Das Recht auf Teilhabe an der Entwicklung ist eine Grundvoraussetzung für stabile und friedliche Gesellschaften. Allerdings ist echte Gleichheit vor allem für Frauen und marginalisierte Bevölkerungsgruppen weltweit oft nicht verwirklicht. Patriarchale Machtstrukturen unterwerfen Frauen und Mädchen nach wie vor; sie werden aufgrund ihres Geschlechts, Alters, ihrer Religion, ethnischen Zugehörigkeit oder Kaste diskriminiert.
Obwohl Geschlechtergleichstellung oberstes Ziel sowohl des indischen als auch des westlichen Feminismus ist, haben die besonderen historischen, kulturellen und soziopolitischen Hintergründe zu Unterschieden in feministischer Theorie und Praxis geführt.
Der westliche Feminismus setzt sich seit jeher für individuelle Rechte und die Gleichstellung der Geschlechter ein, etwa für das Wahlrecht von Frauen, die Gleichstellung am Arbeitsplatz oder auch für sexuelle Selbstbestimmung. Die ersten feministischen Bewegungen in Indien Mitte des 19. Jahrhunderts waren von westlichen Ideen beeinflusst, insbesondere in Bezug auf individuelle Rechte und Bildung. Der indische Feminismus ist stark geprägt von der Kolonialgeschichte und vielfältigen, sich überschneidenden sozialen Hierarchien wie dem Kastensystem, der Religion, der ethnischen Zugehörigkeit und sozioökonomischer Ungleichheit.
Die Idee von der Beziehung zwischen Materialismus und Spiritualismus
Historiker unterteilen die indische Frauenbewegung oft in drei Phasen: Die erste Phase konzentrierte sich auf soziale Reformen und die Bekämpfung diskriminierender Bräuche. In der zweiten Phase von 1915 bis zur Unabhängigkeit Indiens wurde die Frauenbewegung in die nationalistische Bewegung integriert, und in der dritten Phase nach der Unabhängigkeit griff die Bewegung Themen wie häusliche Gewalt und politische Gleichberechtigung auf.
In Indien werden Frauen im Allgemeinen nur in ihrer Rolle als Gebärende und als Hausfrau wahrgenommen, der die Pflege und Erziehung der Familie zugewiesen wird. Die Religion war der früheste Diener des Patriarchats; Männer schufen Mythen, die ihre Heldentaten und Überlegenheit romantisierten.
Autorin
Manjula Bharathy
ist Professorin am Zentrum für Stadtpolitik und Governance sowie Dekanin der School of Habitat Studies am Tata Institute of Social Sciences in Mumbai.Die britischen Kolonialherren, die Indien von 1858 bis 1947 regierten, verurteilten diese traditionellen und kulturellen Praktiken als unmenschlich und setzten sich für deren Abschaffung ein. Die Frage, was vom Westen übernommen und was vermieden werden sollte, brachte die Idee von der Beziehung zwischen Materialismus und Spiritualismus hervor. International anerkannte Denker wie Mahatma Gandhi, Vivekananda und Aurobindo beschäftigten sich sowohl mit materiellen als auch mit spirituellen Fragen, wobei sie den Materialismus oft als westliches Konzept darstellten.
Für das tägliche Leben unterschied der Politikwissenschaftler Partha Chatterjee entsprechend den Konzepten von Spiritualismus und Materialismus den sozialen Raum zwischen „ghar“ – privat, innerhalb des Hauses – und „bahir“ – öffentlich, außerhalb des Hauses. Männer müssen sich demnach in die materielle Welt begeben und Teil davon werden, um zu überleben, während es die Pflicht der Frauen ist, die Heiligkeit der Spiritualität zu bewahren und sich nicht von der materiellen Welt beeinflussen zu lassen.
Mehr „Hausfrauen“ zu berufstätigen Frauen machen
Dies legitimierte die Hausfrauenrolle indischer Frauen als soziokulturelle Praxis. Historisch und kulturell gesehen sollten indische Frauen ihrem Ehemann ergeben sein sowie Reinheit, Keuschheit und Treue verkörpern. Das einzige Ziel eines Mädchens ist es, zur Frau heranzuwachsen, zu heiraten und ihrem Ehemann und seiner Familie zu dienen. Deshalb hat sie von Geburt an weniger Rechte und weniger Anspruch auf Ressourcen und Teilhabe als ihre Brüder.
