Auch in Lagos lässt man liefern

Sam Olukoya

Tom Benard liefert mit seinem Lastwagen Solarpaneele aus. Das Geschäft läuft so gut, dass er Transportaufträge weiter vermitteln muss.

Gig-Economy in Nigeria
Das Geschäft mit online vermittelten Dienstleistungen in Nigeria wächst. Das nutzt Arbeitgebern wie Beschäftigten – den einen ein bisschen mehr.

Das Kuriergeschäft in Nigeria wandelt sich. Unternehmen wie Fedex und DHL mit ihren großen Büros und Lieferwagen bekommen immer mehr Konkurrenz von privaten Motorradfahrern. Sie liefern Waren aus für Firmen, die früher ein Transportunternehmen beauftragt hätten. In Lagos sind sie ein alltäglicher Anblick: Waghalsig schlängeln sie sich durch den chaotischen Verkehr, um schnell ihre Aufträge zu erledigen. In den Plastikboxen auf ihren Rücksitzen befinden sich Kleidung, elektronische Geräte oder Lebensmittel, die Kunden online gekauft haben.

An der zunehmenden Zahl der Motorradkuriere lässt sich das schnelle Wachstum des Online-Handels in Nigeria ablesen. Mit seiner Bevölkerung von 170 Millionen Menschen ist das westafrikanische Land ein riesiger Markt. „Das Internet hat die Art verändert, wie Nigerianer einkaufen“, sagt Adeyinka Makinde. Sie ist Eigentümerin von Shodyscouture, einem Online-Shop, der vor allem Kleider, Schuhe und Handtaschen verkauft. „Sie gehen nicht mehr aus, sie möchten, dass ihnen die Sachen nach Hause gebracht werden, das ist bequemer für sie.“ Um Kunden anzulocken setze sie auf „aggressives Marketing im Internet und in den sozialen Medien, Facebook und Instagram“, sagt Makinde. Mit einer einmaligen Werbeaktion ist es nicht getan: „Man muss ständig online sein, um in Kontakt zu bleiben, wenn möglich 24 Stunden am Tag.“  

Online-Shops wie Shodyscouture beauftragen Motorradkuriere, um ihre Waren zu den Kunden zu transportieren, weil sie günstiger und schneller sind. „Der Wettbewerb zwischen den Shops ist hart. Es geht darum, wer am schnellsten seine Waren ausliefert“, erklärt Makinde. „Im Online-Geschäft überleben nur die Schnellsten.“ Online-Shops verdienen genug, um Kuriere fest anzustellen, doch sie beschäftigen sie lieber auf Teilzeit-Basis. Die Geschäftsbeziehungen zwischen beiden sind ein klassisches Beispiel für ein Geschäftsmodell, das in Nigeria so wie im Rest der Welt schnell wächst: die sogenannte Gig Economy, bei der Aufträge kurzfristig (für einzelne „Auftritte“, englisch „gig“) an unabhängige Freiberufler vergeben werden. Bezahlung und Umfang der Tätigkeit richten sich ganz nach dem Auftrag des Online-Unternehmers.

Bei Fahrdiensten – etwa über das globale Unternehmen Uber – und bei der Lieferung von Mahlzeiten boomt die Gig Economy besonders. Sade Ademuyiwa ist Gründerin von Slim Olobe, einem Online-Restaurant, das Gerichte für zu Hause und das Büro zubereitet. Es beliefert auch Feste und Hochzeiten. „Die Leute kommen nicht zu uns, um zu essen. Wir haben eine Website und sind auf den sozialen Medien vertreten. Die Leute schauen dort, was sie möchten, bestellen, und wir liefern es“, erklärt Ademuyiwa.

Viele Arbeitgeber und Beschäftigte in der Gig Economy vertreten die Ansicht, dass das Geschäftsmodell beiden nützt. „Man verdient mehr Geld mit Teilzeitarbeit, weil man für mehrere Firmen arbeiten kann“, sagt Adams Ayouba, der für Shodyscouture Waren ausliefert. Toyin Tomas stimmt ihm zu. Sie ist als Event-Planerin und Koordinatorin bei Slim Ojobe dafür zuständig, dass die Gäste auf den Hochzeiten und Partys gut bedient werden und sich wohlfühlen. Gleichzeitig ist sie für zwei andere Firmen tätig. „Ich habe ein bewegliches Büro. Es gibt immer etwas zu tun, mit dem ich Geld verdienen kann. Das wäre nicht möglich, wenn ich nur einen Arbeitgeber hätte“, sagt sie. Ihre freiberufliche Tätigkeit schenke ihr mehr Freiheit als eine Festanstellung, fügt sie hinzu: „Ich bin mein eigener Boss und verbringe meine Zeit, wie ich will.“

Arbeitgeber kommen bei dem Modell ebenfalls auf ihre Kosten. „Wir haben nicht jeden Tag eine Feier. Wenn die Beschäftigten in der Zeit kommen, in der sie gebraucht werden, und pro Tag bezahlt werden, ist das sinnvoller, als wenn ich ihnen ein regelmäßiges Gehalt zahle“, sagt Ademuyiwa von Slim Ojobe. „So ist es viel günstiger.“ Makinde von Shodyscouture ist derselben Ansicht. Es sei wirtschaftlicher, Motorradkuriere nur bei Bedarf zu engagieren. „An manchen Tagen gibt es viele Bestellungen, an anderen wenige“, erklärt sie. Sie hat sechs Kuriere zur Verfügung, wenn viele Waren auszuliefern sind. Würde sie alle sechs ständig beschäftigen, stiegen ihre Betriebskosten, weil sie dann zusätzlich zu den Löhnen für das Benzin, für die Steuern und für die Versicherung für die Fahrzeuge aufkommen müsste. „Wenn man die Kosten reduziert, erhöht man den Gewinn. Die Betriebskosten töten das Geschäft.“

