Grundrechte für Bäume, Wasser und Tiere?

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„Quito ohne Bergbau“ steht an der Wand: Waorani-Indigene in Ecuador protestieren 2021 gegen die ­Ölförderung am Amazonas.
Ecuador
Ecuador hat 2008 als erstes Land Rechte der Natur in der Verfassung festgeschrieben. Doch der Rechtsweg zu einer intakten Umwelt ist lang.

Als Ecuador 2008 die „Rechte der Natur“ in die Verfassung aufnahm, runzelten viele Juristen die Stirn. Welche Rechte konnte so ein juristisch schwer fassbares Konstrukt wie die Natur haben – und vor allem, wer und wie sollte diese Rechte geltend machen? Die Vorbehalte waren nicht überraschend, gehören Juristen doch üblicherweise nicht zur progressiven Speerspitze einer Gesellschaft. Und die Rechte der Natur, für die sich in Ecuador vor allem indigene Abgeordnete eingesetzt hatten, waren ein Meilenstein weg vom Anthropozentrismus der christlich-westlichen Werte- und Rechtsvorstellung.

Auf der Welt gab es jedoch immer auch andere Weltbilder – nicht nur bei den indigenen Naturvölkern, sondern auch im Buddhismus oder im Hinduismus. In außereuropäischen Gesellschaften spielen Konzepte wie Harmonie und Gemeinschaft eine deutlich wichtigere Rolle als in Europa, wo sich mit der Aufklärung und der Industrialisierung der Individualismus und der lineare Fortschrittsglaube durchgesetzt haben. 

Erst in den 1970er Jahren wurde das Modell im Westen infrage gestellt, unter anderem mit dem Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums. Im Fahrwasser dieser Debatte schlug der US-amerikanische Juraprofessor Christopher Stone in seinem Essay „Should trees have standing?“ (1972) vor, Wäldern, Ozeanen, Flüssen und anderen sogenannten Naturobjekten eigene Rechte zu verleihen. Manche belächelten ihn als Utopisten, andere erkannten das revolutionäre Potenzial seiner Idee. „Wenn man das Konzept zu Ende denkt, untergraben und hinterfragen die Rechte der Natur die Pfeiler unserer Modernität in allen Bereichen, einschließlich der Wirtschaft. Diese Idee öffnet somit die Tür zu einer neuen Zivilisation“, sagt Alberto Acosta. Er weiß, wovon er spricht: Der Ökonom war 2008 Vorsitzender der wegweisenden verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors. 

Ausgleich zwischen Mensch und Universum

Unser Rechts- und Wirtschaftssystem schützt bislang vor allem das Privateigentum und die persönlichen Freiheitsrechte. Bei den Rechten der Natur geht es um kollektive Rechte und einen Ausgleich zwischen Mensch und Universum. Der Homo sapiens stehe in diesem neuen Rechtssystem nicht mehr im Mittelpunkt – anders als wenn man beispielsweise vom Recht auf eine gesunde Umwelt spräche, argumentiert Acosta. 

Mit einem neuen Rechtsverständnis alleine ist es freilich nicht getan. Denn nimmt man die Rechte der Natur ernst, dann geraten sie mit dem kapitalistischen Wirtschaftsmodell sowie dem Schutz von Wirtschaftswachstum und der Vermehrung von Reichtum in Konflikt.

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Selbst in Ecuador, wo Indigene eine politisch wichtige Rolle spielen und schon mehrere Präsidenten gestürzt haben, führte das Konzept schnell zu heftigen Kontroversen und politischen Zerwürfnissen. Präsident Rafael Correa, der sich der Welt zunächst als progressiver Vorkämpfer für die Umwelt präsentiert hatte, war mit dem revolutionären Konzept in seiner Verfassung bald nach deren Verabschiedung gar nicht mehr so glücklich. Denn es stellte sich als Stolperstein seines Wirtschafts- und Machtmodells heraus. Das basierte auf dem Export von Mineralien, Rohöl, Bananen und Blumen. Dort schöpfte die Regierung relativ einfach Devisen ab, die Correa für prestigeträchtige Infrastrukturprojekte und Sozialprogramme zugunsten seiner Klientel einsetzen konnte – was ihm anhaltend hohe Popularitätswerte sicherte. 

