Verdienter Sieg für den Brückenbauer

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Blasphemie-Anzeigen in Indonesien
Indonesien
Bei der Wahl zum Gouverneur der indonesischen Hauptstadt Jakarta hat ein Muslim den christlichen Amtsinhaber besiegt. Doch das ist keine Frucht des religiösen Extremismus – der Verlierer ist selbst schuld.

Ein „Wendepunkt für Indonesien“: So bezeichnet die Deutsche Welle den Ausgang der Wahl zum Gouverneur von Jakarta im April. Dort hat Anies Rasyid Baswedan den Amtsinhaber Basuki Tjahaya Purnawa, besser bekannt als Ahok, deutlich geschlagen. Die Deutsche Welle deutet das als Wende von einem säkularen politischen System zu einer radikalen islamischen Ideologie, die Toleranz und religiösen Pluralismus zurückweist – Ahok ist Christ und gehört zur chinesisch-stämmigen Minderheit.

Doch wenn man das Ergebnis der Wahl in Jakarta schlicht auf den Konflikt zwischen Religion und säkularem Staat oder auf die Rolle leidenschaftlicher Muslime zurückführt, versteht man weder die Ursachen des Wahlsiegs noch das zugrunde liegende politische System. Indonesien ist kein säkularer Staat in dem Sinn, dass Religion und Staat klar getrennt sind. Das erste der „Fünf Prinzipen“ (Pancasila) der nationalen Ideologie ist der „Glaube an Gott“. Danach ist Indonesien eine religiöse Nation und die Regierung dafür zuständig, die sechs offiziell anerkannten Religionen zu schützen und zu fördern: Islam, katholisches und protestantisches Christentum, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus.

Entsprechend verabschiedet das Parlament Gesetze zu Glaubensfragen und die Regierung zelebriert religiöse Feste. Beamte geben offen ihren Glauben zu erkennen, religiöse Erziehung ist an Schulen und Universitäten auf allen Stufen vorgeschrieben und auf den Personalausweisen ist die Religionszugehörigkeit vermerkt. Formal haben Atheisten in Indonesien keinen Platz. Die Verfassung gestattet, politische Führer nach Kriterien der Religion auszuwählen.

Fast 90 Prozent der 250 Millionen Indonesier sind Muslime. Zugleich ist das Land stolz auf seinen ethnischen und religiösen Pluralismus. Es gab in der modernen Geschichte Indonesiens immer Gruppen, die einen rein säkularen Staat wollten, während andere eine islamische Nation anstrebten. Beide Strömungen sind Minderheiten – für die meisten Indonesier ist der Staat weder islamisch noch säkular, auch wenn der Islam eine wichtige Rolle für Entwicklung und Nationenbildung spielt.

In der jüngsten Wahl in Jakarta stand die populistische, egalitär ausgerichtete Plattform von Anies, die in islamischen sozialen Werten wurzelt, dem von reichen Geschäftsleuten gestützten Ahok gegenüber. Für viele in Indonesien ist das ein Zeichen für das Dilemma der Modernisierung im Land. Religion hat bei der Wahl eine wichtige Rolle gespielt, und das hat eindeutig Anies als Muslim und Gegner des Christen Ahok genützt. Überraschend war das nicht: In jeder nationalen und lokalen Wahl müssen die Kandidaten zu ihrem Glauben Rede und Antwort stehen, auch wenn sie wie in der Provinz Aceh sämtlich Muslime sind.

Doch wie konnte Ahok, mit dessen Amtszeit als Gouverneur mehr als 70 Prozent der Einwohner Jakartas zufrieden waren, mit einem Abstand von 18 Prozent verlieren? Wie konnte Anies, der seinen Master-Titel und seinen Doktor an Universitäten in den USA erworben hatte, so hoch gewinnen? Viele Faktoren wirkten sich gegen Ahok aus, doch die drei entscheidenden waren seine Persönlichkeit, seine Politik als Gouverneur und die Strategie seines Wahlkampfteams.

