Im Gespinst der Gerüchte

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Journalisten in Ruanda
Journalisten leben in Ruanda gefährlich. Für Kritik am Regime riskieren sie Prügel oder ihr Leben. Von einem, der sich nicht einschüchtern lassen wollte.

Am Neujahrstag hat Paul Kagame bekannt gegeben, er werde sich ein drittes Mal als Präsident von Ruanda zur Wahl stellen. Seine Ansprache glich der eines klassischen Diktators, der nur noch wenigen Personen vertraut. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 hat der 58-Jährige dafür gesorgt, dass es in Ruanda keine Alternative zu ihm gibt. Ich habe von 2009 bis 2013 in Kigali einheimische Journalisten weitergebildet. Sie gehörten zu den letzten, die noch unabhängig arbeiten konnten. Damals wurde ich Zeuge, wie Zeitungen verboten und Reporter bedroht wurden, sobald sie Einwände gegen Kagame vorbrachten.

Ein Journalist, der bei einer Konferenz im Beisein des Präsidenten diese Angriffe auf die Presse zur Sprache brachte, wurde bewusstlos geschlagen. Einer meiner Kollegen, der Kritik an Kagame äußerte, wurde noch am selben Tag erschossen. Zwei Frauen mussten wegen kritischer Kommentare über den Präsidenten mehrere Jahre ins Gefängnis. Andere Journalisten flüchteten nach Europa, weil sie ihr Leben in Gefahr sahen. Viele resignierten; entweder schrieben sie nur noch freundliche Texte über Kagame oder sie hängten den Beruf an den Nagel, weil er ihnen zu gefährlich war.

Bezeichnend ist die Geschichte meines Studenten Gibson. Er kam 2010 auf mich zu. Wochenlang hatte er still im Hörsaal gesessen, doch nun hatte er sich das Ziel gesetzt, ein neues Nachrichtenmagazin zu gründen. Er hatte bisher für „Umuseso“ geschrieben, die wichtigste unabhängige Zeitung Ruandas. Doch weil die Regierung seine Kollegen bedrohte und viele von ihnen zur Flucht ins Ausland zwang, hatte er seine Mitarbeit kurz zuvor eingestellt.

Gibson wollte nicht tatenlos zuschauen, wie Paul Kagame die freie Presse des Landes vollends abwürgte. Er wollte den Präsidenten nicht provozieren, sondern die Probleme taktvoll umgehen: Seine Zeitschrift würde sich nicht bei der Regierung anbiedern, aber sie würde auch keine kontroversen Artikel bringen. In einem Land, in dem nur wenige Medien den regelmäßigen Attacken der Regierung standgehalten hatten, sollte sie auf Mäßigung bedacht sein und eine vermittelnde Position einnehmen.

„Je stärker die Presse unter Druck gesetzt wird, desto aggressiver wird die Berichterstattung, und desto wütender reagiert dann wieder die Regierung”, sagte er. „Vielleicht können wir diesen Teufelskreis auf vernünftige Weise durchbrechen.“ Ich versprach, ihm zu helfen. Gibsons bester Freund – nennen wir ihn Simon – sollte das Geschäftliche übernehmen, Gibson würde der Chefredakteur sein, und das Blatt sollte „New Horizons“ heißen.

Nach mehreren Wochen begann das Magazin Gestalt anzunehmen. Wir entwickelten einen detaillierten Wirtschaftsplan. Die Regierung verlangte als Voraussetzung für die Zulassung der Zeitschrift den Nachweis, dass genug Geld für Büromöbel und Computer vorhanden war. Auf diese Weise sollte den Journalisten der Wind aus den Segeln genommen und ihr Unternehmen erschwert werden. Doch wir glaubten, dass sich mit dem Blatt etwas erreichen ließe. Wir rechneten damit, dass es gut ankommen würde und, wenn alles gut ginge, sogar von Anfang an einen kleinen Gewinn abwerfen könnte.

Kein direkter Widerspruch zur offiziellen Linie

Der wichtigste Artikel in der ersten Ausgabe behandelte das Thema Mangelernährung. Laut der Regierung gab es in Ruanda genug zu essen, denn der Präsident hatte den Hunger im Land besiegt. Gibson vermied es, der offiziellen Linie direkt zu widersprechen. Er ging nicht darauf ein, dass die Ruander an Unterernährung litten und dass selbst in der Hauptstadt Kinder daran starben, obwohl die Regierung hier besonders bemüht war, mit Erfolgen zu glänzen. Stattdessen beschränkte er sich auf praktische Ratschläge, wie Kinder vor Mangelerscheinungen geschützt werden können.

Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Wohnraum und medizinischer Betreuung waren heikle Themen, denn die segensreiche Tätigkeit der Regierung durfte nicht hinterfragt werden. Zwar konnte das Regime mögliche Probleme feststellen, doch für einen normalen Bürger war es riskant, ohne eine solche offizielle Verlautbarung darauf hinzuweisen, dass die Menschen zu wenig zu essen hatten: Damit würde er die Autorität der Regierung in-rage stellen. Es musste stets erwähnt werden, dass die Regierung alles Notwendige in die Wege geleitet habe. Am besten sagte man gar nichts, wenn man sich nicht in Gefahr bringen wollte.

Wie stand es um das Wohlergehen der Bevölkerung? Der Präsident brüstete sich vor der Welt mit seinen Erfolgen: Die Wirtschaft expandierte, Armut und Hunger gingen zurück. Aber er ließ es nicht zu, die Behauptungen zu überprüfen. Ein Team der Weltbank, das die Entwicklungsfortschritte des Landes untersuchen wollte, musste seine Daten löschen, weil die Ergebnisse der offiziellen Erfolgsgeschichte widersprochen hätten.

Andere Fachleute, eigens von der Regierung eingeladen, kamen dann zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaft wächst, dass die Armut abnimmt und dass die Ernährungslage sich verbessert. Experten, die Recherchen über die Korruption bei der Polizei anstellen wollten, wurden ausgewiesen. Danach zählte Ruanda plötzlich zu den Länden mit der geringsten Korruption. So wurde das Bild einer heilen Welt zusammengefügt.

Gibson wusste, dass er sich unter diesen Umständen nicht mit der offiziellen Version der Sachverhalte auseinandersetzen konnte. Er wollte die dringendsten Probleme der Bevölkerung zur Sprache bringen, ohne seine eigene Sicherheit zu gefährden. Und schließlich kam die ersehnte Nachricht: Das Gesundheits- und das Informationsministerium hatten für „New Horizons“ grünes Licht gegeben. Gibson konzipierte bereits die Themen für die nächsten vier Nummern. Er hatte weitere Journalisten für die Mitarbeit gewonnen und sie von seinen mageren Ersparnissen für ihre Recherchen bezahlt.

Doch die Euphorie hielt nicht lange an. Zwar hatten die wesentlichen Stellen die Zeitschrift abgesegnet und eine Probenummer, die Gibson in einer kleinen Auflage hatte drucken lassen, stieß auf begeisterte Zustimmung. Wir bekamen SMS voller Lobeshymnen, und Leser teilten uns mit, dass sie Gibsons Empfehlungen bereits in die Praxis umgesetzt hätten. Nun wollten wir das erste Heft auf den Markt bringen. Doch ein dem Präsidenten unmittelbar unterstellter Medienbeauftragter der Regierung hatte der Veröffentlichung noch immer nicht endgültig zugestimmt.

Niemand sagte Gibson, dass man ihm die Zulassung verweigern werde, doch jedes Mal, wenn er zum Media High Council ging, wurden neue Dokumente von einer anderen Behörde und neue schriftliche Erklärungen über seine Absichten verlangt. Er geriet in einen Kreislauf von entnervenden, kafkaesken Auseinandersetzungen mit den Ämtern. Immer wieder musste er Auskünfte, die er bereits gegeben hatte, in anderer Form und auf anderen Formularen wiederholen. Er musste völlig irrelevante Angaben machen, und er musste Bescheinigungen aus seinem Heimatdorf vorlegen: dass er sich anständig aufgeführt und sich an gemeinnützigen Projekten beteiligt habe, dass er nicht zu nachtschlafender Zeit unterwegs gewesen sei und keine verdächtigen Besucher empfangen habe.

In einer Diktatur zählen die Verdächtigungen

Dass er keine Vorstrafen hatte, entlastete ihn nicht. Die Vertrauten des Präsidenten wollten sich davon überzeugen, dass er keinerlei Kontakt mit subversiven Kreisen hatte. In einer Diktatur zählen nicht die Fakten, sondern das Hörensagen, die Verdächtigungen, die Vorurteile. Keiner konnte dem unsichtbaren Gespinst von Gerüchten entkommen, das alle umgab. Dennoch versuchte Gibson, es den Beamten rechtzumachen und jeden Nachweis zu erbringen, den sie von ihm verlangten. Schließlich war er völlig erschöpft und deprimiert, weil er trotzdem fürchten musste, dass sein Projekt scheitern würde.