Die Ausbeutung von Rohstoffen als hohes Rechtsgut

Umweltschützer und Indigene waren ihm bald lästig, weil sie seinem Modell im Wege standen. Gegen ein Gesetz, das die Einfuhr von genetisch verändertem Saatgut verboten hätte, legte Correa 2017 sein Veto ein. Naturschützer bezeichnete er als kindisch, Proteste wurden gewaltsam niedergeschlagen, Aktivisten und kritische Journalisten wegen „versuchten Terrorismus“ verhaftet und verurteilt. Bis zum Ende von Correas Amtszeit wurde in Ecuador von der politisch kontrollierten Justiz kein einziges Urteil zugunsten der Natur gefällt. Entsprechende Klagen verschwanden in den Schubladen der Gerichte oder wurden abgewiesen – aus formalen Gründen oder weil die Gerichte die Ausbeutung von Rohstoffen höheres Rechtsgut werteten als den Naturschutz. 

Ein langer Kampf – die Umweltschützerin Esperanza Martinez zeigt 2004, wie sehr der Ölkonzern Texaco das Wasser im Amazonas­becken Ecuadors verschmutzt hat. 

Umweltaktivisten aus anderen Ländern übernahmen derweil das Konzept. Doch auch im Rest der Welt ging es nur zäh voran. Als in den USA 2017 Umweltschützer vor Gericht Rechte für den verschmutzten Colorado-Fluss auf Basis geltender Gesetze einklagten, entgegnete ihnen der republikanische Senator Steve Daines: „Wir sind uns wohl alle einig, dass Flüsse und Bäume keine Menschen sind. Radikale Verhinderer sabotieren mit solchem Nonsens den gesunden Menschenverstand und schaden dem Umweltschutz.“

Auch die verfassungsgebende Versammlung in Chile stritt zwischen 2021 und 2022 heftig über Rechte für die Natur. Chile ist ein Land, in dem viele Naturgüter privatisiert sind und die Folgen dieser Privatisierung besonders stark zu spüren sind. Weil Wasser Privateigentum ist, konnten sich Lachsfarmen, Lithiumminen und bewässerte Eukalyptus- und Avocadoplantagen im ganzen Staatsgebiet ausbreiten – was ganze Ökosysteme austrocknete oder verschmutzte. Geschäftsleute machten auf Kosten der Natur Milliardengewinne, Anwohner verloren ihre Lebensgrundlage und hatten keinerlei rechtliche Handhabe dagegen. 

Der Avocadoanbau in La ­Ligua in Chile verschlingt ­Unmengen ­Wasser. Die umliegenden Flüsse sind vertrocknet, Haushalte haben kein fließendes Wasser.

Innerhalb von nur zwei Dekaden hat sich Chile durch den Klimawandel und die intensive Landnutzung von einem regenreichen Land in eine Region verwandelt, die unter dauerndem Dürrestress leidet. Doch der Widerstand der einflussreichen Wirtschaftslobby und konservativer Politiker gegen zu starke Umweltrestriktionen war immens. Schließlich wurde Anfang 2022 ein Kompromiss ausgehandelt. Viele Vorschläge der Umweltkommission in der verfassungsgebenden Versammlung blieben auf der Strecke, etwa der Schutz von Gletschern oder die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Biodiversität. Statt solch konkreter Formulierungen heißt es nun in Artikel 9 des Verfassungsentwurfs: „Menschen und Völker sind von der Natur abhängig und bilden gemeinsam mit ihr ein untrennbares Ganzes. Die Natur hat Rechte. Der Staat und die Gesellschaft haben die Pflicht, diese zu schützen und zu respektieren.“

Die ecuadorianische Umweltschützerin Esperanza Martinez sagt, es seien noch viele Hürden zu überwinden, bis die Menschen die vorherrschende Meinung aufgeben, die Ausbeutung der Natur sei rechtmäßig. Zu diesen Hindernissen zählt sie die historische Integration Lateinamerikas in den Welthandel als Lieferant von Rohstoffen, basierend auf der Ausbeutung von indigenen Zwangsarbeitern und afrikanischen Sklaven. Daran habe sich wenig geändert. „Die Natur ist bis heute in den Augen der Herrschenden jeglicher ideologischen Couleur etwas, das man unterwirft, ausbeutet und vermarktet“.

Die Rechte der Natur mobilisieren die Zivilgesellschaft

Der ecuadorianische Jurist José Sánchez Parga hingegen hält die Rechte der Natur für eine nostalgische, rückwärtsgerichtete Projektion, die keine konkreten Handlungsanweisungen biete und daher in der Realität wirkungslos verpuffe. Farith Simon, Rechtswissenschaftler der Universität San Francisco de Quito (Ecuador) hält das Konzept ebenfalls für schwammig und schwer umzusetzen. „Dasselbe Ziel kann auch durch andere juristische Konzepte erreicht werden“, schreibt Simon, etwa indem man Popularklagen im Namen der Natur zulässt, den indigenen Völkern ein Recht auf Widerstand einräume oder Umweltgesetze verschärfe. Vor allem aber müssten bereits bestehende Gesetze von den Gerichten auch angewandt werden. Damit verweist er auf einen generellen Schwachpunkt im Justizsystem Lateinamerikas: die kränkelnde Rechtsstaatlichkeit und die Diskrepanz zwischen Gesetz und seiner praktischen Umsetzung. 

