Mama Agnes und ihre Senioren

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Jeremiah Onyango
Agnes Kariuki (rechts), die Gründerin des Kibera Day Care ­Centre for the Elderly, und die 71-jährige Rhoda Mbone.
Altenhilfe im Slum
Alt werden ist nie leicht. Schon gar nicht in Kenia, wo es bisher kaum Strukturen gibt, um ältere Menschen zu versorgen. Doch auch hier gibt es immer mehr alte Menschen. Agnes Kariuki setzt sich für bessere Lebensumstände ein – und für bessere Gesetze.

Drei ältere Frauen sitzen an einem kleinen Tisch, sie schnippeln mit großen Messern erst ein paar Karotten, dann acht Kohlköpfe und einen Eimer Tomaten und unterhalten sich fröhlich dabei. Der Reis köchelt auf dem Holzfeuer in einem großen Topf, die Bohnen für die Soße wurden schon am Vorabend gekocht. Die 71-jährige Rhoda Mbone, selbst Mitglied der örtlichen Seniorengruppe, leitet heute das Kochteam. Mindestens 80 Leute sollen nachher satt werden. Jeden Dienstag gibt es hier im Kibera Day Care Center for the Elderly kostenlos Mittagessen für die Mitglieder der Seniorengruppe in einem der ärmsten Stadtteile der kenianischen Hauptstadt Nairobi.

Im Laufe des Vormittags kommen nach und nach immer mehr alte Männer und Frauen an. Einige gestützt auf einen Stock, andere mit den Waren in der Hand, die sie unterwegs noch zu verkaufen versuchen. Manche machen erst einen Abstecher ins Büro, das in zwei blau-rot gestrichenen Containern untergebracht ist. So wie Wambua Kasuva. „Mein Mädchen, hier bin ich“, sagt der 89-Jährige zu Agnes Kariuki. Die 63-Jährige hat das Zentrum vor vielen Jahren gegründet und leitet es bis heute. Er will wissen, ob sie Geld aufgetrieben hat, damit er zum Arzt gehen kann. „Leider noch nicht“, antwortet sie.

Der 89-Jährige Wambua Kasuva auf dem Weg zum Seniorentreff. Der Schreiner verkauft immer noch Gegenstände aus Holz, um sich etwas dazu zu verdienen.

„Junger Mann, was sagst du?“, begrüßt der alte Mann den 22-jährigen Jeremiah Onyango, der sich im Zentrum engagiert. Im Mai dieses Jahres stieß der Fotograf zufällig auf das Tageszentrum, als er auf der Suche nach Geschichten war. Jeremiah Onyango lebt in Kibera, ist dort geboren und aufgewachsen. Mit seinen Fotos will er Menschen sichtbar machen, die die Gesellschaft sonst kaum beachtet.

Einsamkeit und Isolation sind ein großes Problem 

Etwas nach hinten versetzt befindet sich eine Konstruktion aus Holz und Blech, 80 blaue Plastikstühle stehen darin, weiße und lilafarbene Stoffstreifen zieren die Wände. Wambua Kasuva gesellt sich zu den anderen Senioren, die dort sitzen. Sonntags ist hier Gottesdienst, unter der Woche Seniorentreff. Montagnachmittags unterrichtet die pensionierte Lehrerin Alice Lesen, ­Schrei­ben und Rechnen. Stolz erzählt sie, dass einige ihrer Schülerinnen und Schüler sogar Zertifikate vom Bildungsministerium bekommen haben. Dienstags sind die Senioren zum Austausch und zum gemeinsamen Mittagessen eingeladen. Wambua Kasuva ist froh, diesen Ort zu haben, wo er in Ruhe sitzen kann und ihm jemand zuhört. „Einsamkeit und Isolation sind ein großes Problem“, sagt Agnes Kariuki, die viele nur „Mama Agnes“ nennen.

1989 hat Kariuki angefangen, sich um alte Menschen in ihrer Umgebung zu kümmern, immer dienstags. Damals war sie 32 Jahre alt und hat für eine Organisation gearbeitet, die sich für eine bessere Wasserversorgung im Slum Kibera einsetzt. Seit dem Jahr 2000 widmet sie sich ganz ihrem Ziel, dass alte Menschen in Kenia mehr gesehen und besser versorgt werden. 

