Zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen im Süden werden von den Regeln der internationalen Zusammenarbeit geradezu erstickt. Beispielsweise verlangen Geberorganisationen aus dem Norden von ihren Partnern im globalen Süden, dass sie Zeiterfassungsbögen ausfüllen, um die tägliche Arbeit zu erfassen, auch wenn das in den begünstigten Organisationen überhaupt nicht üblich ist. Auch verlangen sie Rechnungen für Projekte, die in indigenen Gebieten durchgeführt werden, wo es keine Marktlogik gibt. Jeder Geber hat seine eigene Bürokratie, die die Empfängerorganisationen dazu zwingt, Zeit und Ressourcen aufzuwenden, um die vielfältigen (und manchmal nutzlosen) Anforderungen der Geber zu erfüllen. Sozialleistungen für die Angestellten wie etwa Krankenversicherung oder Mutterschutz dagegen übernehmen sie nicht.
Mehr noch: Der projektorientierte Ansatz der Geber bei sinkenden Ressourcen bringt die Mitarbeitenden der sozialen Organisationen im Süden in eine prekäre Situation, da sie nie wissen, ob sie nach Ablauf eines beispielsweise zweijährigen Projekts weiterhin Teil des Teams bleiben können. Das erschwert die mittel- und langfristige Planung und schwächt damit soziale Bewegungen und Basisorganisationen in den Gemeinden.
Dahinter steckt eine Tendenz der Geber, ihre Partner im Süden für unehrlich zu halten. Hinter den hehren Prinzipien von Wirksamkeit, Rechtmäßigkeit, Transparenz und Rechenschaftspflicht verbirgt sich das Bedürfnis nach Kontrolle. Eine solche neokoloniale Zusammenarbeit, bei der die Geber die Prioritäten festlegen, spiegelt die normative Dominanz und die ungleiche Kontrolle über Ressourcen. So ging es bei der Entwicklungszusammenarbeit bislang vor allem um die Bekämpfung der Armut. Jetzt aber steht der Klimawandel im Mittelpunkt. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen des Südens, die sich seit jeher für Ernährungssicherheit, Bildung und Gesundheit und gegen Rassismus und Gewalt einsetzen, müssen nun ihre Anliegen mit Anforderungen des Klimawandels begründen, um weiter finanziert zu werden.
Wissen, Erfahrungen und Bedürfnisse des Südens berücksichtigen
Autorin
Nathalie Beghin
ist Ko-Direktorin des Instituts für sozioökonomische Studien (Inesc), das sich in Brasilien für Menschenrechte und Demokratie einsetzt.Gemeinschaften des globalen Südens werden dabei meist als passive „Begünstigte“ und nicht als autonome Handelnde behandelt. Ihr Wissen, ihre Erfahrungen, ihre Kultur und ihre Bedürfnisse bleiben unberücksichtigt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verteilung von Nahrungsergänzungsmitteln in Krisenzeiten. Zwar wird damit der unmittelbare Nahrungsbedarf gedeckt, aber nachteilige Auswirkungen auf die örtliche Esskultur und eine möglicherweise entstehende Abhängigkeit von externer Hilfe anstelle örtlicher Nahrungsmittel bleiben unbedacht. Dabei kann eine solche Entwicklung bewährte Ernährungssysteme stören, zum Verlust von Wissen und kultureller Identität in Verbindung mit Lebensmitteln führen und so die Ernährungssicherheit beeinträchtigen.
Im Allgemeinen spielen Wissen und technische Modelle aus dem Norden eine wichtige Rolle, während indigene oder regionale Perspektiven des globalen Südens an den Rand gedrängt werden. Die Regeln sind nicht verhandelbar, die Mittel werden nach und nach überwiesen, und in vielen Fällen erhält man neues Geld nur, wenn man die vorherige Tranche ausgegeben hat.
Häufig interessieren sich die Geber aus dem Norden mehr für die Regeln als für das regionale Umfeld, in dem ein Projekt durchgeführt wird. Das ist auch deshalb so, weil ihre jeweiligen Regierungen Ergebnisse von ihnen erwarten, die sie an der Zahl Projekte messen, die ohne Probleme, beispielsweise ohne zeitliche Verzögerungen, durchgeführt wurden.