Die feministische Bewegung in Indien konzentriert sich daher darauf, mehr „Hausfrauen“ zu berufstätigen Frauen und ihre Stimmen hörbar zu machen sowie Rechte und Ressourcen einzufordern. Häusliche Gewalt, einschließlich Mitgiftmorde, Kindstötungen von Mädchen und Kinderheirat, sowie geschlechts-, kasten- und religionsbasierte Gewalt, Unterrepräsentation in Entscheidungsgremien und die Verbannung aus dem öffentlichen Raum sind die wichtigsten Geschlechterfragen in Indien.
Obwohl feministische Ideen in Indien weithin anerkannt sind, gibt es regionale und sozioökonomische Unterschiede in ihrer Anwendung und Akzeptanz. Indiens feministische Gruppen sind in die Kritik geraten, weil sie sich weitgehend auf die Probleme konzentrieren, mit denen Frauen aus der Mittelschicht, aus städtischen Gebieten und aus höheren Kasten konfrontiert sind. In ländlichen Gemeinden sind stark verwurzelte patriarchalische Bräuche und der begrenzte Zugang zu Ressourcen besondere Anforderungen, während städtische Gebiete tendenziell stärker für feministische Diskurse sensibilisiert sind. Für eine inklusive und wirksame feministische Bewegung in Indien ist es wichtig, die Verflechtung verschiedener Formen der Unterdrückung anzuerkennen.
Aktionsplan zum Klimawandel ohne geschlechtsspezifische Perspektive
Obwohl die Gleichstellung der Geschlechter in der indischen Verfassung ausdrücklich als Priorität anerkannt ist, werden geschlechtsspezifische Belange in der indischen Entwicklungspolitik nur wenig konsequent umgesetzt. So erwähnt etwa der Nationale Aktionsplan zum Klimawandel (NAPCC) aus dem Jahr 2008 in der Präambel, dass der Klimawandel aufgrund bereits bestehender Schwachstellen wie Ernährungsunsicherheit und mangelnder Gesundheitsinfrastruktur Kinder, Frauen und ältere Menschen unverhältnismäßig stark treffen könnte. Darüber hinaus geht der Plan jedoch kaum darauf ein, wie die Gefährdung von Frauen angegangen werden soll. Ihm fehlt eine geschlechtsspezifische Perspektive; er enthält weder geschlechtsspezifisch aufgeschlüsselte Daten noch maßgeschneiderte Programme für Frauen.
Die Programme des NAPCC werden oft von städtischen Eliten konzipiert, die nur begrenzt mit ländlichen Gemeinden in Kontakt stehen. Die Maßnahmen bevorzugen technische Effizienz gegenüber Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit und lassen das traditionelle Wissen von Frauen und ihre Erfahrungen außer Acht. Mit hegemonialen Ideen von „Fortschritt“ und „Entwicklung“ verfestigen Technokraten und Wissenschaftler ein Machtungleichgewicht, in dem Frauen als passive Nutznießerinnen und nicht als aktive Kräfte betrachtet werden. Das untergräbt ihre Widerstandsfähigkeit und macht sie zusätzlich verletzlich. Indem Frauen zudem als eine homogene Kategorie behandelt werden, verpasst der NAPCC die Gelegenheit zu untersuchen, wie Kaste, Klasse, Beruf, Alter oder Behinderung zusammenwirken und Verletzlichkeit verstärken.
Der Aktionsplan berücksichtigt auch nicht, wie sich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auf Verletzlichkeit als Folge des Klimawandels auswirkt. In Indien sind in erster Linie Frauen für unbezahlte Haus- und Pflegearbeit zuständig. Sie müssen Wasser beschaffen, das Essen zubereiten und sich um Pflegebedürftige kümmern. All das ist stark abhängig von Umwelt- und Klimaveränderungen. Der NAPCC ignoriert die Belastung, der Frauen in Krisenzeiten ausgesetzt sind, wenn sie den Haushalt führen, Ressourcen sichern und unter zunehmend widrigen Umweltbedingungen Fürsorge leisten müssen. Der Plan enthält folglich auch keine Strategien, wie diese Belastung verringert werden könnte, etwa durch verbesserte öffentliche Dienstleistungen oder soziale Sicherung.
Geschlechtergerechte Entwicklungspolitik in Kerala
Es gibt jedoch gute Beispiele für eine geschlechtergerechte Entwicklungspolitik, etwa im südlichen Bundesstaat Kerala. Dort wurden in den vergangenen Jahren in den Küstenregionen geschlechtsspezifische Landkarten erstellt sowie die Rechte von Frauen und die Widerstandsfähigkeit von Gemeinden gestärkt, die von Hochwasser bedroht sind.
