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EU-Außenministerrat
In der Europäischen Union wankt das Prinzip, dass in der Außenpolitik im Konsens entschieden werden muss. Das könnte auch für die Menschenrechtspolitik Folgen haben.

Wenn die EU-Außenminister tagen, müssen sie am Ende einstimmig beschließen – oder gar nicht. Denn die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU ist eins der Felder, auf dem es in der Regel keine Mehrheitsbeschlüsse gibt. Jedenfalls noch nicht: Unter anderen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Bundesaußenminister Heiko Maas wollen das ändern.

Juncker brachte seine Haltung bereits im September 2017 auf den Punkt: „Die Europäische Union muss sich auf der Weltbühne mehr Gewicht verschaffen“, verlangte er in der jährlichen „Rede zur Lage der Union“. Daher bitte er die Mitgliedstaaten zu prüfen, „welche außenpolitischen Beschlüsse künftig anstatt einstimmig mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden könnten“. Laut Kommissionskreisen steht nicht zuletzt ein beispielloses Vorkommnis hinter dem Ansinnen.

Im Juni 2017 hatte die EU im Genfer UN-Menschenrechtsrat erstmals keine gemeinsame Erklärung abgegeben, nachdem Griechenland diese mit Blick auf das in der Erklärung angesprochene China blockiert hatte. Die Erklärung wäre „unproduktiv“ gewesen, hieß es von griechischer Seite laut Kommissionskreisen – die zugleich auf chinesische Großinvestitionen in griechische Häfen hinweisen. Gruppen wie Amnesty International und Human Rights Watch waren empört.

Keine geschlossene starke Position

Der Fall ging zwar nicht durch den EU-Außenministerrat, weil derartige Erklärungen in Genf von den dortigen EU-Botschaften abgestimmt werden. Dennoch gilt er als symptomatisch für die Probleme, die die Einstimmigkeit in der GASP verursacht. Auch der Streit um das Südchinesische Meer oder der Status von Jerusalem sind Fälle, in denen die EU wegen Meinungsverschiedenheiten ihrer Mitglieder keine geschlossene starke Position beziehen konnte.

Nicht zuletzt mit Blick auf die Menschenrechte ist in Brüsseler Diplomatenkreisen sogar von einem Rückschritt die Rede. Gewisse Mitgliedstaaten seien dazu bereit, Verweise auf die Menschenrechte in Drittländern aufzugeben, obwohl diese in früheren Erklärungen schon vereinbart waren, heißt es.

Die Ursache des Problems liegt im Lissabon-Vertrag, der die GASP als Sonderbereich ausweist: Generell wird in der GASP einstimmig entschieden, heißt es darin – anders als in den meisten anderen Politikbereichen, in denen qualifizierte Mehrheiten gelten. Zwar sind auch in der GASP Mehrheitsentscheidungen denkbar; dazu kann man entweder den Lissabon-Vertrag ändern oder vorhandene Ausnahmeregeln nutzen. Beide Wege erfordern aber selbst zunächst Einstimmigkeit der EU-Staaten, gegebenenfalls auch die Zustimmung von Parlamenten oder Referenden.

Den Fluch der Einstimmigkeit beenden

Bundesaußenminister Maas ist für Mehrheitsentscheidungen. „Wir müssen den Fluch der Einstimmigkeit beenden! Er führt zu oft zur Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners“, urteilte der SPD-Politiker im Juni und forderte die EU-Staats- und Regierungschefs auf, „erste Felder“ zu definieren, „in denen wir ab sofort auch mit Mehrheit entscheiden“. Ein Souveränitätsverzicht gehe damit nicht einher, argumentierte Maas. Denn ohnehin sei heute kein einzelner EU-Staat mehr in der Lage „in irgendeinem außenpolitischen Konflikt von globaler Bedeutung seine nationalen Anliegen durchzusetzen“. Verhaltener erklärten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der französische Präsident Emmanuel Macron bei ihrem Treffen im Juni in Meseberg, Mehrheitsentscheidungen in der GASP seien zu prüfen.

Die Europaabgeordnete Barbara Lochbihler sagt: „So lange EU-Staaten in der Mehrheit sind, die eine auf menschenrechtsschützende und -fördernde Maßnahmen ausgerichtet Außenpolitik verfolgen, können Mehrheitsentscheidungen eine positive Auswirkung auf die Menschenrechtspolitik haben.“ Das Gegenargument, wonach eine bloße Mehrheitsposition von anderen Staaten als schwach wahrgenommen werden könnte, lässt sie nicht gelten. „Fataler ist es, wenn die Blockadehaltung einzelner Mitgliedsstaaten dazu führt, dass die EU zu menschenrechtlichen Fragen schweigt“, sagt die Grünen-Politikerin. Und: „Ein Mitgliedsstaat, der sich EU Menschenrechtsstandards gegenüber verweigert, stellt sich selber bloß.“

Es gibt jedoch auch Vorbehalte. So sagt ein Diplomat aus Zentraleuropa, sein Land sei nicht für Mehrheitsentscheidungen, „denn sie verringern die Legitimität“ der GASP. Zudem wolle sein Land nicht überstimmt werden. Diese Gefahr ist tatsächlich für kleine und mittlere EU-Staaten größer. Denn beim Prinzip der qualifizierten Mehrheit werden nicht nur die Stimmen der einzelnen EU-Staaten gezählt, sondern auch ihre Bevölkerungen gewichtet.

