Tibet wird zum Themenpark

Eine han-chinesische Touristin vor einem Laden mit goldfarbenen Gebetsmühlen, verkleidet als tibetische Pilgerin. Sie trägt traditionell wirkenden Schmuck, einen roten Schal um Kopf und Schultern und ein Kostüm, das tibetischer Tracht nachempfunden ist.  Rechts im Bild ein Fotograf in Rückenansicht, der sie fotografiert.
Judith Hertog
Buddhistin für ein Erinnerungsfoto: Eine han-chinesische Touristin lässt sich 2019 in Lhasa als tibetische Pilgerin ablichten.
Tourismus in Tibet
Viele Millionen Han-Chinesen besuchen heute Tibet auf der Suche nach Ruhe, Natur oder Spiritualität. Chinas Regierung fördert diesen Tourismus, um ihre Kontrolle über das Gebiet zu festigen.

Eine junge Frau in einem kunstvollen Brokatkleid blickt auf den Jokhang-Tempel, die älteste und heiligste Pilgerstätte in der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Um sie herum sind viele Menschen in farbenprächtigen Gewändern versammelt. Frauen mit geflochtenen Haaren drehen handbetriebene Gebetsmühlen. Paare in zueinander passenden traditionellen Chuba-Roben schauen sich verliebt in die Augen. Männer in pelzgefütterten Nomadenmänteln schreiten durch die Gassen, Schwerter an die Seite geschnallt – scheinbar Relikte einer idyllischen Vergangenheit.

Doch bei näherem Hinsehen zeigen sich Risse in der Fassade. Der Schmuck ist nachgemacht. Die Zöpfe sind Haarverlängerungen. Die Chubas sind nur gemietet. Und viele Frauen drehen ihre Gebetsmühlen falsch herum. Die junge Frau im Brokatkleid ist in Wirklichkeit keine Pilgerin, sondern eine chinesische Touristin, die für einen professionellen Fotografen posiert. Während sie ihr Gesicht für das perfekte Foto in Position bringt, läuft ein echter Pilger ungehalten durchs Bild und funkelt wütend die Menschen an, die ihm den Weg zum Gebet versperren.

Der Staat zeigt in Tibet seine Macht: Polizisten in Lhasa 2019, hinten zwei Touristinnen.

Seit der chinesischen Invasion Tibets im Jahr 1950 haben sich Tibeter gegen die Eingliederung in das kommunistische China gewehrt. Bis Anfang der 1960er Jahre kämpften tibetische Guerillas gegen die Volksbefreiungsarmee, und auch nach der militärischen Niederlage stand die überwältigende Mehrheit weiter zu ihrem ehemaligen politischen Führer, dem Dalai Lama, der 1959 ins indische Exil geflohen ist. Um Widerspruch zu unterdrücken, unterhält Peking seither eine starke Militärpräsenz in Tibet. Die Zahl der chinesischen Zivilisten in der Region hielt sich aber in den ersten Jahrzehnten nach der Annexion in Grenzen. Die meisten chinesischen Arbeitskräfte empfanden es als Härte, in Tibet eingesetzt zu werden, einer dünn besiedelten, kulturell andersartigen Region hinter gewaltigen Gebirgsketten. Nur mit besonderen Vergünstigungen konnten sie dazu gebracht werden, dort hinzugehen.

Lange Zeit galt Tibet unter der Mehrheitsbevölkerung der Han-Chinesen als abgelegenes, rückständiges Land, das China seine Befreiung von der feudalen Theokratie verdankte. In den vergangenen Jahren jedoch hat sich diese Sichtweise gewandelt. Nachdem Peking jahrzehntelang versucht hat, sich das einst unabhängige Land gewaltsam untertan zu machen, könnte es nun einen Weg gefunden haben, Tibet tatsächlich zu einem untrennbaren Teil der chinesischen Nation zu machen: nämlich den, Tibet in ein Tourismusziel zu verwandeln.

Tourismus als „strategische Säule“ der nationalen Wirtschaft

Massenhafte Reisen nach Tibet wurden erst 2006 mit der Fertigstellung einer Eisenbahnlinie nach Lhasa möglich. Dasselbe Jahr erklärten die chinesischen Behörden auch zum „Jahr des ländlichen Tourismus“, der Wohlstand in verarmte ländliche Regionen wie Tibet bringen sollte. Drei Jahre später wurde der Tourismus zu einer „strategischen Säule“ der nationalen Wirtschaft aufgewertet und wächst seitdem rasant.

