Die meisten bleiben ohne Schutz

Wer gegen Schadensfälle wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit versichert ist, ist eher bereit, Risiken einzugehen und in Geschäftsideen oder Bildung zu investieren. Doch in den meisten Entwicklungsländern hat nur eine kleine Minderheit Zugang zu staatlichen oder privaten Versicherungen. In Ländern wie Costa Rica, Tunesien oder Ruanda gehen die Regierungen deshalb neue Wege, so dass sich auch die Menschen mit niedrigem Einkommen versichern können.

Viele Menschen in Deutschland und anderen Industrieländern sind sich vermutlich gar nicht bewusst, wie sehr sie von einem breiten Angebot unterschiedlicher Versicherungen profitieren. Die meisten sind Mitglieder in der gesetzlichen Sozialversicherung und damit geschützt vor großen Verlusten beim Einkommen, wenn sie arbeitsunfähig, arbeitslos oder älter werden. Auch die Kosten der medizinischen Versorgung werden weitgehend übernommen. Darüber hinaus können sie Verträge bei privaten Versicherungsunternehmen gegen Haftpflichtfälle, Schäden an Hab und Gut, Unfälle und vieles mehr abschließen. Die große Mehrheit der Menschen in Entwicklungsländern steht weniger gut da. Dort haben in der Regel nur 10 bis 30 Prozent der Bevölkerung Zugang zur staatlichen Renten- und Krankenversicherung. Eine Arbeitslosen- oder Pflegeversicherung existiert gar nicht und nur wenige reiche Familien können sich eine private Lebens- oder Krankenversicherung leisten.

Dabei sind all diese Versicherungen von großer Bedeutung. Sie beugen den schlimmsten Folgen von unerwarteten Schicksalsschlägen wie Krankheit, Missernte oder dem Tod des Hauptverdieners einer Familie vor. Sie verhindern, dass Menschen ihre Ersparnisse auflösen, ihr Hab und Gut sowie ihr produktives Kapital veräußern, ihre Kinder arbeiten lassen und ihre Ernährung auf ein gesundheitsschädigendes Maß reduzieren müssen.

Außerdem schaffen sie eine gewisse Planungssicherheit, die es vielen Menschen überhaupt erst erlaubt, Anstrengungen zur Verbesserung ihres Einkommens zu unternehmen. Wer arm und noch nicht einmal gegen die finanziellen Folgen von Krankheit, Tod und hohem Alter abgesichert ist, hortet seine Ersparnisse, damit sie bei Bedarf sofort zur Deckung von unvorhersehbaren Ausgaben oder Einkommenseinbußen verwendet werden können. Wer jedoch gegen grundlegende Risiken versichert ist, ist eher bereit, neue Risiken einzugehen, und in Geschäftsideen oder Produktionsmethoden, Bildung oder Sachkapital zu investieren. Eine Versicherung kann somit entscheidend dafür sein, dass Menschen versuchen, sich mit neuen wirtschaftlichen Aktivitäten aus der Armut zu befreien.

Darüber hinaus führt soziale Sicherung gegen Armut im Alter und beim Tod des Hauptverdieners einer Familie dazu, dass die Zahl der Geburten sinkt und die Bevölkerung langsamer wächst. Ehepaare ohne Renten- und Lebensversicherung haben oft nur deshalb viele Kinder, weil sie hoffen, von ihnen im Alter unterstützt zu werden. Oft verdienen sie aber zu wenig, um ihre Kinder zur Schule zu schicken, gesund zu ernähren oder medizinisch behandeln zu lassen.

Zwar besitzt ein Großteil der Menschen in Entwicklungsländern eine Art von Versicherungsschutz – er ist aber gerichtlich nicht einklagbar und daher unzuverlässig. Denn unter einer Versicherung kann man eine Gemeinschaft von Personen verstehen, die ihre Risiken teilen, die also alle ein wenig mit dafür aufkommen, wenn ein Mitglied wegen eines bestimmten Risikos einen materiellen Schaden erleidet. Traditionelle soziale Gruppen wie die Dorfgemeinschaft, die Nachbarschaft, die Großfamilie oder der Clan erfüllen diese Bedingung in vielen Entwicklungsländern. Solange die Bindungen zwischen ihren Mitgliedern stark sind, stehen sie einander im Notfall bei – wie die Versicherung dem hilft, der einen Schaden erlitten hat.

Autor

Markus Loewe

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Bonn.