Als Gouverneur hat Ahok polarisiert, denn er regierte nach dem Motto „ich habe immer recht“. Damit stieß er sein Umfeld vor den Kopf: angefangen bei Parlamentariern und seinen eigenen Beamten bis hin zur breiteren Öffentlichkeit, darunter städtische Arme und islamische Hardliner. Ahok hat selbst über seine impulsive und spontane Art gesagt: „Wenn ich rede, denke ich nicht.“  Derart unklug verhielt er sich immer wieder und irritierte viele, die ihm neutral gegenüberstanden oder die er hätte für sich gewinnen können. Ein Paradebeispiel für seine aufbrausende Art war die umstrittene Rede in Thousand Islands außerhalb von Jakarta im vergangenen September: Sie trug ihm eine Anklage wegen Gotteslästerung ein, weil er den 51. Vers aus der fünften Sure des Korans – danach sollen die Gläubigen nicht Christen oder Juden zu Freunden oder Beschützern haben – abfällig zitiert hatte. Ein Gericht hat Ahok Anfang Mai, nach der Wahlniederlage, wegen Verstoßes gegen das Blasphemie-Gesetz zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die Höchststrafe wären fünf Jahre.

Auch mit seiner Politik hat Ahok polarisiert. Er hat versucht, die von den Flüssen ausgehenden Überschwemmungen in den Griff zu bekommen und die Verkehrsstaus zu mildern; das schätzten viele, vor allem die Wohlhabenden. Als Mittel dazu ließ er Massen von Slumbewohnern vertreiben, oft ohne konstruktiven Dialog mit ihnen und ohne vernünftige Pläne für deren Zukunft. Kampung Akuarium im Norden Jakartas etwa wurde im April 2016 eingeebnet; die Zahl der vertriebenen Familien lag zwischen knapp 400 und 800. Die Einwohner erhielten die Räumungsanordnung nur elf Tage, bevor die Bulldozer anrückten – zusammen mit der städtischen Polizei, nationalen Sicherheitskräften und der Armee.

Dieses Vorgehen rief nicht nur bei den Betroffenen Proteste hervor, sondern auch in der Zivilgesellschaft und bei Akademikern. Sie betrachteten Ahoks Umgang mit den Slum-Bewohnern als arrogant und unmenschlich. Die lebten laut Ahok illegal auf Land, das dem Staat gehört.

Das mag sogar zutreffen. Man muss dem Gouverneur auch zugutehalten, dass er die Fläche in ein integriertes Tourismus-Gebiet verwandeln wollte. Dazu sollte neben einem Park und einem Seewasser-Aquarium auch ein Zentrum für muslimische Pilger gehören, die das heilige Grab eines Religionsgelehrten anzieht, der im 18. Jahrhundert in der Gegend den Islam verkündet und die örtliche Moschee gegründet hatte. Außerdem wollte Ahok dort Deiche und Schutzvorrichtungen errichten, um Jakarta vor dem Eindringen des Seewassers zu schützen. Dieser gute Plan hätte den Betroffenen erklärt und in ganz Jakarta konstruktiv diskutiert werden können.

Doch Ahok folgte seinem eigenen Kopf. Sein Plan für einen gigantischen Damm in der Bucht von Jakarta, der in einigen Punkten gegen Gesetze verstößt und sich über den Umweltschutz hinwegsetzt, bestätigte den Eindruck, Ahok sei ein Gouverneur für die Reichen und Mächtigen. Fischer, die von dem Damm Nachteile befürchten, zogen vor Gericht – ebenso wie Vertriebene aus Kampung Akuarium und anderen geräumten Slums. In einigen Fällen bekamen sie Recht, andere Gerichtsverfahren laufen gegenwärtig noch.