Allein im Jahr 2023 sollen mehr als 55 Millionen Touristen Tibet besucht haben, das ist mehr als das 15-fache der tibetischen Bevölkerung. Der jüngste Fünfjahresplan der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) für die Region sieht vor, den Tourismus noch weiter auszubauen. Die in China vorherrschende Vorstellung von Tibet ist nun, es sei das spirituelle und ökologische Herz des gesamten Landes – auch wenn viele Menschen in Tibet nach wie vor gegen die chinesische Präsenz sind und Selbstverwaltung anstreben.

Urlauber drehen 2023 in Shangri-La City eine riesige Gebetsmühle – beschriftet nicht mit buddhistischen Mantras, sondern mit ins Tibetische übersetzten Aussprüchen von kommunistischen Führern.

Die Forscherin Emily Yeh von der Universität von Colorado Boulder in den USA beschreibt mit dem Begriff „Shangrilazation“, wie Tibets Kultur und Landschaft für chinesische Bedürfnisse kommerzialisiert wurden. Der Begriff ist von der Shangri-La-Tourismuszone angeregt, einer tibetisch besiedelten und an Tibet grenzenden Region im Norden der chinesischen Provinz Yunnan, die man in den frühen 2000er Jahren für die Entwicklung des Tourismus ausgewählt hatte. Die Bezirkshauptstadt, zuvor unter dem tibetischen Namen Gyalthang bekannt, wurde in Shangri-La City umbenannt, nachdem der Roman „Lost Horizon“ des britischen Schriftstellers James Hilton aus dem Jahr 1933, aus dem der Name stammt, große Popularität erlangt hatte. Tibet wird darin als zeitlose Utopie verklärt. 

Autorin

Judith Hertog

ist Journalistin, Autorin und Fotografin in Vermont (USA) und schreibt zurzeit ein Buch über Tibet. Der Artikel ist zuerst englisch in der Zeitschrift „Foreign Policy“ erschienen.

Von der unscheinbaren Provinzstadt zum Touristenparadies

In den folgenden zehn Jahren verwandelte sich Shangri-La City von einer unscheinbaren, vernachlässigten Provinzstadt in ein Touristenparadies. Als das ursprüngliche Stadtzentrum 2014 abgebrannt war, wurde eine künstliche Altstadt erbaut mit nachempfundenen Plätzen, kopfsteingepflasterten Gassen, altertümlich wirkenden buddhistischen Stupas und Bronzestatuen von Tibetern, die vermeintlich traditionellen Tätigkeiten wie Tanzen, Musizieren und Würfeln nachgehen. 

Das Projekt war ein großer Erfolg, Shangri-La City zieht heute jährlich Millionen von Touristen an. Es war so erfolgreich, dass Peking das Modell auf ganz Tibet übertrug und diese Region in eine Art Themenpark für die chinesische Nation verwandelte.

Große Teile des tibetischen Hochlandes – einst Weidegründe für Schafs- und Yakherden – wurden als „Naturschutzgebiete“ eingezäunt und die ursprünglichen Bewohner vertrieben. Tunnel und Schnellstraßen durchschneiden nun einst unwegsame Gebirgszüge. Sie werden als „landschaftlich reizvolle Strecken“ beworben und locken jährlich Millionen chinesischer Autofahrer an. Entlang dieser Routen sind „malerische Ortschaften“ aus dem Boden gestampft worden, um „traditionelle“ tibetische Kultur und Handwerkskunst zu zeigen. Klöster wurden als Touristenattraktionen restauriert und unechte Nomadenlager als Fotomotive entlang der Verkehrsachsen aufgebaut.

„Manchmal möchte ich einfach jemand anderes sein“

Für Chinas überlastete und wirtschaftlich verunsicherte Mittelschicht aus den überfüllten und verschmutzten Küstenstädten bietet Tibet den Reiz unberührter Natur und eines langsameren Lebensrhythmus, wo die Menschen ihr Land und ihre Weisheit gerne mit Besuchern aus dem „Mutterland“ teilen. Es ist ein Reiseziel für Touristen – fast ausschließlich Chinesen, da Reisen nach Tibet für Ausländer beschränkt sind. Sie kommen her, um Ausflüge zu machen, zu fotografieren, zu pilgern und Abenteuer in der Natur zu erleben.

