Ab acht Uhr morgens steht Loubabatou Sana jeden Tag mit ihrem Fahrrad am Rand der zweispurigen Ausfallstraße vom Zentrum Ouagadougous Richtung Norden. Auf dem Gepäckträger ist mit Gummibändern aus alten Fahrradschläuchen eine große Blechschüssel festgezurrt, aus der gekochte, gelblich-braune Wurzeln ragen. Sie stammen von Palmyra-Palmen aus dem Grenzgebiet zu Togo und sind mit ihrem bitteren Geschmack ein beliebter Snack. Ab September, nach der Regenzeit, graben dort Dorffrauen die jungen Schösslinge aus. Zweimal pro Woche gibt ihre jüngere Schwester, die in der Region wohnt, die Ernte einem Fahrer mit. In der Hauptstadt holt Loubabatou die Wurzeln am Busbahnhof ab und kocht sie zu Hause im Innenhof.
Es ist hart, jeden Tag dem Lärm, der Sonne und dem Staub ausgesetzt zu sein. „Aber es ist besser, selbstständig zu arbeiten als für jemand anderen“, sagt die Händlerin mit ihrer rauchigen, kräftigen Stimme. „Vorher habe ich lange für eine Fischhändlerin gearbeitet. Um vier Uhr morgens habe ich mit dem Räuchern begonnen und mittags aufgehört. Dafür habe ich pro Tag 1000 Francs CFA (etwa 1,50 Euro) bekommen. Nun verdiene ich an einem Tag dreimal so viel.“
Der Mann trägt zum Lebensunterhalt nichts bei
Mit ihrem Einkommen versorgt die 37-Jährige, die nie zur Schule gegangen ist, ihre zwei Kinder und zahlt die Behandlungskosten ihrer chronisch kranken Mutter. Ihr Mann trägt nichts dazu bei. „Ich weiß nicht, was er verdient und den ganzen Tag macht. Würde ich fragen, bekäme ich keine Antwort“, beschreibt sie nüchtern ihre Situation. „Manchmal gebe ich ihm Geld wegen der Kinder. Sie sollen nicht wissen, dass ihr Vater nichts nach Hause bringt.“
Fragt man sie nach ihrem Traum, denkt die Unternehmerin nicht lange nach: „Wenn Gott mir Geld gibt, würde ich eine kleine Parzelle kaufen, selbst die Lehmziegel machen, ein Haus bauen und mit meinen Kindern dort einziehen.“ Ihr Mann kommt in diesem Szenario nicht vor.
Wie die Mehrheit der Bevölkerung Burkina Fasos verdient Loubabatou Sana ihren Lebensunterhalt in der informellen Wirtschaft. Laut Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeiten mindestens 70 Prozent der Erwerbstätigen in Westafrika informell, das heißt, sie sind nicht versichert, haben keinen arbeitsrechtlichen Schutz und ihr Unternehmen ist nicht registriert. Meist haben sie für ihre Tätigkeit keine Ausbildung.
Informell – ein Begriff mit abwertendem Beigeschmack
Darüber hinaus gibt es keine einheitliche Definition des informellen Sektors, obwohl der Begriff seit den 1970er Jahren verwendet wird. Er hat einen abwertenden Beigeschmack, wird mit beliebig, gelegentlich und unprofessionell assoziiert. In ihrer Dissertation über den informellen Sektor in Senegal zeigt die Ethnologin Sigrid Awart, dass dies der Realität nicht gerecht wird: Informelle Arbeit ist durchaus geregelt, strukturiert und folgt strategischen Überlegungen. So hat die Palmwurzelverkäuferin ihren Standplatz bewusst gewählt: „Die Straße hier verläuft entlang eines Waldes. Und ich verkaufe ein Produkt, das aus dem Wald kommt“, erklärt sie ihre Marketingstrategie mit stolzem Lächeln.
Autorin
Elisabeth Förg
ist freie Journalistin in Tirol und Expertin für internationale Entwicklung mit den Schwerpunkten Westafrika, Soziales und Ernährungssicherung. Ihre Recherchereise wurde vom Museum der Völker in Schwaz (Tirol) finanziert.Wesentlich für informelles Wirtschaften sind persönliche Beziehungen und eine Kultur des Vertrauens. Über ein soziales Netzwerk ist Mark, der seinen Nachnamen nicht nennen will, aus dem Süden Ghanas zu seinem Job in der burkinischen Hauptstadt gekommen. Die Ausbildung in Elektrotechnik hatte er abbrechen müssen, um auf dem elterlichen Hof bei der Feldarbeit zu helfen. Für eine Familie reichte das Einkommen aber nicht.