Gerade aber da zeigen die Rechte der Natur ihre Strahlkraft. Sie mobilisieren die Zivilgesellschaft wie kaum eine andere Rechtsfigur außer den Menschenrechten. Die Zivilgesellschaft findet immer wieder Wege und Umwege, die Idee von Rechten der Natur in den Köpfen und politischen Debatten zu verankern. Neben öffentlichkeitswirksamen Kampagnen und politischer Lobbyarbeit für entsprechende Gesetze und Verfassungsänderungen setzen Umweltorganisationen auf die „litigios estratégicos“, sogenannte strategische Klagen. Sie sind weltweit zu einer Praxis geworden, mit der Bürger versuchen, angesichts zögerlicher Regierungen ehrgeizigere Naturschutzziele auf dem Gerichtsweg durchzusetzen. Besonders aktiv ist Lateinamerika, wo die Natur, Indigene und Umweltschützer besonders unter dem Raubbau, zum Beispiel bei der Rohstoffförderung, leiden.

Die Vereinten Nationen haben in den vergangenen Jahren unter dem Eindruck der Debatte erste, freilich nur kleine Schritte in Richtung einer strikteren Gesetzgebung bei Umweltverbrechen gemacht. So wurde unter der Ägide der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (Cepal) 2018 der Escazú-Vertrag verabschiedet, der den Schutz von Umweltaktivisten verstärkt und die Mitgliedsstaaten zu mehr Transparenz und Partizipation bei der Vergabe von Großprojekten und Konzessionen zwingt. 24 Länder Lateinamerikas und der Karibik haben ihn bereits unterschrieben, 12 ratifiziert. 2022 hat der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution verabschiedet, die eine gesunde Umwelt zum Menschenrecht erklärt. 43 Stimmen waren dafür, nur vier Mitgliedsstaaten – China, Indien, Japan und Russland – haben sich der Stimme enthalten.

Die Revolution auf dem Rechtsweg ist langsam

Die praktischen Folgen dieser juristischen Umwelt-Revolution sind bislang durchwachsen. Für Kolumbien hat die Zeitung „El Espectador“ vor kurzem vier der zwölf Ökosysteme besucht, die die Justiz in Kolumbien zum Rechtssubjekt erklärt hatte. „Zum Großteil sind diese Urteile aber nichts als Papier geblieben“, lautet das Fazit. Umweltzerstörung und Vertreibungen seien weiterhin auch in den eigentlich geschützten Gebieten an der Tagesordnung. Die Wirtschaftsinteressen setzten sich weiterhin gegen einen abwesenden oder heimlich billigenden Staatsapparat durch. 

Die Revolution auf dem Rechtsweg ist naturgemäß langsam, und entscheidenden Einfluss hat eine umweltbewusste Regierung. In Chile zum Beispiel hat die amtierende Linksregierung auch ohne neue Verfassung – über die im Herbst eine Volksabstimmung stattfindet – gleich mehrere Bergbaukonzessionen wegen fehlender oder mangelhafter Umweltverträglichkeitsprüfungen widerrufen. Beim Pionier Ecuador hingegen vergibt derzeit eine wirtschaftsliberale Regierung Bergbaukonzessionen im Rekordtempo.

Allerdings können Regierungen und Unternehmen nicht mehr davon ausgehen, dass solche Konzessionen letztlich auch rechtlich Bestand haben werden. Im Dezember 2021 erklärte das ecuadorianische Verfassungsgericht in der letzten Instanz eine 2017 in einem Naturschutzgebiet erteilte Bergbaukonzession für verfassungswidrig, weil sie die Rechte der Natur und der dort ansässigen Bevölkerung missachtet habe. Das Urteil gilt als weltweit wegweisend. 

Ein Allheilmittel sind die Rechte der Natur nicht. Aber sie haben sich in der vergangenen Dekade zu einem wichtigen Hebel der internationalen Umweltschutzbewegung entwickelt, um eine gehörige Portion Sand ins kapitalistische Getriebe zu werfen.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2022: Das Zeug für den grünen Aufbruch
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