In der neu erbauten Altstadt von Shangri-La treffe ich Jing Zheng, eine Grafikdesignerin aus Hang­zhou, die den letzten Abend ihres Urlaubs in einem Thangka-Workshop verbringt, um traditionelle tibetische Maltechniken zu erlernen. Sorgfältig zeichnet sie die Linien einer stilisierten Lotusblüte nach; noch immer ist sie in dem farbenfrohen Kleid, das sie beim Fotoshooting am Nachmittag getragen hat, und hat Glitzer und winzige Plastikblumen auf dem Gesicht.

„Manchmal möchte ich einfach jemand anderes sein“, sagt sie, als ich sie frage, warum sie sich so verkleide. Sie beklagt sich, das Leben in Hangzhou sei stressig und wettbewerbsorientiert. „Aber heute bin ich Drolma“, sagt sie, „ein tibetisches Mädchen, das frei und fröhlich ist und ohne Sorgen lebt.“

Spirituell Kraft schöpfen

Ein wichtiger Teil der Anziehungskraft Tibets auf städtische Chinesen ist spiritueller Art. Die kommunistische Ideologie hat ihren Glanz verloren und die jahrzehntelange religionsfeindliche Politik ein spirituelles Vakuum geschaffen hat; nun erwarten viele Han-Chinesen, dass der tibetische Buddhismus ihnen eine reine Weisheit bietet, die es anderswo nicht mehr gibt.

In Daocheng in der autonomen tibetischen Präfektur Ganzi habe ich Xiao Liu getroffen, einen Unternehmer aus der Küstenstadt Shenzhen. Daocheng war bis Anfang der 2000er Jahre ein abgelegenes Nomadendorf ohne befestigte Straßen; doch als 2013 hier in großer Höhe ein Flughafen eröffnet wurde, wurde es von Touristen regelrecht überschwemmt.

Xiao ist einer der vielen, die in dieses landschaftlich reizvolle Gebiet kommen, um spirituell Kraft zu schöpfen. Zurück in Shenzhen, wo er gerade eine stressige Phase bei der Arbeit durchmachte, erzählte er mir, dass er in der Hoffnung auf etwas Seelenfrieden spontan nach Daocheng gereist sei. Er hatte vor, Mönche eines örtlichen Klosters zu besuchen und sie zu fragen, ob sie ihm helfen könnten, zu innerer Klarheit zu finden. „Die Tibeter sind so weise und rein“, sagt er.

Ruhe und Weite in Chinas ­Westen: Das rote Grasland im tibetisch besiedelten Teil der Provinz Sichuan lockt Touristen aus den Küsten­städten an.

In den meisten Ländern ist Tourismusförderung nicht weiter bemerkenswert – eine Routineaufgabe von Regierungen, die hoffen, damit die Wirtschaft ihres Landes anzukurbeln und ihr kulturelles Erbe zu teilen. Doch hinter Pekings gigantischen Investitionen in den Tourismus in Tibet kommt eine hässliche politische Absicht zum Vorschein – und sie verraten viel über die nationalen Ambitionen des chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Offiziell gibt Peking vor, das traditionelle Kulturerbe und die Umwelt Tibets schützen zu wollen. Doch in der Praxis sind Land, Sprache und Tradition der Tibeter bedroht.

Romantisierung und Vertreibung

„Die tibetische Kultur wird als rein, spirituell und naturverbunden romantisiert“, sagt Emily Yeh. „Aber gleichzeitig werden die Tibeter aus der Gegend vertrieben, weil das tibetische Hochland als ökologische Ressource dienen soll: Es soll die chinesische Nation mit sauberem Wasser und sauberer Luft versorgen.“

Während Nomaden zwangsumgesiedelt werden, sind mindestens 800.000 tibetische Kinder in chinesische Internate gesteckt worden. Die tibetische Sprache wird vom Chinesischen verdrängt. Klöster werden gezwungen, einen „sinisierten Buddhismus“ zu lehren. Und Tibeter, die sich für den Erhalt ihrer Kultur und Sprache einsetzen, werden verhaftet unter dem Verdacht, Separatismus zu fördern.