Mogherini zeigt sich zurückhaltend

Zurückhaltung gegenüber einem Wandel zeigt bisher auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini: „Wir hatten in den fast vier Jahren niemals, niemals ein Problem bei der Einstimmigkeit“, behauptete die Italienerin im Juli mit Blick auf ihre bisherige Amtszeit als Vorsitzende des Außenministerrates. Wenn es ein Problem gebe, dann bei der Umsetzung getroffener Beschlüsse, erklärte Mogherini, die zugleich auch Vizepräsidentin der EU-Kommission unter Juncker ist. Rund ein Jahr nach dessen Grundsatzerklärung für Mehrheitsentscheidungen will die Kommission im Herbst dazu konkrete Vorschläge vorlegen.

Welche Folgen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen allein auf dem Feld der Menschenrechte für die gesamte GASP haben könnten, beleuchtet die Politikwissenschaftlerin Annegret Bendiek. Die Menschenrechte seien laut Lissabon-Vertrag ein Grundsatz des gesamten auswärtigen Handelns der EU und damit ein Querschnittsthema, das die meisten außenpolitischen Beschlüsse berührt, erklärt die Forscherin von der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Deshalb hätte die Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in der Menschenrechtspolitik weitgehende Auswirkungen auf die Beziehungen zu Drittstaaten. Es wäre zum Beispiel viel schneller möglich, Abkommen mit Drittstaaten auszusetzen, wenn diese gegen Menschenrechtsklauseln in den Abkommen verstoßen.“

Bendiek beurteilt die gemeinsame EU-Außenpolitik einerseits skeptisch, weil die EU insbesondere bei der sogenannten externen Dimension von Migration auf Abschottung setze und dabei die Menschenrechte von Migranten und Flüchtlingen verletze. Andererseits glaubt sie, dass die Einführung von Mehrheitsentscheidungen ein Türöffner für eine noch weitergehende Vergemeinschaftung der GASP sein könnte. „Das könnte einen politischen Prozess beschleunigen, in dem als nächster Schritt die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs auf die GASP ausgeweitet würde.“ Eine solche Entwicklung könnte dann wiederum Vorteile für die Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten bringen, die außerhalb des Gebietes der Union von deren Außenpolitik betroffen sind, argumentiert Bendiek: Denn „dann bekämen auch diese Menschen Klagerechte in der EU“.

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Sehr geehrte Damen und Herren,
erwartet hatte ich eine umfassende Sachinformation, wie in der EU, so wie sie gestaltet ist (nämlich im Wesentlichen von den Mitgliedsstaaten und nicht von einer gewählten Regierung), in der Außen- und Sicherheitspolitik systemkonform Mehrheitsentscheidungen verwirklicht werden können, denn da ist es besonders kompliziert und von fundamentaler Bedeutung. Es ist recht wahrscheinlich, dass das zu einem weiteren Auseinanderdriften der Mitglieder führen kann und Solidarität noch schwerer erreichbar werden wird. In dem Artikel ist leider eine angemessen breite Sachdarstellung und Abwägung nicht erkennbar. Stattdessen Einseitigkeit und ein Tunnelblick auf die Menschenrechte. Als ob es nur darum ginge, und nicht auch um Auswirkungen auf die anderen Bereiche des Politikfelds. Das ist umso fragwürdiger, als Menschenrechtsfragen nicht ihr wichtigste Element sind.
Und Herr Maas argumentiert lebensfremd: Wenn ein Staat - real - nur wenig Macht hat, wird er gerade deswegen nicht auch noch das für seine Staatlichkeit konstitutive Recht und damit seinen Anspruch aufgeben, selbst über seine Sicherheit zu bestimmen und alles dafür tun, um Fremdbestimmung zu vermeiden. Und als deutscher Außenminister sollte er nicht nur gegenüber Israel sensibel sein, sondern auch gegenüber unseren europäischen Partnern und nicht dazu beitragen, sie in ihrer Skepsis zu bestärken, das "starke" Deutschland wolle sie nach dem aufgezwungenen marktradikalen wirtschaftspolitischen Kurs jetzt auch noch außen- und sicherheitspolitisch dominieren (schließlich fällt bei Mehrheitsentscheidungen auch die Bevölkerungszahl der Staaten ins Gewicht, und Deutschland hat die meisten Staatsbürgerinnen und Staatsbürger).
So unvollkommen und einseitig wie in diesem Beitrag sollte Ihre Zeitschrift ein derart heikles Thema nicht abhandeln.
Mit freundlichen Grüßen

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