Paradoxerweise hatten fast alle Fischer und Einwohner von Kampung Akuarium bei der Wahl 2012 Ahok unterstützt. Damals war er Vize-Gouverneur unter Joko Widodo, der heute Staatspräsident Indonesiens ist, und gewann. „Uns war es egal, ob Ahok Christ oder Chinese ist, wir haben uns nie um Religion oder Rasse gekümmert. Jetzt haben wir das Problem der Vertreibungen wegen Ahok. Er ist ein Unruhestifter“, sagte eine Einwohnerin nach Ahoks Abwahl der Zeitung „Sydney Morning Herald“. Das Gefühl, von Ahok betrogen worden zu sein, saß tief und die Menschen wählten deshalb nun mit großer Mehrheit seinen Gegner.

Dabei hat Ahok Programme für die Benachteiligten auf den Weg gebracht– darunter die Jakarta-Gesundheitskarte und die Jakarta Smart Card. Damit wird den Armen der Zugang zu Krankenhäusern und Bildung für ihre Kinder erleichtert. Doch solche Initiativen hat er nicht geschickt präsentiert – mit dem Ergebnis, dass die Eindrücke der Vertreibungen ihn bei den Armen unpopulär machten.

Probleme verursachten ihm zudem sein Wahlkampfteam und seine eigene politische Basis. Die Unterstützung der Indonesischen Demokratischen Partei des Kampfes (PDIP) für seine Kandidatur stieß von Beginn an intern auf Widerstand. Mehrere wichtige Führer traten aus, liefen zu Anies über und engagierten sich für dessen Wahl. Auch andere Parteien, die den Amtsinhaber unterstützten, waren sich nicht einig. Kader an der Basis wandten sich von Ahok ab. Die Begründung: Er sei wegen seines schwierigen Charakters und seiner unpopulären Politik für ein Führungsamt ungeeignet.

Kurz vor der Wahl unterliefen Ahoks Team unnötige Patzer. Vor allen zwei waren entscheidend: Die letzte Video-Kampagne, mit der Ahok Wähler gewinnen wollte, zeigte Demonstranten in muslimischer Kleidung, die gewaltsam protestierten. Das Video rief mit seiner gedankenlosen Verteufelung von Muslimen Proteste in vielen Teilen der islamischen Gesellschaft hervor, so dass Ahoks Team gezwungen war, es nur einen Tag nach der Veröffentlichung zurückzuziehen. Doch da war der Schaden schon angerichtet.

Der zweite Fehler war noch schlimmer und sogar illegal. Ahoks Team und die ihn unterstützenden Parteien versuchten offen und in großem Umfang, Stimmen zu kaufen, indem sie vor dem Urnengang Pakete mit Gütern des Grundbedarfs  sowie lebende Kühe verteilten. Die Medien berichteten ausführlich, und das schreckte unentschiedene Wähler ab. Dies mag erklären, dass der Vorsprung von Anies am Ende so groß war.

Ahoks Wahlkampfteam behauptete, Anies habe denselben Regelverstoß begangen. Es brachte Bilder in Umlauf, die angeblich zeigten, wie Anies und seine Frau Hilfsgüter verteilten. Dessen Team erwiderte, die Bilder seien während des „Billigen Marktes“ aufgenommen worden, den das Paar im Dezember zum Muttertag organisiert und den die Wahlkommission genehmigt habe. Das überzeugte die Öffentlichkeit und bestätigte den Eindruck, dass Anies einen moralisch einwandfreien Wahlkampf führte, wie er immer wieder behauptete.