In ihrem Plan für die Entwicklung des Tourismus in Tibet bis 2022 betont die kommunistische Partei, dass der Tourismus zur Förderung des „Xi Jinping-Gedankenguts“ und von „Patriotismus und ethnischer Einheit“ genutzt werden soll. Laut dieser Hochglanzvision des Shangri-La-Tourismus bestätigen die Großartigkeit des Landes und die Dankbarkeit der Tibeter, die zu Wohlstand kommen, dass „die chinesische Nation eine Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft ist und alle ethnischen Gruppen ein untrennbarer Teil der chinesischen Nation sind“.

Prinzessin Wencheng als Touristenattraktion

Zu diesem Zweck sponsern die Behörden „rote“ Sehenswürdigkeiten, die mit der „Befreiung“ Tibets durch die Rote Armee 1950 zu tun haben. Sie haben auch die offizielle Geschichtsschreibung, die in den Schulen gelehrt und an touristischen Stätten bestärkt wird, sorgfältig ausgearbeitet. Danach war Tibet immer schon Teil der chinesischen Nation, und die Tibeter sind ihren han-chinesischen Genossen gegenüber dankbar. Reiseführer werden überwacht, um sicherzustellen, dass sie patriotisch sind und das richtige Bild vermitteln.

Eine der am meisten beworbenen Touristenattraktionen in Lhasa, die als „Muss“ für jeden Besucher angepriesen wird, ist ein von der Regierung subventioniertes Musikspektakel. Es erzählt die Geschichte der chinesischen Prinzessin Wencheng, die im siebten Jahrhundert einen mächtigen tibetischen König heiratete. In Wirklichkeit war sie eine Nebenfigur der tibetischen Geschichte: eine von mehreren Frauen, die der König aus diplomatischen Gründen heiratete, zu einer Zeit, als das tibetische Reich so mächtig war, dass es kurzzeitig Teile Chinas eroberte. Die chinesische Propaganda hat diese Geschichte auf den Kopf gestellt und behauptet ohne jede Beweise, Prinzessin Wencheng habe die Landwirtschaft, den Buddhismus und die Zivilisation nach Tibet gebracht; die Annexion der Region durch China sei somit gerechtfertigt. Nach Angaben der staatlichen Medien haben mehr als drei Millionen Touristen diese Show seit ihrer Premiere im Jahr 2013 besucht.

Trotz der Bemühungen der kommunistischen Partei, die Tibeter zu patriotischen chinesischen Bürgern zu machen, flammen immer wieder Proteste auf. Seit den weit verbreiteten Unruhen in den Jahren 2008 und 2009, die von der verstärkten chinesischen Präsenz in Tibet und dem Gefühl der Marginalisierung der Einheimischen ausgelöst wurden, haben sich 159 Tibeter selbst verbrannt aus Protest gegen die Regierungspolitik, die Aktivisten als kulturellen Völkermord bezeichnen. Inzwischen wurden strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um regimekritische Meinungen zu unterdrücken. Tibeter, die nicht in Lhasa leben, benötigen eine Sondergenehmigung, um die Stadt zu betreten. An zahlreichen Kontrollpunkten müssen Passanten ihre Ausweise scannen lassen und werden nach Waffen und entflammbarem Material durchsucht. Dennoch hat sich 2022 der junge tibetische Popstar Tsewang Norbu vor dem Potala-Palast in Lhasa selbst angezündet und dabei „Free Tibet“ gesungen.

Erbost über die Touristen

In offiziellen Plänen heißt es, der Tourismus werde Tibet stabilisieren und es den Bauern und Hirten ermöglichen, ihre traditionelle Lebensweise aufzugeben und „den Weg zum Wohlstand einzuschlagen“. Tatsächlich haben einige Tibeter vom Tourismusboom profitiert. Sie haben Restaurants, Trachtenläden und Hotels eröffnet oder andere Möglichkeiten gefunden, vom Tourismus zu leben, der nach Regierungsangaben inzwischen mehr als ein Drittel der tibetischen Wirtschaft ausmacht.

Doch viele sind erbost über die Touristen. Dauwa, eine Tibeterin, die in einem Café in Litang kellnert, beschwert sich bei mir, dass die meisten Besucher, die Tibeter spielen, gar kein Interesse an dessen wahrer Kultur hätten. Sie deutet auf einige Touristen, die vor dem Café in nachgemachten grellbunten tibetischen Kostümen für Fotos posierten. „So hässlich“, flüstert sie mir zu.

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

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