„Frontex hat den Auftrag, Grenzen zu schützen, nicht Menschen“

picture alliance / ZUMAPRESS.com/Ana Fernandez
Am Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2021 haben Aktivistinnen am Strand von Schevengen in den Niederlanden den rund 44.000 Toten gedacht, die in den vergangenen Jahren an den Grenzen Europas gestorben sind. Menschenrechtler werfen der EU-Grenzschutzagentur Frontex vor, durch illegale Push-back-Aktionen mitschuldig zu sein am Tod von Geflüchteten.
Flüchtlingspolitik
Der EU-Grenzschutzagentur Frontex werden häufig Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Ein Untersuchungsausschuss des Europäischen Parlaments hat das geprüft und nun seinen Abschlussbericht vorgelegt. Der Rechtsanwalt Matthias Lehnert bewertet die Ergebnisse.

Matthias Lehnert ist Rechtsanwalt in Berlin.
Ein Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments hat jüngst einen Bericht zur EU-Grenzschutzagentur Frontex vorgelegt. Darin werden der Behörde, an der auch deutsche Polizisten beteiligt sind, schwere Grundrechtsverletzungen vorgeworfen. Was ist besonders gravierend?
Die Europaabgeordneten in dem Ausschuss haben sowohl strukturelle als auch persönliche Mängel offengelegt, die in Zusammenhang stehen mit Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen, vor allem in Griechenland. Besonders schwer wiegt persönliches Versagen auf der Führungsebene: Fabrice Leggeri, der Direktor von Frontex, hat Missstände in seiner Behörde, die ihm zur Kenntnis gebracht wurden, missachtet, ignoriert und versucht, sie zu vertuschen. Vorsichtig ausgedrückt kann man sagen, er hat anscheinend kein Interesse daran, menschenrechtskonform zu handeln.

Was haben die Parlamentarier konkret herausgefunden?
An den EU-Außengrenzen werden Menschen rechtswidrig zurückgewiesen. Solche sogenannten Pushbacks sind vielfach dokumentiert. Zum Beispiel: In der Nacht vom 18. auf den 19. April 2020 überflog ein Aufklärungsflugzeug von Frontex das östliche Mittelmeer und beobachtete, wie die griechische Küstenwache Schutzsuchende erst rettete und sie dann auf dem offenen Meer aussetzte. Die Küstenwache brachte die Flüchtlinge auf ein leeres Schlauchboot, montierte den Motor ab und zog das manövrierunfähige Schlauchboot in türkische Gewässer. Frontex hat das beobachtet und die Ereignisse detailliert festgehalten, aber nichts unternommen. Und das war wohl kein Einzelfall. Laut den EU-Abgeordneten hat Fabrice Leggeri die Aufarbeitung solcher Fälle verhindert und auch dem Untersuchungsausschuss einiges verschwiegen. Mit Blick auf den Vorfall im April 2020 soll der Frontex-Direktor die Grundrechtsbeauftragte von Frontex persönlich angewiesen haben, alle Informationen zu löschen, die sie dazu gesammelt hatte, wie unter anderem der Spiegel berichtete.

Sie beschäftigen sich als Jurist seit vielen Jahren mit der Flüchtlingspolitik an den Außengrenzen Europas. Haben die Ergebnisse des Berichts Sie überrascht?
Nein, nicht wirklich. Der Bericht steht in einer Reihe von Skandalen um Menschenrechtsverletzungen seitens Frontex. Sowohl nichtstaatliche Organisationen als auch staatliche Organe und Medien haben vielfach offengelegt, welche strukturellen Mängel es gibt. Das Besondere bei dem nun untersuchten Fall ist, dass die Aufklärung letztlich auf Medienrecherchen zurückgeht und nicht auf Überprüfungen durch Behörden oder auf Klagen von Einzelnen. Das ist auch mein Kritikpunkt: Flüchtlinge, die von Frontex in ihren Rechten verletzt werden, haben faktisch keinerlei Möglichkeit, dagegen vorzugehen und zu klagen.  

