Aufstand für Gerechtigkeit

Seit der umstrittenen Präsidentschaftswahl vom Sommer 2009 reißen die Proteste der politischen Opposition im Iran nicht ab. Die Anhänger der „Grünen Revolution“ kämpfen für eine gerechte Ordnung und Meinungsfreiheit. Daran können auch die Versuche der gewaltsamen Unterdrückung seitens der Regierung nichts ändern. Die Machtbalance verschiebt sich: Eine neue Generation, die nach der Islamischen Revolution von 1979 herangewachsen ist, zwingt die Führungseliten, die veränderte politische Wirklichkeit anzuerkennen.

Der Iran liefert wieder Schlagzeilen. Kein Tag vergeht, ohne dass sich die Medien mit der Atomwirtschaft des Landes, mit Demonstrationen oder den Aussichten einer iranisch-amerikanischen Versöhnung beschäftigen. Es scheint, als erwarte man insgeheim in Kürze ein Ereignis von historischer  Bedeutung – vielleicht eine Revolution wie 1979, als es einer von Ayatollah Khomeini angeführten Bewegung gelang, den Schah zu stürzen und die Islamische Republik auszurufen.

Die Opposition im Iran drückt weiter ihre Unzufriedenheit aus, nicht nur weil sie der Ansicht ist, die diesjährige Präsidentschaftswahl sei gefälscht worden, sondern auch weil sie persönliche Freiheitsrechte und weitgehende politische Reformen fordert. Auf diese Weise wehren sich die Demonstranten auf den Straßen von Teheran, Schiras, Isfahan, Täbris und in anderen Städten des Iran gegen die Staatsmacht. Diese Generation der Iraner glaubt an dieselbe Utopie, von der drei Jahrzehnte zuvor ihre Mütter und Väter inspiriert wurden: die Utopie der Gerechtigkeit. Sie glauben, dass Veränderung möglich ist und dass sie nicht umsonst demonstrieren. Wie ihre Eltern sind sie bereit, für ihr Projekt das Leben zu riskieren.

Autor

Arshin Adib-Moghaddam

lehrt am Institut für Orient- und Afrikastudien an der Universität London. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die iranische Innen- und Außenpolitik. 2008 hat er das Buch „Iran in World Politics: The Question of the Islamic Republic“ veröffentlicht.

Der Arroganz und Unterdrückung seitens des Establishments entgegenzutreten, war einer der wichtigsten ideologischen Pfeiler der Islamischen Revolution von 1979. Der Slogan schlägt nun auf die zurück, die ihn erfunden haben. Und doch unterscheidet sich die heutige Situation im Iran grundlegend von der in den Jahren 1978 bis 1979. Zum einen ist die politische Zusammensetzung der Islamischen Republik sehr viel komplexer als die der Monarchie mit dem Schah als Oberhaupt, die völlig von dieser Führerfigur abhing. Als er weg war, brach das ganze System zusammen.

Die Islamische Republik ist keine Ein-Mann-Diktatur und auch kein einheitliches Staatswesen, das einer politisch einigen Gesellschaft entgegentritt. Sieben formale Institutionen spielen im politischen Leben eine Rolle: Das Amt des höchsten Rechtsgelehrten oder Obersten Führers, der laut Verfassung die höchste Autorität des Landes ist; der Wächterrat, der als eine Art oberster Gerichtshof agiert; die Versammlung der Gelehrten, die nominell den Obersten Führer wählt und das Recht hat, ihn abzusetzen; der Schlichtungsrat, der als Schiedsstelle bei Konflikten zwischen dem Parlament und dem Wächterrat vermittelt; das Amt des Staatspräsidenten, das zur Zeit Mahmud Ahmadinedschad innehat; das Parlament, das Gesetzesvorlagen beschließt und internationale Verträge ratifiziert; sowie die Revolutionsgarde, die mächtigste militärische Institution des Landes, die auch eine immer bedeutendere Rolle in der iranischen Wirtschaft spielt.

Im Iran ist es schwer, zwischen „gut“ und „böse“ zu trennen

Die Fronten der iranischen Politik verlaufen durch diese Institutionen. Jede von ihnen hat in der Bevölkerung loyale Anhänger. Während 1979 der Schah von allen Revolutionären als Angriffsziel leicht identifiziert werden konnte, ist eine kategorische Schuldzuweisung im heutigen Iran nicht ohne weiteres möglich. Wer ist der „Schurke“ im gegenwärtigen Drama? Ahmadinedschad? Seine Anhänger scheinen nicht zuzustimmen. Ayatollah Ali Khamenei? Er erfreut sich der Unterstützung vieler, sowohl im Inland als auch im Ausland. Die Revolutionsgarde? Mohsen Resai, einer der jüngst unterlegenen Präsidentschaftskandidaten und ein Gegner von Ahmadinedschad, war früher der Leiter dieser Institution und verfügt dort immer noch über viele Anhänger. Die Bassidsch? Sie stellt nicht nur Schlägertrupps in Zivil, die mit Gewalt gegen die Protestierenden vorgegangen sind, sondern diese Freiwilligen-Organisation hat Ableger in allen Bereichen der iranischen Gesellschaft: Gesundheitsdienste, Schulkomitees, Armenhilfe und Rehabilitationskliniken für Drogensüchtige.

