„Ich kann alles schaffen“

Phillipp Hedemann
„Der Sport hat mir ein neues ­Selbstbewusstsein gegeben“, sagt Isatou Nyang. Während sie spielt, vergisst sie all ihre Probleme. Ihr nächstes Ziel sind die Paralympics in Japan. 
Athletin im Rollstuhl
Isatou Nyang lebt für den Sport – gegen alle Widerstände. Sie wurde mit verkümmerten Beinen geboren und spielt leidenschaftlich gern Basketball. Als erste Frau hat sie ihr Heimatland Gambia bei den Paralympischen Spielen vertreten.

Meine Mutter und meine Schwester haben gesagt: Du bist verrückt, du sitzt im Rollstuhl. Du kannst nicht Basketball spielen. Aber mein Vater hat gesagt: Du kannst alles schaffen, was du dir vornimmst.“ Vor 21 Jahren hörte Isatou Nyang auf ihren Vater und fing an, Basketball zu spielen. Als erste Rollstuhlfahrerin in ihrer westafrikanischen Heimat, sie war 15. Zwölf Jahre später führte sie das Team Gambias bei den Paralympischen Spielen in London als erste weibliche Teilnehmerin und Flaggenträgerin ins Stadion. 

Mit dem modernen Stadion in London hat der staubige Betonplatz in Gambias größter Stadt Serekunda nichts gemein. Die Sonne steht bereits tief, die Bäume werfen lange Schatten, doch die Hitze ist noch immer drückend. Allmählich trudeln zwölf Männer in zerschlissenen Klamotten und klapprigen Rollstühlen auf dem heruntergekommenen Basketball-Court ein. Und eine Frau: Isatou Nyang. 

"Keine gute Verliererin"

Wie jeden Mittwochnachmittag trifft sich Gambias erstes und einziges Rollstuhl-Basketballteam zum Training. Wenige Minuten später pfeift Trainer Sainy Calley das erste Übungsspiel des Nachmittags an. Isatou Nyang kriegt den abgewetzten Basketball von einem Mitspieler zugepasst, fängt ihn geschickt auf und wirft bei voller Fahrt. Der Ball prallt vom Korb ab – und einem Spieler des gegnerischen Teams direkt in die Hände. Nyang dreht ihren Rollstuhl auf der Stelle und rollt so schnell sie kann zur Verteidigung in die eigene Spielhälfte zurück. Wenn sie schon nicht selbst gepunktet hat, sollen zumindest die Gegner nach dem Rebound keinen Korb werfen.

„Ich bin keine gute Verliererin“, gibt Isatou Nyang nach dem Training verschwitzt, aber glücklich zu. Heute hat ihr Team beide Übungsspiele gewonnen. Seit über 20 Jahren spendet der Basketball ihr Selbstbewusstsein und Freude, ihr Team ist zu ihrer zweiten Familie geworden. Am Anfang habe sie Angst gehabt vor dem schweren Ball. Aber das habe sie schnell überwunden und dann „trainiert, trainiert, trainiert“, erzählt sie. Auch wenn sie die einzige Frau im Team ist – geschont wurde sie von ihren männlichen Mitspielern nie. Immer wieder kommt es vor, dass die Rollstühle beim Training scheppernd zusammenstoßen, manchmal kippt einer samt Sportler um. „Ab und zu habe ich danach blutende Schürfwunden. Aber wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht ernsthaft verletzen. Wir sind alle nicht krankenversichert und können es uns nicht leisten, zu einem guten Arzt zu gehen.“ 

Betteln, um ihre Familie durchzubringen

Denn wie fast alle behinderten Menschen in Gambia haben Isatou Nyang und ihre Teamkameraden keine festen Jobs. Um sich und ihre beiden Söhne durchzubringen, steht die alleinerziehende Mutter jeden Tag vor Sonnenaufgang auf, um am frühen Morgen am Straßenrand und vor Moscheen zu betteln. „Wenn die Geschäfte öffnen, werden wir von den Ladenbesitzern oft vertrieben. Wir gelten als geschäftsschädigend und werden diskriminiert. Andere denken, ich sei reich, weil ich mal bei den Paralympischen Spielen war“, berichtet sie. Tatsächlich erbettelt sie in drei Stunden durchschnittlich rund 225 Dalasi, umgerechnet 3,50 Euro. Auch in Gambia ist das nicht viel.