Die Küstendörfer Zentralkeralas, insbesondere auf der Insel Vypin, sind das ganze Jahr über von schweren Überschwemmungen betroffen. Die Inselbevölkerung hat deshalb mit erheblichen Umwelt- und Gesundheitsproblemen zu kämpfen. Häuser stürzen ein, sanitäre Anlagen versagen und Lebensgrundlagen werden zerstört. Grubenlatrinen laufen über und Toiletten sind bei Flut nicht mehr funktionsfähig, was zu Gesundheitsrisiken führt.
Um diese Probleme zu bekämpfen, habe ich gemeinsam mit lokalen Organisationen und Unterstützung der US-Regierung ein Projekt für eine geschlechtersensible und rechtebasierte Anpassung an die Folgen des Klimawandels in der Region konzipiert und durchgeführt. Der Schwerpunkt lag auf der Beteiligung der lokalen Gemeinschaften und insbesondere von Frauen an Entscheidungen und an der Generierung von Wissen.
Frauen dokumentieren ihre Erfahrungen mit Hochwasser
Zu diesem Zweck wurden Frauen in sechsmonatigen Schulungen zu Gemeindeforscherinnen ausgebildet, so dass sie mit partizipativen Methoden die von Hochwasser betroffenen Gebiete kartieren und einen Überblick über vorhandene Ressourcen schaffen konnten. Diese geschlechtsspezifische „Gegenkartierung“ auf Nachbarschaftsebene diente als Grundlage für eine subversive Politik, die den expertenorientierten technischen Datensatz auf den Kopf stellte und ihn durch gemeinschaftlich und inklusiv erhobene Daten ersetzte.
Die Frauen wurden außerdem geschult, kurze Videos zu erstellen, in denen sie ihre Erfahrungen mit Hochwasser dokumentierten. Diese Filme dienen als wertvolle Daten für die Planung von Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und sensibilisieren gleichzeitig die Öffentlichkeit. Sie befördern eine geschlechtersensible Debatte über den Klimawandel und seine schädlichen Auswirkungen auf Wasser- und Sanitäranlagen, Verkehrs- und Gesundheitseinrichtungen, Wohnverhältnisse, Landwirtschaft, Fischerei und andere Lebensgrundlagen. In Anlehnung an die Traditionen von Augusto Boal und Badal Sircar wurden die Gemeinden zusätzlich angeregt, mit Hilfe von Theaterprojekten ihr soziales Bewusstsein zu stärken, was wiederum ihre Handlungsfähigkeit im Umgang mit dem Klimawandel erhöht hat.
Der partizipative Charakter dieser Aktivitäten befähigte die lokalen Gemeinschaften, sich der Risiken des Klimawandels stärker bewusst zu werden, sich besser darauf vorzubereiten und Prioritäten zu setzen und so besser auf Flutkatastrophen reagieren zu können. Eine Gruppe von Forschern aus den Dörfern wurde zu Trainern ausgebildet, die als Vermittler und Informationsbotschafter fungierten und als Gesprächspartner zwischen der Gemeinschaft, lokalen Selbstverwaltungsorganen, verschiedenen Behörden und gemeindebasierten Organisationen auftraten.
Frauennetzwerk für Klimaaktion
Auf politischer Ebene berieten sich die von Flutkatastrophen betroffenen lokalen Selbstverwaltungsorgane mit Vertretern des Planungsausschusses für den Distrikt (Ernakulam District Planning Committee). Das führte dazu, dass ein beträchtliches Budget für Sanierungsprojekte in den betroffenen Dörfern bereitgestellt wurde. Lokale Regierungsinstitutionen verabschiedeten Resolutionen und forderten, Überschwemmungen zu Katastrophen zu erklären, so dass die betroffenen Gemeinden staatliche Katastrophenschutzmittel erhalten können.
All das gipfelte in der Gründung eines Frauennetzwerks für Klimaaktion (Women in Climate Action Network, WiCAN) als gemeinsame Initiative, das Engagement für Gender und Klimaanpassung fortzusetzen. Das Projekt trug dazu bei, die lokalen Gemeinschaften zu organisieren und insbesondere die Frauen zu mobilisieren und zu qualifizieren. Es half, Kapazitäten aufzubauen und über institutionelle Verbindungen und strategische Partnerschaften staatliche Unterstützung einzuwerben.
Noch wichtiger ist, dass das Projekt erfolgreich einen gegenhegemonialen Prozess zur Stärkung der sozialen Resilienz von Frauen initiiert hat. Es ging darum, Basiswissen zu erfassen und lokale Ausdrucksformen hervorzuheben, um einen inklusiven Weg zu gendersensibler Entwicklung zu beschreiten – und zu zeigen, dass es in einer feministischen Entwicklungspolitik um Handlungsfähigkeit, Rechte, Ressourcen und Repräsentation von Frauen geht.
Aus dem Englischen von Tillmann Elliesen.
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