Wenn die Beziehungen zwischen den Mitgliedern sozialer Gruppen allerdings lockerer werden – unter anderem weil immer mehr Familien in die Städte abwandern und traditionelle Wertvorstellungen an Bedeutung verlieren – können sich die Einzelnen immer weniger darauf verlassen, in einer Krise tatsächlich unterstützt zu werden. Genau diese Auflösung traditioneller Sozialstrukturen im 19. Jahrhundert in Europa und Nordamerika gab den Ausschlag, dass – sozusagen als Ersatz – genossenschaftliche, kommerzielle und staatliche Versicherungen gegründet wurden.

Fast alle armen Länder haben in den vergangenen Jahrzehnten staatliche Sozialversicherungen aufgebaut. Die Mitgliedschaft ist aber nahezu überall mit einem Arbeitsvertrag verknüpft. Selbstständige und informell Beschäftigte, die in den meisten Entwicklungsländern die große Mehrheit der Erwerbstätigen ausmachen, haben daher fast nirgends Zugang zur Sozialversicherung. Für eine Aufnahme in die bestehenden Systeme müssten sie außerdem den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberanteil der Beiträge allein bezahlen. Das können sich viele nicht leisten. Zudem gibt es oft Widerstand von denen, die bereits sozialversichert sind und Angst haben, dass ihnen die Aufnahme zusätzlicher Gruppen Nachteile bereitet.

Kommerzielle Versicherungsunternehmen sind ebenfalls inzwischen in fast allen Ländern der Welt tätig. Sie bieten aber meist nur teure Verträge mit einer relativ hohen Deckungssumme an, dem Maximalbetrag, den eine Versicherung im Schadensfall zu bezahlen hat. Sie könnten zwar grundsätzlich auch Verträge mit kleineren Deckungssummen für ärmere Kunden anbieten. Deren Beiträge lägen jedoch nicht wesentlich niedriger, weil die Kosten, die kommerzielle Versicherer mit dem Marketing und der Verwaltung ihrer Produkte haben, relativ hoch sind und einen Mindestbeitragssatz erfordern.

Auf den Versicherungsmärkten vieler armer Länder herrscht zudem noch ein so geringer Wettbewerb, dass die Anbieter sich nicht mit dem mühseligen Geschäft mit den „kleinen Kunden“ herumschlagen müssen. In Indien hat sich das mit der Öffnung des Marktes geändert: Die wachsende Konkurrenz von Anbietern aus dem westlichen Ausland zwingt die einheimischen Versicherer dazu, sich immer stärker auch Menschen mit geringem Einkommen zuzuwenden.

Manche Entwicklungsexperten sehen einen Ausweg in genossenschaftlichen Mikroversicherungen – Versicherungsvereinen, die von Selbsthilfegruppen gegründet werden. Sie haben in der Regel nur geringe Verwaltungs- und Vermarktungskosten, weil ihre Mitarbeiter ehrenamtlich oder zu niedrigen Löhnen arbeiten, und können ihren Mitgliedern daher einen begrenzten Versicherungsschutz zu Beitragssätzen anbieten, die selbst für ärmere Haushalte erschwinglich sind. Allerdings fehlt fast allen Vereinen das Know-how für die Berechnung angemessener Beitragssätze und die Gestaltung sinnvoller Verträge. Viele von ihnen gehen schon nach wenigen Jahren Pleite oder haben ebenfalls wieder nur Mitglieder aus der Mittelschicht. Zudem sind die meisten Vereine institutionell nicht hinreichend stabil, so dass sich ihre Mitglieder nicht darauf verlassen können, dass sie im Versicherungsfall noch existieren.

Als stabil und effektiv erwiesen haben sich Mikroversicherungen nach dem so genannten Partner-Agent-Modell, bei dem Versicherungsvereine mit kommerziellen Unternehmen zusammenarbeiten. Die Vereine übernehmen alle Aufgaben, bei denen es auf niedrige Kosten ankommt (Vermarktung, Kundenbetreuung, Regelung von Leistungsansprüchen), während der professionelle Partner für die Produktgestaltung und das Risikomanagement zuständig ist. Mikroversicherungssysteme dieser Art gibt es mittlerweile in fast allen Weltregionen, insbesondere Süd- und Südostasien und Ostafrika. Besonders bekannt ist das der Self-Employed Women’s Association (SEWA) in Indien. Allerdings werden mit dem Partner-Agent-Modell ebenfalls nur selten die Ärmsten in der Gesellschaft erreicht, die selbst geringste Beiträge nicht aufbringen können. Ihnen kann soziale Sicherheit nur mit Transferleistungen gewährt werden, die aus Steuern und damit von anderen Mitgliedern der Gesellschaft finanziert sind.