Migration schien ihm der einzige Ausweg: „Ich kannte Leute in meiner Region, die bereits in Burkina Faso arbeiteten. Mit ihnen bin ich nach Ouagadougou gefahren und wir haben gemeinsam ein Haus gemietet. Erst dort habe ich erfahren, dass sie als mobile Schneider arbeiteten. Sie nahmen mich mit auf ihre Touren durch die Stadt und zeigten mir, wie es ging. Nach einer Woche haben sie für mich eine Nähmaschine gemietet. Die ersten Tage ließen sie mich nur eine kleine Runde machen, damit ich die Orientierung nicht verlor“, schildert Mark seinen Werdegang.
Mark flickt alle Arten Kleider und näht Knöpfe an
Seit über zwanzig Jahren zieht er durch die staubigen Straßen der Stadt. Mit der linken Hand stützt er seine handgetriebene Nähmaschine auf den Schultern ab, in der rechten Hand klappert er mit einer großen Schneiderschere und bietet so seine Dienste an. Er flickt alles, Kleider, Hosen, Taschen, Decken, macht Oberteile enger und weiter, kürzt und verlängert Röcke, näht Knöpfe an und tauscht Reißverschlüsse aus. Auch Kinderkleider kann er nähen.
„Anfangs war es schwierig. Ich musste mir aus der Not heraus alles selbst beibringen. Heute bin ich professionell“, sagt der Flickschneider voll Stolz. „Ich habe Stammkunden, die mich anrufen, und komme zu ihnen ins Haus. Manchmal fragen mich sogar Schneider mit einer Werkstatt, ob ich bei ihnen aushelfe.“
Mit dem „unwürdigen“ Job ernährt Mark seine Familie in Ghana
Als er das erste Mal seine Familie in Ghana besuchte, vereinbarten sie, geheim zu halten, wie er sein Geld verdiente. „In Ghana könnte ich diese Arbeit nicht machen“, sagt der 50-Jährige mit Nachdruck, „denn das ist kein respektabler Job. Auch in Burkina Faso haben sie keinen Respekt vor dir. Niemand in meinem Dorf weiß davon, niemand!“ Dabei ernährt er mit dem Geld, das er in diesem „unwürdigen“ Job verdient, seit über zwei Jahrzehnten seine Familie; die zwei älteren Söhne studieren in Ghana an der Universität. Am Ende des ersten Besuches übergab ihm sein Vater ein Familienerbstück, die alte Singer-Nähmaschine seines Großvaters. Seitdem muss er keine Maschine mehr mieten.
An einem sehr guten Tag verdient Mark umgerechnet 15 Euro, an schlechteren nur rund 6 Euro. Von Montag bis Samstag geht er morgens außer Haus und hört auf, wenn er müde ist. Seine Ausgaben sind gering. Die Monatsmiete beläuft sich auf umgerechnet rund 23 Euro, für seine Verpflegung rechnet er 1,50 Euro pro Tag. In einer Bar etwas trinken, das mache er nie. So bleibt genügend übrig, um regelmäßig Geld an die Familie zu schicken.
Also abgesehen vom schlechten Ansehen kein schlechter Job? „Nein“, antwortet der Schneider sofort. „Ich mag diese Arbeit nicht, aber es gibt keine andere für mich. Vielleicht gehe ich zum Jahresende endgültig zurück nach Ghana. Mein Vater hat mir ein Stück Land in unserem Dorf gegeben. Dort möchte ich eine Hühnerfarm gründen, falls mein Geld für die Investitionen reicht.“
Die Gemüsehändlerin träumt von einem Leben als Vermieterin
Auch die Händlerin Salimata Ouédraogo, die täglich ihren Obst- und Gemüsestand vor der Internationalen Schule in Ouagadougou aufbaut, hat einen Traum. Sie möchte ein Célibatorium bauen, ein Gebäude mit Ein-Zimmer-Wohnungen für unverheiratete junge Männer. „Ich könnte mich dann zur Ruhe setzen und würde nur einmal im Monat die Miete kassieren“, sagt die groß gewachsene Frau und fügt lachend hinzu: „Zu Hause bin ich ja schon in Rente.“ Das bedeutet, dass ihr Mann sie nachts nicht mehr besucht. Sie ist die erste der drei Frauen ihres Mannes. Alle wohnen im gleichen Hof, jede Frau in ihrem eigenen Haus, die Kinder wachsen gemeinsam auf. Als Älteste kümmert sie sich nur mehr um ihre Enkel, die auch in ihrem Haus schlafen.