Autor

Philipp Hedemann

ist freier Journalist in Addis Abeba. Von 2010 bis 2013 berichtete er als Afrika-Korrespondent für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Sein Äthiopien-Buch „Der Mann, der den Tod auslacht“ ist 2013 im DuMont-Verlag erschienen.
Unter der Diskriminierung litt auch ihre Mutter, als Isatou Nyang vor 36 Jahren mit verkümmerten Unterschenkeln und Füßen geboren wurde. Nachbarn und Bekannte raunten, ihre Mutter sei mit einem Fluch belegt worden und sollte mit dem behinderten Baby gestraft werden. Isatou Nyang weiß, dass das Quatsch ist und ihre Mutter sie genauso liebt wie ihre drei nicht behinderten Kinder. Während viele Männer in Gambia ihre Frau verlassen, wenn sie ein behindertes Kind zur Welt bringt, hielt Isatous Nyangs Vater Omar Nyang immer zu seiner Frau, seiner Tochter und seiner Familie. Sechs Jahre trugen ihre Eltern und ihre ältere Schwester Isatou auf dem Rücken, bevor sie sich einen gebrauchten Rollstuhl leisten konnten. „Ich habe immer gesagt, dass ich Isatou so liebe, wie sie ist“, sagt Omar Nyang. „Sie hatte schon als Kind einen starken Willen. Und jetzt ist sie die erste Frau, die unser Land bei den Paralympics vertreten hat. Ich bin sehr stolz auf mein Mädchen.“

Isatou Nyang ist nicht nur Basketballerin, sondern auch Gewichtheberin und Leichtathletin. Bei den Paralympischen Spielen in London trat sie im Sommer 2012 über 100 und 800 Meter an. Über 100 Meter schied sie mit 20,32 Sekunden als Letzte im Vorlauf aus, über 800 Meter wurde sie disqualifiziert, nachdem sie im unvertrauten geliehenen Rennrollstuhl versehentlich auf die Bahn einer Konkurrentin geriet. Trotzdem waren die Paralympischen Spiele für sie und ihr Team ein großer Erfolg. „Wir sind nicht nach London gereist, um Medaillen zu gewinnen. Wir wussten, dass wir als absolute Außenseiter keine Chance hatten. Wir wussten, dass die meisten anderen Athleten viel bessere Trainingsbedingungen und viel bessere Rollstühle haben und sich besser ernähren können. Ich gehe manchmal hungrig ins Bett. Aber wir wollten zeigen: Uns gibt es auch!“ 

„Der Sport hat mir ein neues Selbstbewusstsein gegeben"

Olympische Medaillen, gut dotierte Sponsorenverträge, lukrative Gagen – von all dem kann die ehrgeizige Athletin nur träumen. Und doch gibt ihr Sport ihr mehr als manchem international gefeierten Sportmillionär. „Seitdem ich Basketball spiele, bin ich ein anderer Mensch. Ich bin sportsüchtig. Der Sport hat mir ein neues Selbstbewusstsein gegeben. Außerdem muss ich mich beim Spielen so konzentrieren und anstrengen, dass ich gar nicht an meine Probleme denken kann“, sagt Nyang. 

Und Probleme hat sie genug. Nyang heiratete mit 18 Jahren, bekam mit 24 Jahren ihren ersten gesunden Sohn Abdulai, zwei Jahre später kam Omar zur Welt. Auch er ist gesund. Doch bereits kurz nachdem sie ihren ebenfalls im Rollstuhl sitzenden Mann geheiratet hatte, begann er, sie zu drangsalieren. „Er hat mich überhaupt nicht unterstützt. Im Gegenteil: Er wollte, dass ich mit meinem geliebten Sport aufhöre, weil ich immer die einzige Frau unter Männern war. Er war total eifersüchtig.“

Ihr Mann macht ihr mittlerweile keine Probleme mehr, Isatou Nyang ließ sich scheiden. Doch jetzt macht Corona ihr große Angst: Nyang ist Asthmatikerin und nicht krankenversichert. „Wenn ich Corona kriege, dann war es das vielleicht. Darum passe ich so gut wie möglich auf, dass ich mich nicht infiziere“, sagt die Athletin. 

Die Pandemie könnte auch ihre sportlichen Pläne zunichtemachen: Nyang hofft, im August und September an den Paralympischen Spielen in Japan mit einem Rennrollstuhl über 100, 200, 400 und 800 Meter teilzunehmen. Doch noch ist unklar, ob die Spiele überhaupt stattfinden können. Und selbst wenn die Wettkämpfe nicht erneut verschoben werden, ist es nicht sicher, ob Nyang daran teilnehmen kann. Denn zunächst muss sie sich qualifizieren und anschließend Förderer finden, die ihr die teure Reise nach Japan ermöglichen. „Als behinderte afrikanische Frau einen Sponsor zu finden, ist nicht gerade leicht“, sagt sie. „Aber wenn die Paralympics in Japan stattfinden, werde ich es schaffen, dahin zu kommen. Irgendwie. Mein Vater sagt: Ich kann alles schaffen, was ich mir vornehme.“ 

 

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erschienen in Ausgabe 3 / 2021: Sport im Süden
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