lang arbeitslos. Damals meldeten sich Freunde aus seinem früheren Leben bei ihm und drängten ihn, lukrative „Einmaljobs“ anzunehmen und für die mexikanischen Kartelle Drogen zu schmuggeln.

Er gibt offen zu, dass es ihm sehr schwer gefallen sei, solche Angebote abzulehnen – einmal hatte er bis zur buchstäblich letzten Minute gewartet. Noch schwieriger war für ihn, dass sein Bruder vor kurzem ermordet wurde. Er hatte ihn viele Jahre zuvor für die Bande rekrutiert, aber der Bruder hatte die Gang ebenfalls vor mehreren Jahren verlassen. Ein solcher Mord bringt ein Bandenmitglied, das ein besseres Leben führen will, in eine schwierige Lage. Nach der moralischen Logik der Straße verteidigt ein „guter Bruder“ die Ehre seines getöteten Familienmitglieds, indem er dessen Tod rächt und es den Mördern mit gleicher Münze heimzahlt.

Antonio, „der Brotbäcker“, wurde erschossen 

Und tatsächlich kamen von Robertos früheren Gefährten schnell die Angebote, ihm zu helfen, „die Dinge in Ordnung zu bringen“. Ebenso schnell aber kamen die Unterstützung und die Ermahnungen seiner neuen „Brüder in Christo“. „Gewalt bringt nur neue Gewalt hervor“, erklärte ihm sein Pastor. „Das ist die falsche Antwort.“ Roberto entschied sich dafür, keine Rache zu suchen und auf sein „Recht“, die Mörder seines Bruders zu töten, zu verzichten.

Anderen ehemaligen Bandenmitgliedern ist es ganz unterschiedlich ergangen. Einige waren überraschend erfolgreich. Neftalí, der früher zur Gang „Weißer Zaun“ in Guatemala gehört hatte und arbeitslos war, als ich ihn letztes Mal interviewte, hat Abitur gemacht, besucht die Universität, arbeitet in einer Bank und ist in einer Pfingstkirche aktiv. Bei anderen lief es weniger gut. Antonio, „der Brotbäcker“, wurde nur sechs Wochen nach unserem Interview 2007 auf einem Bürgersteig in Guatemala-Stadt erschossen. Er hatte sich bekehrt, später aber entschieden, dass die Kirche doch nichts für ihn war. Auch wenn die meisten der ursprünglichen Teilnehmer an meinem Forschungsprojekt noch kontaktiert werden müssen, ist sicher, dass mindestens sechs von ihnen ermordet wurden.

In keinem einzigen Fall wurde ein Verdächtiger für diese Morde vor Gericht gebracht. Das zeigt einmal mehr, dass Bandenmitglieder als absolut wertlos betrachtet werden. Selbst für Aussteiger, die sich bekehren, gibt es keine Garantien. Die übrigen ehemaligen Gangmitglieder, mit denen ich erneut Kontakt aufnehmen konnte, sind irgendwo zwischen Neftalí und Antonio einzuordnen. Sie wissen, dass sie, die Ende 20 oder Anfang 30 sind, entgegen aller Wahrscheinlichkeit überlebt haben.
Inzwischen ist zumindest für Roberto das Leben als „Bruder“ eindeutig besser als das Leben als „Nummer“: „Früher hatten die Leute Angst, wenn sie mich kommen sahen“, sagte er. Heute sei das völlig anders. „Die meisten Leute, die mich kennen, wissen, aus was Gott mich rausgeholt hat, und heute kann ich ein Lächeln sehen ... und das gibt mir ein gutes Gefühl. Das bringt mich dazu, dass ich diesen Weg weitergehen will.“

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner

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erschienen in Ausgabe 11 / 2013: Kriminalität
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