Wie alt sie ist, weiß Salimata Ouédraogo nicht, sicher über 50 Jahre, vielleicht 60. Als junge Ehefrau ist sie ihrem Mann in die Côte d’Ivoire gefolgt und hat dort mit Getreide gehandelt. Nachdem sie fünf ihrer acht Kinder geboren hatte, sind sie zurückgekehrt, weil in Burkina Faso die Schulen besser seien. Es war ihr wichtig, dass alle Kinder zur Schule gehen, eine Tochter hat sogar studiert. „Ich bin nicht zur Schule gegangen, keinen einzigen Tag. Schon als Kind half ich meiner Mutter beim Verkauf von Obst und Gemüse. Wir gingen durch die Wohnviertel mit dem Tablett auf dem Kopf. Alles, was ich gelernt habe, habe ich auf der Straße gelernt“, schildert sie ihre Laufbahn.
Zurück in Ouagadougou begann sie wieder, ihrer Mutter beim Verkauf zu helfen. Gemeinsam organisierten sie sich den festen Standplatz in dem bei Ausländern beliebten Wohnviertel Zone du bois. Dass die Straßenhändlerin hier täglich steht, ist von der Stadtverwaltung geduldet. Ein offizieller Standplatz wäre auf einer ausgewiesenen Marktfläche möglich, aber nicht auf dem Gehsteig vor einer Schule. Dafür zahlt sie eine informelle Steuer. „Es kommen regelmäßig Leute von der Gemeinde vorbei und kassieren eine Standgebühr ohne Beleg. Wenn du nicht zahlst, nehmen sie dir einfach deine Waren weg. Ich gebe ihnen 20.000 CFA“, rund 30 Euro, „dann lassen sie mich eine Zeit lang in Ruhe“, sagt sie verärgert. Würde sie sich beschweren, verlöre sie ihren Platz. Auf die Frage, ob der Staat nicht Aufgaben gegenüber Bürgerinnen und Bürgern erfüllen sollte, antwortet sie mit einem ungläubigen Blick.
Im Gegensatz zu Salimata Ouédraogo hat Suzanne Kaboré einen nicht traditionellen Beruf gewählt: Sie ist Designerin und die erste Schweißerin in Ouagadougou. In ihrem Open-Air-Atelier „Suzy Creation“ produziert sie Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände aus neuen und gebrauchten Materialien wie Untersetzer und Tabletts. Ein besonders typisches Designer-Stück von ihr ist ein Sessel aus einem bauchigen Kochtopf, wie er in Großfamilien zum Einsatz kommt. Sitzfläche und Rückenlehne sind verkehrt herum aufgesetzte Kochdeckel, für die Sesselfüße verwendet sie Spitzhacken. „Mit diesem Werkzeug bearbeiten wir den Acker, sie repräsentieren unsere Kultur, die Landwirtschaft. Sie ist die Grundlage unseres Lebens. Darüber, im Kochtopf, findet die Transformation statt“, erklärt die 30-Jährige ihren künstlerischen Zugang.