Eines Tages erschien Simon im Büro. Er zitterte am ganzen Leib, denn am Morgen war er telefonisch zum Parkplatz eines Hotels in der Nähe bestellt worden. Der Anruf kam angeblich aus einem Ministerium, das mit der Genehmigung der Zeitschrift befasst war. Doch er wurde von bewaffneten Männern in Zivil in Empfang genommen, die im Auftrag der Regierung unterwegs waren. Sie nahmen ihm sein Handy weg und prüften, wen er angerufen hatte. Dann wollten sie mit Gibson sprechen. Simon sagte, sein Freund sei verreist und er wisse nicht, wo er sei.

Gibson war außer sich und bestürmte Simon mit Fragen: Was wollten die Männer von ihm? Hatten sie gesagt, was ihm vorgeworfen wurde? Er hatte doch gar nichts besonders Kritisches geschrieben. War jetzt selbst der Artikel über Ernährungsprobleme nicht mehr tragbar? Die beiden Männer wussten, dass sie sich nicht mehr treffen durften. Gibson konnte nicht mehr in seine Wohnung zurückkehren. Aber wo sollte er hin? Der Chefredakteur von „Umuseso“ war soeben aus Ruanda geflohen, denn die Situation hatte sich zugespitzt. Die Regierung ließ die Mitarbeiter der Zeitung verfolgen, und laut Gerüchten sollte sie verboten werden. Gibson war also nicht als einziger in Gefahr. Doch die Journalisten wurden einzeln aufs Korn genommen; jeder war auf sich allein gestellt.

Ein übermächtiger Gegner, straff organisiert

Gibson war auf den Ernstfall vorbereitet. Er würde für eine Weile untertauchen und die weitere Entwicklung abwarten. Wohin er gehen wollte, sagte er mir nicht. Offenbar hatte er sich schon seit längerem auf eine solche Situation eingestellt. Tags darauf war er verschwunden. Er hatte es mit einem übermächtigen Gegner zu tun, denn der ruandische Staat ist straff organisiert.

Das ganze Land ist in Verwaltungseinheiten gegliedert, die umudugudu – „Dörfer“ beziehungsweise „Gemeinden“– genannt werden und jeweils etwa 100 Familien umfassen. Auch die Hauptstadt besteht aus solchen Gemeinden. Jede hat einen Vorsteher, einen Sicherheitsbeauftragten und einen sogenannten „Journalisten“, der Informationen nach oben weiterleitet. Wenn man etwa einen Pass beantragt, braucht man von allen dreien eine wohlwollende Beurteilung. 

Auch scheinbar harmlose Vorgänge demonstrieren die Macht dieses Systems: So mussten beispielsweise von einem Tag auf den andern im ganzen Land eine bestimmte Art einfacher Gummischlappen getragen werden, und Plastiktüten verschwanden von der Bildfläche. Eine solche Kontrolle kann die Regierung nur durchsetzen, weil sich die Menschen nach dem Genozid 1994 auf dem Land in neu gegründeten Dörfern niederlassen mussten. Dort gibt es keine Privatsphäre. Die Handlanger des Regimes registrieren Besucher und Reisende.

Privatleute brauchen für Übernachtungsgäste eine offizielle Erlaubnis. Dank des gut ausgebauten Straßennetzes in Ruanda können die Hotelmanager ihre Gästelisten täglich an die Sicherheitsbehörden weiterleiten. In anderen Diktaturen können Oppositionelle in andere Städte ausweichen, ihr Aussehen verändern und eine neue Identität annehmen. Die Anonymität gewährt ihnen gewisse Freiheiten. Das ruandische umudugudu-System macht das unmöglich.

Statt dem Geheimdienst kam ein Freund

Gibson rief gelegentlich an, aber immer nur kurz und um mir zu sagen, dass es ihm gut gehe. Er wusste, dass die Regierung ihn über seine Freunde oder seine Angehörigen aufspüren konnte und dass er den Kontakt zu seinem früheren Leben und allem, was ihm vertraut war, aufgeben musste. Deshalb war der Versuch, unterzutauchen, im Grunde illusorisch, aber es war mutig von ihm, dass er es trotzdem wagte.

Nach zwei Wochen war es schließlich soweit. In der Nacht klopfte jemand an die Tür von Gibsons Hotelzimmer. Wir hatten immer damit gerechnet, dass er vom Geheimdienst oder von der Polizei gestellt würde. Doch die Regierung schickte einen Freund: James hatte ebenfalls an meiner Journalisten-Fortbildung teilgenommen. Er arbeitete für den staatlichen Radiosender, galt aber als sehr selbstständig; im Unterricht hatte er sich leidenschaftlich für die Pressefreiheit ausgesprochen. Vielleicht hatte man ihm eine Beförderung angeboten oder ein Darlehen für ein eigenes Haus. Oft sind solche Anreize nicht einmal nötig: Bei der Regierung als loyal angesehen zu werden, ist schon Belohnung genug. 

