„Die Maya werden seit 500 Jahren verdrängt“

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Im Gang eines Zugabteils posiert ein folkloristisch gekleideter Mann, der einen Strohhut mit der Aufschrift "Viva Mexico" trägt. Er hält eine mexikanische Flagge in einer Hand und lässt sich von einer Reisenden mit ihrem Handy fotografieren.
Koral Carballo/Bloomberg via Getty Images
Der Tren Maya, der Mayazug, bringt Touristen nach Yucatán – und das damit verbundene Folklore-Business wie hier im Dezember 2023.
Mexiko
Die kollektive Identität der Maya ist von Entwicklungsvorhaben wie dem Bau einer Zugstrecke bedroht, die in kolonialer Manier von oben verordnet werden, sagt Pedro Uc Be. Der Mayaphilosoph, Poet und Umweltschützer aus Yucatán im Süden Mexikos gibt jungen Leuten Werkzeuge an die Hand, die eigene Kultur zu bewahren.

Pedro Regalado Uc Be ist Mayapoet und Mitglied einer Vereinigung zur Verteidigung des Mayaterritoriums. Er hat Sozial­wissenschaften und Theologie studiert und in seiner Heimat ­Yucatán unter anderem Geschichte und literarisches Schaffen unterrichtet.

Die Regierung hat eine Zuglinie in Yucatán gebaut und der indigenen Bevölkerung dort Fortschritt, Wohlstand und Arbeitsplätze versprochen. Hat sich das erfüllt? 
Nein. Die Gemeinden sind immer noch so arm wie eh und je. Es gibt weder bessere Bildungseinrichtungen noch eine bessere Gesundheitsversorgung oder besser bezahlte Arbeit und erst recht keine höhere Lebensqualität. Im Gegenteil: Vertreibungen haben zugenommen, die Gewalt gegen Frauen ist gestiegen, Drogenkartelle haben Einzug gehalten. Bevor der Zug kam, hat man uns in Ruhe gelassen. Mit dem Bau ab Dezember 2018 kamen Arbeiter aus verschiedenen Teilen des Landes und sogar Migranten aus anderen Ländern. Ihr Aufenthalt hat die Lebensweise der Mayagemeinden negativ beeinflusst. 

Auf welche Weise? 
Es kamen vor allem Männer, und das führte zu Gewalt gegen unsere Frauen. Gemeinden wurden umgesiedelt, die den Bahngleisen im Weg waren. Andere werden von Immobilienprojekten vertrieben oder gehen weg wegen der Unsicherheit durch den Drogenhandel. Oder sie haben ihr Land an Investoren verkauft und müssen nun irgendwo in den Städten Arbeit suchen. Sie werden entwurzelt. Und im Schlepptau des Zuges kommen jetzt die sogenannten Entwicklungspole, also Hotels, Geschäfte oder Industriestandorte, rund um die Bahnhöfe. Der Zug war nur ein Vorwand dafür, diese Region wirtschaftlich zu erschließen und in die kapitalistische Logik des globalen Nordens einzugliedern. 

Ist das falsch? Die Regierung argumentiert, dass die Halbinsel Yucatán sehr arm war und die Mayabevölkerung im Landesinnern nicht vom Tourismus an den Küsten profitierte. 
Das Problem ist, dass diese Entwicklungslogik kolonialistisch ist. Wir sind nicht gegen die Zivilisation oder gegen Entwicklung. Vielmehr möchten wir an der Entwicklung teilhaben. Aber wir glauben, dass es einen Dialog braucht, damit auch wirklich alle etwas davon haben. Das ist beim Mayazug wieder einmal nicht der Fall. Wir indigene Völker fordern Respekt und eine Garantie unserer Lebensqualität. Und wenn sie schon in unseren Lebensraum einfallen, dann sollten sie uns wenigstens anhören und darauf achten, dass sie uns nicht schädigen. 

Gibt es keine Möglichkeit, sich zu wehren? 
Vor dieser Regierung hatte es winzige Fortschritte in Richtung einer Anerkennung indigener Identitäten gegeben. Es gab Gesetze, die uns erlaubten, unser Territorium zu verteidigen, etwa über einstweilige Verfügungen gegen Willkürakte des Staates. Diese Möglichkeit hat die vorige linke Regierung abgeschafft. Früher haben wir einige Prozesse gewonnen, aber seit López Obrador an der Macht war (2018 bis 2024), keinen einzigen mehr. Und wenn mal ein Richter wagte, den Bau wegen Verstoß gegen Umweltauflagen zu stoppen, hat sich die Regierung nicht darum geschert. Im Biosphärenreservat von Calakmul hat das Militär in den Jahren 2023 bis 2024 mitten im Nationalpark neben Mayaruinen ein Hotel gebaut, obwohl ein Gericht das verboten hatte.  