Funkenspritzer können Suzanne Kaboré nicht schrecken
Bei ihrer Arbeit trägt sie Flip-Flops, Hose und ein kurzärmeliges T-Shirt. Keine Schutzkleidung, keine Handschuhe, nur eine Sonnenbrille? „Ja, ich weiß …“, sagt sie und schiebt die Besorgnis mit einem kräftigen Lachen weg. Sie hat in ihren jungen Jahren größere Schwierigkeiten überlebt als ein paar Funkenspritzer auf der nackten Haut: Als Suzy neun Monate alt war, starb ihre Mutter, der Vater dann, als sie fünf war. Ein Onkel in der Hauptstadt nahm sie zu sich. Über die folgenden zwölf Jahre sagt sie nur: „Ich bin nicht zur Schule gegangen. Es war schwer, sehr schwer.“ Sie stockt und schaut vor sich auf den Boden. „Das ist so hier, da kannst du nichts machen. Du kannst nur entscheiden, für dein Überleben zu kämpfen, und dafür habe ich mich entschieden.“
Der Wendepunkt in ihrem Leben kam mit siebzehn, als sie über eine Freundin das Kunsthandwerkszentrum Lukaré kennenlernte. Die dort arbeitenden Künstlerinnen und Künstler konzentrieren sich auf nachhaltiges Design durch Upcycling und bieten jungen Talenten informelle Ausbildungen an. Acht Jahre lang hat Suzanne dort Schweißen gelernt. Als einzige Frau in einer traditionellen Männerdomäne war es nicht leicht. „Die einen sagen, du musst das Handwerk wechseln, du kannst davon nicht leben. Die anderen geben dir nur einfache Sachen zum Schweißen, weil du ein Mädchen bist“, beschreibt sie ihre Lehrzeit. „Doch ich habe mich nicht entmutigen lassen. Als Frau musst du immer kämpfen, um anerkannt zu werden.“
Der Wunsch nach einem besseren Leben hat Pierre Tandamba aus dem Osten Burkina Fasos in die Hauptstadt getrieben. Migration ist in der Sahara-Sahel-Region ein traditionelles Mittel der Existenzsicherung. Teil dieser Migrationskultur ist das „S’aventurer“, sich auf Abenteuer begeben, sein Glück in der Ferne suchen. Besonders bei jungen Männern gehört es zum Erwachsenwerden, aufzubrechen, Gefahren zu überwinden und idealerweise mit Geld in der Tasche zurückzukehren.
Der 22-Jährige ist vor drei Jahren beim Abitur durchgefallen, erzählt er. „Da habe ich mich mit meinen älteren Brüdern beraten und entschieden, was anderes zu machen, auch wenn ich auf der Straße schlafen muss. Auch wenn du in unserem Land ein Diplom hast, ist nicht garantiert, dass du eine Arbeit findest.“ Pierre verkauft Mobiltelefone auf der Straße. „Sie sind meine Passion“, sagt er. „Einer meiner Onkel war schon in diesem Metier, so konnte ich in dieses Business einsteigen. Du kannst heute nicht ohne Telefon leben, alle, auch die Armen, brauchen eines. Über das Telefon kann man wenigstens mit seiner Familie auf dem Land in Kontakt bleiben.“
Pierre Tandamba arbeitet bis tief in die Nacht
Pierre hat anfangs nur Telefonguthaben verkauft, dann auch Zubehör, Schutzhüllen, Kopfhörer und schließlich Telefone. „Meine Waren kaufe ich bei einem Großhändler“, sagt er. „Wir Straßenhändler helfen uns auch gegenseitig. Wenn du kein Geld hast, kann dir ein Kollege einige seiner Waren leihen und du bezahlst ihm den Einkaufspreis erst, wenn du sie verkauft hast. Kredit kann auch ein Großhändler gewähren, aber das macht er nur, wenn er dich gut kennt.“
Pierre arbeitet jeden Tag. „Manchmal gehe ich so lange quer durch die Stadt, dass ich zu weit von meiner Wohnung entfernt bin“, erzählt er. „Dann gehe ich in ein Lokal und versuche, den Gästen etwas zu verkaufen, bis der Laden schließt, oft nach Mitternacht. Dann suche ich mir einen versteckten Platz, zwischen Marktständen zum Beispiel, und schlafe ein bisschen im Hocken. Wenn um fünf Uhr die ersten Händler kommen, stehe ich auf und ziehe weiter. Es gibt Leute in Lokalen, die sagen abfällig: ,Geh weg, ich bin beim Essen!‘ Andere kaufen was, nur um dich zu ermutigen.“
Pierre sagt, er könne manchmal nicht einschlafen aus Sorge, wie es weitergeht. Sein großer Wunsch ist, ein eigenes Geschäft mit Schaufenster zu haben, statt mit der Ware herumgehen zu müssen. „Und noch mehr wünsche ich mir, dass ich dann jungen Leuten helfen kann, wie ich einer bin, die aus einem Dorf kommen und deren Eltern nicht lesen und schreiben können“, sagt er. „Sie sollen wissen: Auch wenn es im Land schlecht geht, es gibt immer eine Hoffnung.“
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