Schätzungen zufolge leben rund 60 Prozent der Stadtbevölkerung von Nairobi in Slums, der größte ist Kibera. Mehr als eine Million Menschen leben hier ohne fließend Wasser, ohne Anschluss ans Stromnetz. Das Leben im Slum verlangt Menschen eine Menge ab. Etwa sechs Prozent der kenianischen Bevölkerung sind älter als 60 Jahre, das sind rund 2,8 Millionen Menschen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird sich die Zahl bis 2050 mehr als verdoppeln.  Die Lebenserwartung steigt, aktuell liegt sie bei 66 Jahren. Auch Kenia muss sich damit befassen, wie das Land in Zukunft mit der älter werdenden Bevölkerung umgeht.

Ruhestand und Rente – für viele Senioren ein Fremdwort

„Und jetzt alle aufstehen“, ruft der Gruppenleiter und erhebt sich schwungvoll, auch er ist im Rentenalter. Um kurz nach elf beginnt das Programm – und zwar mit Gymnastik. Viele der Männer tragen Hüte, die Frauen haben ein Tuch um den Kopf gebunden. Arme hoch, Hände schütteln, wieder runter. Wer nicht stehen kann, macht im Sitzen mit. Schultern kreisen, vor und zurück. Die Hüften kreisen lassen. „So, jetzt ganz nach unten beugen“ – kollektives Seufzen erfüllt den Raum. Dann singen sie gemeinsam und beten für die Kranken und danken Gott für das, was sie noch können. Und für „Mama Agnes“.

Klatschen, beugen, Hüften kreisen: Das kurze Sportprogramm, das ein rüstiger Senior leitet, ist fester Bestandteil des wöchentlichen Treffs.

Die Arbeit des Zentrums finanziert Agnes Kariuki mit Spenden und dem Erlös aus der Vermietung von ein paar Häusern in Kibera, die dem Zentrum gehören. Immer mal wieder konnte sie in den letzten Jahren Förderungen von größeren Organisationen wie HelpAge an Land ziehen, dann hatte sie auch ein regelmäßiges Gehalt. Aktuell hat sie keine größere internationale Förderung. Ab 60 gilt man in Kenia als alt; das ist das offizielle Ruhestandsalter. Doch Ruhestand und Rente ist für viele Kenianerinnen und Kenianer ein Fremdwort. Vier von fünf Kenianern und Kenianerinnen arbeiten im informellen Sektor – und zwar so lange, bis sie nicht mehr können.

Autoren

Birte Mensing

ist freie Journalistin in Nairobi.

Jeremiah Onyango

ist Fotograf in Kibera und engagiert sich dort für alte Menschen.

„Viele alte Menschen sind einsam und fühlen sich nicht gesehen“, sagt Fotograf Jeremiah On­yango. „Aber hier fühlt es sich immer wie Familie an.“ Er kommt mit den alten Menschen ins Gespräch, sie berichten von ihren Problemen, dass sie oft kein Geld für Essen und Medikamente haben, dass ihr Dach undicht ist, dass die Kinder sich nicht kümmern. „Ich kann ihnen nicht direkt helfen, aber ich kann mitfühlen.“ Der Kontakt mit den alten Menschen habe ihn verändert, ihre Geschichten lassen ihn nicht mehr los.

Zwei alte Herren in Anzug­jacke tragen die großen, dampfenden Blechtöpfe in den Saal. Jeder bekommt Reis und Bohnengemüseeintopf auf einem bunten Plastikteller serviert. Manche Senioren haben Dosen dabei und essen nur ein bisschen, den Rest nehmen sie mit nach Hause. Viele müssen nicht nur sich selbst, sondern auch noch Enkelkinder versorgen, die bei ihnen leben.