Außerdem können Mikroversicherungen grundsätzlich nur Versicherungen anbieten, bei denen die Höhe der Leistungen im Versicherungsfall mit dem Einkommen oder Vermögen des Versicherungsnehmers korreliert. Dies ist bei Renten oder Erwerbsunfähigkeitsversicherungen üblich, nicht aber zum Beispiel bei Kranken- oder Haftpflichtversicherungen. Hier muss ein Versicherer bei allen Kunden, egal ob arm oder reich, mit denselben Ausgaben rechnen und kann sie deshalb den ärmeren nicht günstiger verkaufen als den wohlhabenden. Die Auszahlungen einer Renten- oder Lebensversicherung hingegen hängen von den Beitragszahlungen der Mitglieder ab.

Nicht zuletzt wegen dieser Einschränkung ist die anfängliche Euphorie über Mikroversicherungen deshalb außer in der deutschen, niederländischen und nordamerikanischen Literatur stark zurückgegangen. Die Überlegungen gehen mittlerweile eher dahin, staatliche Sozialversicherungssysteme für Ärmere zu öffnen. Weil die Mitgliedschaft gesetzlich vorgeschrieben werden kann, wird es möglich, finanzielle Mittel von den reichen zu den armen Mitgliedern umzuverteilen. In Deutschland zum Beispiel werden die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für die ärmeren Mitglieder aus den Beiträgen der besser verdienenden quersubventioniert. Eine Versicherung ohne Pflichtmitgliedschaft kann das nicht tun. Eine solche Umverteilung führt dazu, dass wohlhabendere Kunden die Versicherung als unattraktiv empfinden und ihr gar nicht erst beitreten. Hinzu kommt, dass Sozialversicherungen ihren Mitgliedern mehr Bestandsschutz und Rechtssicherheit bieten als Mikroversicherungen, da für ihre Verbindlichkeiten der Staat bürgt.

Tatsächlich ist es mehreren Ländern in den vergangenen Jahren gelungen, auch einer Mehrheit der Armen und informell Beschäftigten Sozialversicherungsschutz zu bieten. In Thailand werden die Beiträge fast vollständig aus Steuermitteln finanziert. Auch die Erfolge von Costa Rica gehen vor allem darauf zurück, dass der Staat die Beiträge von Selbstständigen zur Hälfte und die der Armen komplett übernimmt. Tunesien hat 85 Prozent der Erwerbstätigen in die Sozialversicherung integriert, indem es mehrere abgespeckte Leistungspakete geschaffen hat, die auf die Zahlungsfähigkeit und die besonderen Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen im informellen Sektor zugeschnitten sind. Zwischen den einzelnen Systemen wird umverteilt, um finanzielle Defizite auszugleichen, die staatlichen Zuschüsse sind aber begrenzt.

Ghana und Ruanda haben einen anderen Weg gewählt: Sie haben genossenschaftliche Mikroversicherungen an die staatliche Krankenversicherung angeschlossen. Ähnlich wie beim Partner-Agent-Modell agieren die Genossenschaften als Versicherungsagenten der Sozialversicherungsanstalt. Sie sind für das Marketing und die Dienstleistungen zuständig. Mittlerweile sind 60 beziehungsweise 85 Prozent der Erwerbstätigen in den beiden Ländern sozialversichert. In Ghana muss jedoch der Staat einen erheblichen finanziellen Zuschuss zahlen.

Aber auch für die Mikroversicherungen werden Aufgaben bleiben. Erstens werden sie in Ländern benötigt, in denen der Staat nicht willens oder in der Lage ist, den Armen und informell Beschäftigten Zugang zur Sozialversicherung zu ermöglichen. Zweitens können sie als Alternative zur Sozialversicherung angeboten werden, um Bevölkerungsgruppen abzusichern, für die diese nicht attraktiv ist– insbesondere Selbstständige, die nicht Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag voll übernehmen wollen. Drittens können Mikroversicherungen Sozialversicherten eine Aufstockung der Rente oder eine Zusatzversicherung etwa für Krankentransporte und Medikamente bieten. Und viertens können sie gegen Risiken wie Dürren, Hagelschäden oder Überschwemmungen schützen, die von der Sozialversicherung nicht abgedeckt werden.

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