Ismail Bello, Generalsekretär von Nigerias Gewerkschaftsdachverband NLC, sieht hingegen schädliche Folgen für die Arbeitnehmer durch die Gig Economy. Die neuen Technologien hätten die Arbeit stark verändert, sagt er. Das könne die Ungleichheit in der Gesellschaft verstärken, wenn nur diejenigen Gewinne anhäufen, die über die Technologien verfügen. Der Wandel von der lebenslangen und stabilen Beschäftigung zu den kurzzeitigen und informellen Jobs der Gig Economy bedeute den Verlust grundlegender Rechte. „Es ist eine Kette der Ausbeutung“, erklärt Bello. „Die Beschäftigten erhalten keine Rente, sie haben kein Recht auf Urlaub, Versicherungen und kostenlose medizinische Versorgung.“

Motorradkuriere riskieren ihr Leben, um Waren auszuliefern

Tatsächlich wünscht sich Motorradkurier Adams Ayouba mehr Anreize und eine bessere Versorgung – vor allem eine Krankenversicherung. „Ich habe einen sehr gefährlichen Job. Ich riskiere mein Leben, um Waren auszuliefern“, meint er. Zu Recht: Sehr häufig sind Motorradkuriere auf den Straßen von Lagos in schwere, manchmal tödliche Verkehrsunfälle verwickelt.

Sade Ademuyiwa von Slim Ojobe weist den Vorwurf zurück, die Gig Economy fördere die Ausbeutung. Ihr Unternehmen biete seinen zeitweise Beschäftigten einen fairen Deal. „Jeder wird entsprechend seiner Leistung bezahlt. Wir kümmern uns um unsere Beschäftigten, auch wenn sie nur zeitweise für uns arbeiten. Wenn einer von ihnen im Dienst krank wird, bin ich dafür verantwortlich, dass er versorgt wird“, betont sie.

Adeyinka Makinde von Shodyscouture sieht das anders: „Ich habe keinerlei Verpflichtungen gegenüber den Motorradkurieren, weil sie nicht bei mir angestellt sind.“ Die Kuriere übernähmen einen Auftrag und sie bezahle dafür. „Weitere Ausgaben für sie wären wirtschaftlich nicht praktikabel.“ Die Gig Economy habe das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber verändert, räumt sie ein. Beide wollten vor allem Geld verdienen und gingen darüber hinaus keine Bindungen ein. Als Eigentümerin eines Online-Shops kümmere man sich vor allem um den Profit und um die Kunden, nicht um die Beschäftigten. Und diesen gehe es ebenfalls nur ums Geld: Kaum hätten sie die Waren ausgeliefert, wollten sie ihre Bezahlung.

Autor

Sam Olukoya

ist freier Journalist im nigerianischen Lagos.
Tom Benard ist überzeugt davon, dass die Gig Economy gute Zukunftsperspektiven bietet. Er liefert mit seinem Lastwagen schwere Waren aus, die Kunden bei einer Reihe großer Firmen in Lagos online kaufen. Vor allem transportiert er Solarpaneele. Angesichts der hohen Nachfrage habe er großen Erfolg in seinem Teilzeitjob. „Der Bedarf ist so groß, dass ich andere Lastwagenfahrer gebeten habe, Transporte zu übernehmen“, erzählt er.

Gewerkschafter Bello meint, Benards Erfolgsgeschichte sei die Ausnahme. Er glaubt, dass der Nutzen einer Vollzeitbeschäftigung überwiegt, auch wenn die Arbeit in der Gig Economy kurzfristig mehr einbringt. „Für eine kurze Zeit verdient man viel Geld und kann seinen Lebensunterhalt bestreiten. Doch wenn man dann nicht mehr in der Lage ist, zu arbeiten, bekommt jemand anderes den Auftrag und man hat kein Anrecht darauf.“ Arbeitslose bekommen in Nigeria im Gegensatz zu westlichen Ländern keine Unterstützung.

In der Vergangenheit hatten Beschäftigte mehrfach für bessere Arbeitsbedingungen in der Gig gestritten. Fahrer von Uber waren in Streik getreten. Der Gewerkschaftsdachverband will sich künftig auch ihrer Anliegen verstärkt annehmen und sich dafür einsetzen, dass sie ihre Rechte durchsetzen können. Noch sei das Neuland, derzeit entwickle man eine geeignete Strategie, sagt Bello. „In den In­dust­rie­ländern haben die Beschäftigten schon Wege gefunden, mit solchen Herausforderungen umzugehen.“ Davon wolle man nun lernen. „Wir müssen uns mit unseren Mitstreitern in den westlichen Ländern verbünden, um zu verstehen, wie sie mit dem Problem umgehen.“

Aus dem Englischen von Gesine Kauffmann.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2017: Internet: Smarte neue Welt
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