Die Suche nach Arbeit hört auch im hohen Alter nicht auf

Besonders verschärft habe sich die Lage im Slum Ende Dezember 2007, erzählt Agnes Kariuki. Nach den Wahlen damals kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen ethnischen Gruppen, angeheizt von den konkurrierenden Politikern. Viele Menschen wurden von dort vertrieben, wo sie sich etwas aufgebaut hatten, und landeten in den Slums in Nairobi. Dort sind sie seither jeden Tag von neuem auf der Suche nach Arbeit, die ein paar hundert Schilling, umgerechnet ein bis zwei Euro, bringt, um zumindest am Abend etwas zu Essen auf den Tisch bringen zu können.

Und diese Suche hört nicht auf, auch für Wambua Kasuva nicht. Der 89-Jährige war früher Schreiner, noch immer verkauft er Kochlöffel, Zuckerdosen und Kerzenhalter aus Holz. Das Arbeiten fällt ihm schwer. „Siehst du?“, fragt er und hält seine Hände hoch. Sie sind von der Arthritis versteift und gekrümmt, die ihn seit vielen Jahren plagt. Die Diagnose hat er bekommen, doch die Medikamente kann er sich nicht regelmäßig leisten. Den Check-up beim Spezialisten auch nicht. „Meine Kinder frage ich gar nicht, die haben auch keine Jobs und kein Geld“, meint Wambua Kasuva. „Keiner denkt an uns.“

Jeremiah Onyango denkt immer mehr über seine eigene Zukunft nach. Er hat erkannt: Armut setzt sich fort, ist eine Klassenfrage. Er weiß, wie unterschiedlich das Leben verlaufen kann. „Das zu sehen, erinnert mich immer wieder daran, mir etwas aufzubauen und dafür zu sorgen, dass ich nicht abhängig sein werde.“ Doch das ist nicht leicht. Seine Eltern fragen schon jetzt, ob er ihnen mit Kleinigkeiten helfen, ihnen also Geld geben kann. 

Die Regierung in Kenia hat ein Sozialsystem aufgebaut

Dennoch ist Kenia eines der wenigen Länder auf dem afrikanischen Kontinent, das ein Sozialsystem aufbaut, das die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft versorgen soll. „Inua Jamii“ heißt das Programm, das es seit 2018 gibt, Suaheli für „die Gemeinschaft stärken“. Jetzt hat jeder, der über 70 ist und nicht für die Regierung gearbeitet hat, ein Recht auf 2000 Kenianische Schilling im Monat, umgerechnet etwa 15 Euro. Rund 800.000 ältere Menschen sind registriert, außerdem 200.000 Waisenkinder und Menschen mit Behinderung, die auch über das Programm unterstützt werden. Wer registriert ist, profitiert auch von einer grundlegenden Krankenversicherung, die in der Realität allerdings nur sehr beschränkt für Kosten aufkommt. Die Regierung erklärte im August, sie wolle bis Ende des Jahres etwa doppelt so viele Menschen für das Programm registrieren. 

Der Boden in Wambua Kasuvas Hütte ist noch nass, denn in der vergangenen Nacht ist der Regen durchgeflossen. Auch er bekommt jeden Monat 2000 Schilling. Doch die reichen nicht einmal, um die Miete des kleinen Raums in Kibera zu bezahlen, in dem er seit mehr als 40 Jahren mit seiner Frau und einer wechselnden Anzahl an Enkeln und Urenkeln lebt. „Guck der Herd, den hat Agnes gebracht“, sagt Kasuva. Agnes Kariuki ist Meisterin im Beschaffen und Verteilen, egal ob Essen, Kochplatten, Matratzen oder Gehhilfen. Damit das Wohlergehen der Senioren in Zukunft weniger vom Einsatz von Menschen wie Agnes Kariuki abhängt, muss sich etwas am System ändern.