Gibson ließ James herein und fragte, warum er gekommen sei. Sie waren in einer Stadt im Süden mit einer Universität, vielen Studierenden und Dozenten sowie entsprechend vielen Unterkünften. James konnte also nicht durch Zufall in Gibsons Hotel gelandet sein. Er sei auf der Durchreise, sagte er nur. Am selben Abend bekam ich eine SMS von Gibson: „Mein Leben ist in Gefahr. Vielleicht werde ich noch heute Nacht sterben.“
Dass die Polizei Journalisten gegen ihre eigenen Kollegen einsetzt, ist eine besonders heimtückische Form von Repression: Sie infiltriert die persönliche Umgebung ihrer Gegner, so dass sie niemandem mehr vertrauen können. Unter Kagame gewinnt man nur dann mehr Freiheit, wenn man mithilft, anderen ihre Freiheit zu nehmen. Je mehr Mitmenschen man verrät, desto größer wird der eigene Spielraum.

James quartierte sich in Gibsons Hotel ein. Noch in derselben Nacht zog Gibson aus und suchte sich eine andere Bleibe. Am nächsten Tag nahm er in aller Frühe den Bus nach Kigali. Da er nirgendwo anders unterkommen konnte, ließ ich ihn in meiner Wohnung übernachten. Am ersten Tag blieb er in seinem Zimmer und schlief sich aus. Erst am nächsten Morgen kam er heraus, um sich mit mir zu beraten. Auch mir war klar, dass er nicht bleiben konnte. Die nächste Polizeiwache war gleich um die Ecke. Außerdem waren wir nur zwei oder drei Straßen vom Amtssitz des Präsidenten entfernt. Ich wohnte in einem der sichersten Teile der Stadt, aber dafür wurde hier auch alles genauestens überwacht.

Gibson hatte keine andere Wahl, als seine Heimat zu verlassen. Es war keine leichte Entscheidung für ihn, doch hier war er nicht mehr sicher. Als er in seine Wohnung zurückging, um ein paar Sachen zu holen, stand die Vermieterin im Zimmer und fing an zu zetern. Sie behauptete, er habe hier nichts mehr zu suchen; er sei eine Zumutung und sie habe ihn schon längst hinausgeworfen. Dann ging sie, um die Polizei zu holen – das sei schließlich ihre Pflicht. Gibson packte in Windeseile einige Habseligkeiten ein und verschwand, bevor sie zurückkam.

Autor

Anjan Sundaram

ist Journalist und Autor von „Breakup: A Marriage in Wartime“ (Catapult 2023). Sein Beitrag ist zuerst bei „Foreign Policy“ erschienen.
Am Abend saß er in meiner Wohnung auf seinem Bett und betete. Was sollte aus „New Horizons“ werden, dem Projekt, in das er so viel Kraft investiert hatte? Er wirkte niedergeschlagen, und die Begegnung mit seiner Vermieterin hatte ihm schwer zugesetzt. Es gab keinen Zweifel, dass die Polizei ihm auf der Spur war und wusste, dass er sich in Kigali aufhielt. Es war aussichtslos, sich als Einzelner gegen den Staat aufzulehnen. Die Regierung brauchte Gibson nicht einsperren oder ermorden lassen; der psychische Druck genügte. Er konnte seinen Mitmenschen nicht mehr vertrauen.

Gibson hat Ruanda verlassen. Einmal ist er noch zurückgekehrt, hat aber erneut die Flucht ergriffen, nachdem die Regierung ihn wiederholt schikaniert und unter Druck gesetzt hatte.

Nachdem mein Buch über die Situation der Journalisten in Ruanda erschienen war, erzählten mir viele Ruander von Freunden und Angehörigen, die aus Angst und Misstrauen den Kontakt mit ihnen abgebrochen hatten. Im Januar 2016 wirkte ich gemeinsam mit dem ruandischen Journalisten Fred Muvunyi bei einer Radiosendung mit. Er war nach Deutschland geflüchtet, weil er in der Heimat seines Lebens nicht mehr sicher war. Nachdem er Kritik an der Regierung geäußert hatte, weil die Sendungen der BBC in der Landessprache eingestellt werden mussten, hatte er Todesdrohungen erhalten. Im Gespräch mit ihm musste ich feststellen, dass er selbst in Deutschland nicht frei sprechen kann: Er will seine Angehörigen nicht in Gefahr bringen. Sie leben noch in Ruanda.

Aus dem Englischen von Anna Latz.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2016: Religion: Vom Glauben und Zweifeln
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