Die Selbstidealisierung der Geber als „nicht rassistisch“
Geschlechterfragen sind ein Anliegen, aber oft nur pro forma. Nicht selten reproduzieren schlecht vorbereitete Teams aus dem Norden sexistische Einstellungen, statt den unterstützten Organisationen dabei zu helfen, Projekte aus einer Geschlechterperspektive zu entwickeln.
Noch schlimmer ist es beim Thema Rassismus. Geber zögern manchmal, Rassismus in den Mittelpunkt zu stellen, zumal sie oft sehr stolz auf ihre Spendenpraktiken sind und sich daher als „nicht rassistisch“ oder „nicht kolonialistisch“ betrachten. Sie sehen sich eher als „Verbündete” derjenigen, die im globalen Süden leiden, und schieben die Schuld für die Misserfolge ihrer Branche im Kampf gegen Rassismus lediglich auf einige wenige schlechte Beispiele und einzelne Organisationen. Dadurch bleiben wichtige Strukturen, die Ausgrenzung bewirken, unangetastet.
Ein dekolonialer Ansatz erfordert eine tiefgreifende Neugestaltung der internationalen Zusammenarbeit und ihrer Denkweisen, Werte und Einstellungen. Dies gilt auch für viele Organisationen im globalen Süden, die letztendlich die im Norden entwickelten Muster reproduzieren. Lösungen müssen die Stimmen, Erkenntnisse und die Führungsrolle des Südens einbeziehen, und grundsätzlich muss es um Reparationen gehen, da der Norden seit jeher und auch heute noch viele Ressourcen aus dem globalen Süden bezieht.
Es geht mehr um Vertrauen als um Bürokratie
Eine Solidaritätspartnerschaft muss gemeinsam geschaffen werden – ebenso wie die Instrumente, mit denen gegenseitige Vereinbarungen verwirklicht werden, und die Berichterstattung über die Ergebnisse. Dabei geht es mehr um Vertrauen als um Bürokratie.
Einige philanthropische Organisationen des Nordens versuchen das inzwischen: Sie setzen sich gründlich mit ihren Partnerorganisationen auseinander, vereinbaren Austauschtreffen und nehmen bei Bedarf Anpassungen vor. Dann fördern sie ihre Partner im Süden und deren Mission und Ziele grundsätzlich, so dass Finanzberichte und Treffen alle drei oder vier Monate ausreichen, um den Fortschritt zu überprüfen.
Derlei auf Vertrauen beruhende Arbeitsweisen bedeuten weniger Bürokratie für beide Seiten und sind wirksamer, da sich die Teams aus dem Norden und dem Süden auf die Förderung echter Veränderungen konzentrieren können.
Die öffentliche Entwicklungshilfe radikal überarbeiten
Eine dekoloniale internationale Zusammenarbeit muss politische Veränderungen, institutionelle Reformen, eine langfristige Umverteilung von Ressourcen sowie die Anerkennung von Identitäten anstreben. Einige Organisationen aus dem Norden beschreiten diesen Weg bereits und haben sich bereit erklärt, das Thema zu diskutieren, vielfältigere Teams einzustellen, Abteilungen und Richtlinien für Gender, ethnische Zugehörigkeit und Dekolonialisierung zu schaffen, den Anliegen ihrer Partner mehr Gehör zu schenken und bürokratische Regeln zu lockern. Aber es braucht noch mehr. Sie sollten das auch intern beherzigen und ihre Regierungen dazu drängen, die derzeitige öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) radikal zu überarbeiten.
Neben der dringenden Aufgabe, den globalen Süden finanziell stärker zu unterstützen, sollte die ODA innerhalb der Vereinten Nationen im Rahmen einer dafür geschaffenen Rahmenkonvention diskutiert werden. Denn eine Konvention würde einen inklusiveren, demokratischeren, robusteren und rechtsverbindlichen Rahmen für die internationale Entwicklungszusammenarbeit bieten, der die Mängel der derzeitigen Hilfe beheben und eine wirkliche Umgestaltung gewährleisten könnte.
Schließlich kann die Entkolonialisierung der Zusammenarbeit nicht losgelöst von den drastischen Finanzkürzungen betrachtet werden, die vor allem nichtstaatliche Organisationen und soziale Bewegungen treffen, also letztlich die Gemeinschaften und Menschen, die ohnehin schon gefährdet sind.
Aus dem Englischen von Barbara Erbe.
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