Noch unübersichtlicher wird das Bild dadurch, dass manche staatlichen Institutionen wie das Parlament über dessen Sprecher Ali Laridschani ihren Abscheu geäußert haben angesichts der Gewalttaten von Mitgliedern der Bassidsch und der Polizei, die im Sommer einen Überfall auf Schlafsäle von Studenten der Teheraner Universität verübt haben. Laridschani forderte das Innenministerium auf, die Verantwortung zu übernehmen, und versprach: „Das Parlament wird der Angelegenheit gewissenhaft nachgehen.“ Die Trennung von „gut“ und „böse“ im Iran ist heute also sehr viel verschwommener als vor 30 Jahren.

Es handelt sich auch nicht um eine Konfrontation zwischen säkularen und geistlichen Führern. Der Nachfolger des Revolutionsführers Ayatollah Khomeini, der heutige Oberste Rechtsgelehrte (wali-e faqih) Ali Khamenei, ist vom schiitischen Establishment im Iran und anderswo nie uneingeschränkt als „Quelle der Nachahmung“ (marja-e taqlid, der höchste Rang in der schiitischen Geistlichkeit) akzeptiert worden. Er wurde in erster Linie aufgrund seiner politischen Kompetenzen als Nachfolger von Ayatollah Khomeini auserkoren. Auf dem Höhepunkt der Proteste nach den Wahlen im Sommer beging er den schweren Fehler, sich allzu offen auf die Seite von Präsident Ahmadinedschad zu schlagen. Dieses politisch ungeschickte Eintreten für einen Präsidenten, der bei vielen Iranern unpopulär ist, hat dem Ruf der Institution des Obersten Rechtsgelehrten erheblich geschadet.

Bisher hat das iranische Establishment geschickt auf Krisen reagiert

Zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt sieht Khamenei nunmehr seine Legitimität in Frage gestellt – nicht nur von Demonstranten, sondern auch von den iranischen Großayatollahs Montaseri und Saanei. Beiden wird eine höhere theologische Autorität zugeschrieben als Khamenei und beide haben ausdrücklich die Forderungen der Opposition unterstützt, der sogenannten Grünen Bewegung (grün wird mit dem Islam assoziiert). Heute haben die Stimmen der Großayatollahs mehr ideologischen Einfluss in den Zentren des iranischen Klerus in Qom als zu der Zeit, bevor Khamenei seine Hymne der Loyalität gegenüber Ahmadinedschad anstimmte.

Es gibt einen zweiten wichtigen Unterschied zur Situation von 1979. Heute bekämpfen die Gegner Ahmadinedschads das Establishment mit dem Establishment. Mir Hossein Mussawi war Premierminister des Iran während des ersten Jahrzehnts der Revolution, also zu der Zeit, als der heutige Oberste Führer Ayatollah Khamenei Präsident war. Mohammad Khatami, einer der wichtigsten Unterstützer Mussawis, war von 1997 bis 2005 Präsident. Ayatollah Haschemi Rafsandschani, ein weiterer seiner politischen Verbündeten, ist Vorsitzender des Expertenrats und ehemaliger Präsident der Islamischen Republik. Sie sind die Vordenker der Islamischen Revolution und wollen nicht ihr eigenes Projekt zerstören. Der Streit dreht sich um den künftigen Weg der Islamischen Republik und nicht um einen Sturz des gesamten Systems.

Bisher hat das iranische Establishment mit Geschick auf Krisen reagiert. Die, die eine Revolution gemacht haben, wissen, wie sie sich an der Macht halten können. Und genau darum geht es im Iran: Der Staat versucht, seine Macht zu behalten mittels einer Mischung aus Ansporn und Druck, Kompromissen und Verhaftungen, juristischen Verfahren und systematischer Gewalt. Die Oppositionsführer um Mussawi würden, wenn es hart auf hart kommt, nie das System in Frage stellen, das sie mühsam errichtet haben. Das Volk ist sowohl Joker als auch Pfand in den Händen derer, die sich um das Erbe und den künftigen Weg der Islamischen Revolution streiten. Wie Mussawi selbst schrieb in seinem fünften Brief an die iranische Bevölkerung: „Wir wenden uns nicht gegen unseren heiligen Staat und seine legalen Strukturen.“

Allerdings können prominente Reformer wie Mussawi oder Khatami nicht die gesamte Oppositionsbewegung kontrollieren. Die „Grüne Bewegung“ ist aus der iranischen Zivilgesellschaft heraus entstanden. Der Wandel im Iran wird von „unten“ gefordert, von Frauenrechtlerinnen, nichtstaatlichen Organisationen, ethnischen Minderheiten, Menschenrechtsanwälten, Intellektuellen und Studenten. Das politische Establishment – von links bis rechts – ist nicht länger der einzige tonangebende Repräsentant der Politik im Iran. Die gesamte Machtbalance verschiebt sich: Die neue nachrevolutionäre Generation zwingt langsam die Führungseliten, die politische Realität anzuerkennen.  Die massenhafte Verbreitung von Ideen über das Internet und das Satellitenfernsehen hat die Bedeutung der vom Staat kontrollierten Medien gemindert und eine ganz neue Skala alternativer Werte und Normen in die Wohnzimmer Irans dringen lassen.