Autorin

Asna Husin

hat in den USA in Religionswissenschaft promoviert und lehrt Erziehungsphilosophie und Islamische Zivilisation an der Islamischen Universität Banda Aceh in Indonesien. Sie ist zurzeit Gastforscherin bei Nonviolence International in Washington, D.C.
Anies profitierte nicht nur von Ahoks Schwächen. Bewusst präsentierte er sich als Anwalt der Moral mit einer Botschaft von Einheit und sozialer Gerechtigkeit. Sein Slogan lautete „Wohlstand für alle, Fortschritt für die Stadt, Glück für ihr Volk“. Diese Botschaft wurde übersetzt in eine Reihe wichtiger Ziele, darunter hochwertige Bildung, Gesundheitsversorgung, preiswerte Güter des täglichen Bedarfs, erschwingliche Wohnungen für Menschen mit geringem Einkommen sowie neue Arbeitsplätze in Kleinunternehmen. Die gesetzwidrigen Vertreibungen von Slumbewohnern lehnte Anies eindeutig ab. Er trug seine Ideen und Wahlkampfreden klar und eloquent vor. Sein Auftreten, seine persönliche Integrität und sein ruhiges und unaufgeregtes Wesen machten ihn zu einem starken Kandidaten.

Autorin

Asna Husin

hat in den USA in Religionswissenschaft promoviert und lehrt Erziehungsphilosophie und Islamische Zivilisation an der Islamischen Universität Banda Aceh in Indonesien. Sie ist zurzeit Gastforscherin bei Nonviolence International in Washington, D.C.
Anies versammelte verschiedene Gruppen hinter sich – von der konservativen Front der Verteidiger des Islam (FPI) bis zu christlichen Synoden, katholischen Geistlichen, Buddhisten, Hindu-Organisationen und einer Gruppe von chinesisch-stämmigen Konfuzianern. Das zeigt, dass er ein wirklicher Brückenbauer ist. Er rechtfertigte sein Treffen mit den Führer der FPI so: „Jakarta braucht einen Führer, der alle einbinden und Frieden mit allen machen kann.“ Die Botschaften seiner Kampagne wurden gut aufgenommen. In Indonesien wird sein Wahlsieg verstanden als Erfolg der populistischen, egalitären islamischen Bestrebungen gegenüber den Interessen der reichen und etablierten Eliten.

Die Wahl in Jakarta ist eine bedeutsame Etappe auf dem Weg zur nächsten Präsidentschaftswahl 2019. Ahok wurde von Präsident Joko Widodo unterstützt, Anies dagegen vom früheren General Prabowo Subianto, der die Präsidentschaftswahl 2014 knapp verloren hatte. Wahrscheinlich werden beide 2019 im Rennen um das höchste Staatsamt wieder gegeneinander antreten. Die Wahl in Jakarta war auch ein Hinweis auf ihre jeweilige Beliebtheit. Die Religion und populistisch-egalitäre islamische Botschaften werden 2019 wieder auftauchen, auch wenn beide Konkurrenten Muslime sind.

Ohne Zweifel haben die islamischen Eiferer einhellig Anies gewählt und die überzeugten Säkularisten Ahok. Doch beide Lager waren Minderheiten. Die FPI hat mit Ahok seit Beginn seiner Amtszeit ideologisch gestritten. Viele andere aber wollten den Gouverneur aus ganz anderen Gründen loswerden. Mit den umstrittenen Bemerkungen zur fünften Sure des Korans hat er selbst zusätzliche Munition für seinen Sturz geliefert.

Trotz einiger Mängel war die Wahl insgesamt frei und fair. Ahok räumte ohne Zögern seine Niederlage ein und gratulierte Anies zum Sieg. Der feierte mit Zurückhaltung, und die Anhänger von Ahok gingen trotz ihrer Enttäuschung nicht gegen das Wahlergebnis zum Protestieren auf die Straße – das taten sie erst, als Ahok wegen Blasphemie verurteilt wurde. Das alles zeigt keine Wende zum religiösen Radikalismus, sondern eine reife politisch Kultur. Und es zeigt, dass die größte muslimische Nation der Welt demokratische Verfahren mit Würde praktiziert.

Aus dem Englischen von Bernd Ludermann.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2017: Die Wüste lebt
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