Eine Rentenversicherung oder private Altersvorsorge haben in Kenia nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Nur wer für die Regierung gearbeitet hat oder lange bei einer Firma angestellt war, die für ihre Mitarbeiter vorgesorgt hat, bekommt eine Pension. Die meisten sorgen für das Alter vor, indem sie in ihrem Heimatdorf ein Haus bauen und ein Feld anlegen, auf dem sie Mais, Bohnen und Gemüse anpflanzen. Und dann gibt es im Idealfall Familie, die sich kümmert. „Kinder, Enkelkinder, wer hat, schickt Geld“, sagt Jeremiah Onyango. Seine Großmutter und Urgroßmutter leben im Westen des Landes. Im Slum Kibera gibt es einige, die ein Stück Land besitzen – aber kein Geld haben, um sich dort ein Haus zu bauen und dahin umzuziehen.

Staatliche Altenheime gibt es in Kenia nicht

In der Hauptstadt Nairobi und an der Küste gibt es ein paar Luxus-Seniorenresidenzen. Wer Geld hat, wird hier bestens versorgt. Mindestens 800 Euro im Monat kostet ein Platz. Zum Vergleich: Das durchschnittliche Einkommen der arbeitenden Bevölkerung in Kenia liegt bei etwa 150 Euro. So etwas wie staatliche Altenheime gibt es nicht, wohl aber ein paar spendenbasierte Einrichtungen, sie werden oft von Kirchen betrieben. Eine Recherche des britischen Senders BBC hat im April 2023 gezeigt, dass die Bewohner in einem dieser Heime weder genug zu essen noch eine adäquate Gesundheitsversorgung bekamen. Videoaufnahmen mit versteckter Kamera zeigen, wie eine alte Frau geschlagen wird.

Agnes Kariuki macht das wütend. „Das darf einfach nicht sein, auch alte Menschen haben ein Recht auf ein würdiges Leben.“ Sie zeigt auf ihrem Handy Fotos von ihren Eltern, die sie gerade besucht hat. Die leben auf dem Land in der Region Murang‘a, etwa hundert Kilometer von Nairobi entfernt. Gerade ihr Vater, der wohl schon über hundert Jahre alt ist, geboren zu einer Zeit, in der Geburten noch nicht genau registriert wurden, braucht viel Hilfe, erzählt Agnes. Gemeinsam mit ihren Geschwistern hat sie eine Helferin eingestellt, die den Eltern zur Hand geht und sie versorgt. Aber das geht nur, weil sie und die Geschwister sich die umgerechnet etwa 60 Euro im Monat leisten können. 

Agnes will noch viel erreichen  – vor allem politisch

Wenn Agnes Kariuki flotten Schrittes durch Kibera läuft, wird sie alle paar Meter angehalten. Ein älterer Mann tritt aus seinem Schneiderstand am Straßenrand. „Ich hab dich neulich im Fernsehen gesehen, Agnes.“ Da war sie gemeinsam mit Regierungspolitikern unterwegs, um sie auf die dramatische Lage aufmerksam zu machen. „Meine Senioren sind überall“, sagt Kariuki. Und sie ist immer im Einsatz für die betagten Männer und Frauen. Sie kennt jeden Winkel von Kibera. Jeden Donnerstag besucht sie die Gruppenmitglieder, die bettlägerig sind. Sie bringt ihnen gemeinsam mit ihrem Team von Freiwilligen Reis, Maismehl, Zucker und Milch. Auch Jeremiah Onyango hilft beim Tragen.

Agnes Kariuki ist selbst schon Mitte 60. Aber bei ihr ist an aufhören nicht zu denken. Vor allem politisch will sie noch viel erreichen. Wenn es nach ihr geht, dann sollte die monatliche Unterstützung schnellstens auf 5000 Schilling angehoben werden und auch für alle ab 65 Jahren verfügbar sein. „Wir wollen bessere Gesetze, auf die wir die Regierung dann verklagen können, wenn es sein muss“, sagt Agnes Kariuki.

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Ein sehr schöner, vorallem informativer Artikel, den ich sogleich an Mitglieder unseres journalistischen Netzes ( www.journalistenhelfen.org )weitergeleitet habe. Über die Lebenssituaion von älteren und alten Afrikanerinnen* wissen wir hier im 'globalen Norden' viel zu wenig.
Carl Wilhelm Macke ( JhJ, Basislager, Muenchen )

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erschienen in Ausgabe 6 / 2023: Von Jung zu Alt
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