Der wachsende Widerstand gegen staatliche Willkür ist jedoch kein ganz neues Phänomen. Er muss vor dem Hintergrund früherer Proteste der Gesellschaft gegen den Staat gesehen werden. Der erste Aufstand der Massen in der neueren iranischen Geschichte richtete sich 1891 gegen die Vergabe eines Tabakhandelsmonopols an den Briten Major G.Talbot. Er wandte sich auch gegen die schwache und weitgehend korrupte Herrschaft der Kadscharenmonarchie, die sich gezwungen sah, nach langen Protesten in Teheran und anderen großen Städten die Konzession zurückzunehmen. Ein zweites Beispiel ist die Konstitutionelle Revolution von 1906/1907, mit der die Forderungen der iranischen Gesellschaft an die Monarchie nach einem Parlament und einer geschriebenen Verfassung erfüllt wurden.

Die Revolution hat einflussreiche Teile der iranischen Gesellschaft politisiert

Die Entwicklung der konstitutionellen Bewegung im Iran erlitt einen schweren Rückschlag, als Reza Khan, der erste Monarch der Pahlevi-Dynastie, 1921 mit einem Staatsstreich den Pfauenthron usurpierte und eine autoritäre Monarchie errichtete. 1941 wurde er von den Briten gestürzt. Unter der Führung von Mohammed Mossadegh gelang der iranischen Gesellschaft ein weiterer wichtiger Vorstoß in Richtung Demokratie. Mossadegh war der erste demokratisch gewählte Premierminister des Iran. Als er 1951 sein Amt antrat, verstaatlichte er die Anglo Iranian Oil Company – aus der später British Petroleum hervorging – und tat die ersten Schritte hin zu einer lebensfähigen Demokratie im Iran. 1953 wurde er in einem gemeinsamen Putsch der amerikanischen und britischen Geheimdienste gestürzt, der die Diktatur von Schah Mohammed Reza Pahlevi wiedererrichtete. Der Schah regierte das Land als ein wichtiger Verbündeter der USA bis zur Islamischen Revolution von 1979.

Diese Revolution hat einflussreiche Teile der iranischen Gesellschaft politisiert und die sozioökonomischen Bedingungen für die heutige Situation geschaffen. Zum Beispiel der gesellschaftliche Wandel in der Stellung von Frauen: Ein wichtiger Grund warum so viele iranische Studentinnen, Akademikerinnen und Arbeiterinnen in den Metropolen des Landes demonstrieren, ist ihre zentrale Stellung in der iranischen Mittelschicht. Laut einem Bericht der Weltbank von 2007 hat die Teilnahme der Frauen am Wirtschaftsleben von 2001 bis 2006 von 33 auf 41 Prozent zugenommen. Die Zahl der Berufsanfängerinnen mit Universitätsabschluss stieg zwischen 2000 und 2005 jedes Jahr um 10 Prozent.

Der heutige Widerstand gegen den Staat hat also seine Wurzeln in der Geschichte und in den sozioökonomischen Bedingungen, die die Islamische Revolution selbst geschaffen hat. Er ist strukturell begründet und Teil eines mindestens hundert Jahre alten Kampfes für eine gerechte politische Ordnung, der alle Schichten der iranischen Gesellschaft durchdringt. So gesehen ist die „Grüne Bewegung“ der jüngste Ausdruck des politischen Willens des iranischen Volkes und das Establishment des Landes kann sie nicht einfach wegwünschen. Sie artikuliert sich in den von der Islamischen Republik gesetzten Grenzen, dessen Politik ihre Führer hervorgebracht hat.

Bis jetzt hat jede gewaltsame Reaktion der Sicherheitsorgane die Protestierenden daran erinnert, dass die Kluft zwischen den freiheitlichen Forderungen der Islamischen Revolution und der Realität noch gewaltig ist. Diese Diskrepanz bringt politischen Aktivismus hervor, diese Lücke zu schließen. Eine Revolution im Namen der „Unterdrückten“ hat dies legitimiert: Sie hat den Iranern das Recht zugestanden, sich zu erheben und diejenigen zu kritisieren, die weltliche Macht ausüben und zugleich transzendentale Autorität beanspruchen. Eins ist sicher: Die Islamische Republik ist heute nicht dieselbe wie vor den umstrittenen Wahlen im Sommer 2009. Früher oder später muss das politische Establishment des Landes diese Realität zur Kenntnis nehmen.

Aus dem Englischen von Christian Neven-Du Mont

 

erschienen in Ausgabe 12 / 2009: Klimawandel: Warten auf die Katastrophe
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