Wenn solche Vorfälle bekannt sind – ist der Untersuchungsbericht trotzdem wichtig?
Er ist wichtig, weil er neben persönlichem Versagen die strukturellen Probleme darstellt: Es gibt bei Frontex zwar eine Menschenrechtsbeauftragte und ein Konsultativforum, dessen Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass die Agentur die Rechte von Asylsuchenden achtet. Aber beide haben zu wenige Möglichkeiten, an Informationen zu kommen und zu intervenieren. Es hat also erstens die Führungsebene falsch gehandelt; zweitens funktionieren die Mechanismen, die es gibt, schlichtweg nicht. Und drittens ist Frontex grundsätzlich viel zu intransparent aufgestellt. Da werden Menschenrechtsverletzungen begangen, ohne dass es publik wird.  Die Behörde kann tun und lassen, was sie will, und niemand erfährt es.

Aber der Abschlussbericht hat ja nun Öffentlichkeit hergestellt.
Ja, und der Rundumschlag des Berichts ist gewinnbringend. Gut finde ich auch, dass er nicht nur anklagt, sondern ebenso Vorschläge macht, wie es besser gehen könnte. Dazu zählt, den Menschenrechtsbeauftragten und das Konsultativforum zu stärken; das ist unbedingt notwendig. Wichtig wäre zudem ein gut funktionierender Beschwerdemechanismus für Einzelpersonen, so dass sowohl Geflüchtete als auch Mitarbeitende von Hilfsorganisationen, die beispielsweise Pushbacks beobachten, klagen können.

Der Bericht wird sehr unterschiedlich bewertet. Die Christdemokraten betonen, er stelle keine Beteiligung von Frontex selbst an illegalen Zurückweisungen fest; aber das, erklärt die Linken-Abgeordnete Cornelia Ernst, sei eine politische Entscheidung auf Drängen von konservativen und rechten Kräften gewesen. Kann jeder die eigene Weltsicht in diesen Bericht hineininterpretieren?
Ja, der Bericht ist ein politischer Kompromiss. Wäre er nur von Grünen und Linken verfasst worden, wäre er sicher sehr viel schärfer in der Wortwahl. Aber der Untersuchungsausschuss war eben fraktionsübergreifend besetzt. Und die Crux ist, dass mit dem Grenzschutz in den allermeisten Fällen Menschenrechtsverletzungen einhergehen. Denn wer will, dass Grenzen wirksam geschützt werden, weist auch Menschen ab. Und Frontex hat die Aufgabe, Grenzen zu schützen – nicht Menschen.

Grenzschutz ohne Menschenrechtsverletzungen kann es Ihrer Meinung nach nicht geben?
Sagen wir mal so: Dieses Spannungsverhältnis lässt sich nur schwer auflösen. Trotzdem dürfen Menschenrechtsverletzungen natürlich nicht einfach hingenommen werden. Grenzschützer haben das Recht, Menschen den Zugang zu ihrem Territorium zu verweigern – allerdings nur, wenn die Menschen unberechtigt einreisen. Sobald ein Schutzgesuch gestellt wird, muss das geprüft werden.

Allein in diesem Jahr sind bis zum 22. Juli schon 993 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer umgekommen. Trägt Frontex daran eine Mitschuld?
Ja und nein. Frontex trägt die Politik des effektiven Grenzschutzes mit, die einer effektiven Seenotrettung entgegensteht. Dafür ist die repressive Migrationspolitik der EU insgesamt verantwortlich, bei der es vor allem darum geht, einseitig Grenzen zu schützen. Aber auf die EU zu schimpfen, hilft hier auch nicht weiter, denn in erster Linie wollen die nationalen Regierungen in Berlin, Athen, Budapest und so weiter einen „effektiven Grenzschutz“ – und das bedeutet dann eben auch die Zurückweisung von Migranten.  Das Problem sind vor allem die Mitgliedstaaten. In der gesamten Migrationspolitik beobachten wir einen Rechtsruck.  

Die Bundesregierung hat sich für eine stärkere Kontrolle von Frontex ausgesprochen. Wird das helfen?
Ich halte diese Ankündigung eher für eine Beruhigungspille. Solange den Mitgliedstaaten der Schutz der Grenzen wichtiger ist als der Schutz von Menschen, wird Frontex vermutlich auch weiterhin an rechtswidrigen Pushbacks beteiligt sein.

Das Gespräch führte Elisa Rheinheimer.

Matthias Lehnert ist Rechtsanwalt im Migrationsrecht und beratend am European Center for Constitutional and Human Rights tätig. Lehnert hat an der Universität Münster zu Frontex und operativen Maßnahmen an den europäischen Außengrenzen promoviert.

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