Es gab aber Mayagemeinden, die den Bau der Zuglinie befürworteten. Gibt es so etwas wie eine kollektive Identität der Maya überhaupt? 
Es gab Befragungen in Mayagemeinden, die dafür stimmten. Aber die Menschen sagten Ja, weil ihnen gesagt wurde, dass sich mit dem Bau ihre Gesundheit, ihre Bildung und ihr Leben verbessern würden. Hätte die Regierung ehrlicherweise gefragt, wollt ihr lieber einen Zug oder ein Hospital in eurer Gemeinde, dann hätte die Abstimmung ganz anders ausgesehen. Die Menschen wurden schlicht belogen. Aber ja, es gibt eine sehr starke mentale Kolonisierung. Viele sprechen noch Maya, sie sehen aus wie Maya, haben dunkle Haut, aber ihr Herz ist kolonisiert, es hat den Geist eines Eroberers und Kolonisators. 

Wenn ich das Weltbild der Maya richtig verstehe, spielt sich darin alles in Zyklen ab. Kann es für Sie dann Entwicklung geben? 
Gerade weil wir zyklisch denken, gibt es in unserer Weltanschauung eine große Wertschätzung für Kreativität und Kunst. Darin liegt für uns Entwicklung. Für uns ist es zentral, sich um die Gesundheit des Ganzen zu kümmern. Denn man kann nicht weiter wachsen, wenn man das tötet, was uns das Leben schenkt und es nährt. Die Erde ist Leben, der Berg ist Leben, der Dschungel ist Leben, Wasser ist Leben. Wir Maya brauchen für unser Gleichgewicht vier Pfeiler, so wie die Stützwände unserer Häuser: Wir müssen gut essen, gut ausruhen, gut feiern und uns respektvoll und tiefgründig mit anderen austauschen. Diese vier Elemente sind unsere Wegweiser, individuell, für die Familie und für die Gesellschaft. Wir sagen zum Beispiel nicht „Guten Morgen“ oder „Guten Abend“, sondern „B‘ix a wanil“, was soviel heißt wie: Wie ist dein Sein, wie ist deine Beziehung zu den anderen, zu deiner Umwelt? Entwicklung beginnt für uns mit einem guten Leben, das nicht individuell ist, sondern gemeinschaftlich. Das umfasst nicht nur das menschliche Miteinander, sondern auch mit den Tieren, dem Wasser, der Sonne. Dann kommt plötzlich die westliche Entwicklung und holzt unseren Dschungel ab, verjagt unsere Tiere, zerstört unsere Wasserquellen. Für uns ist das keine Entwicklung, sondern eine Gefahr für unsere Existenz. 

Was kann man der Zerstörung entgegensetzen? 
Der Popol Vuh, das wichtigste Buch der Mayakultur, gibt darauf Antworten. Und zwar liegen sie im Wort, im Dialog. Wir müssen lernen, einander zuzuhören und miteinander zu reden. Dann haben wir eine Chance, eine gesunde Koexistenz der Kulturen zu schaffen und den Sinn des Lebens wiederzufinden, statt weiter in Richtung einer Kultur des Todes zu gehen. 

Wie versuchen Sie als Poet, mit Kultur die Identität der Maya zu stärken?
Als wir sahen, dass der Rechtsweg keine Option mehr war, haben wir in unserer Organisation Múuch’ Xíinbal beschlossen, junge Maya auszubilden. Wir gehen in die Dörfer und reden dort mit den Menschen über unsere Sprache und Weltanschauung – über alles, was uns hilft, unsere Identität zu stärken, aber auch, zu erkennen, was die westlichen Strategien sind und wie man sich dagegen wehrt. Wir wollen den jungen Leuten Werkzeuge geben, ihre Kultur und ihr Territorium gegen Eindringlinge zu verteidigen. Wir lesen Geschichten auf Maya und sprechen über Erinnerungen und Träume, so dass die Menschen ihr kollektives Gedächtnis wiederfinden und sich mit den Worten unserer Vorfahren verbinden. 

Und das gefällt jungen Leuten? 
Es ist nicht einfach für junge Maya heute. Sie wollen natürlich oft auch schnelles Geld, ein Auto und konsumieren. Und jetzt sind die Drogenkartelle hinzugekommen, die ihnen das alles bieten, aber der Preis dafür ist hoch. Manche Jugendliche erkennen, dass das eine Falle ist, und suchen bei uns und bei ihren Wurzeln Zuflucht. Wir haben zwanzig junge Multiplikatoren ausgebildet, die sehr engagiert sind. Wir zeigen ihnen ja auch interessante Dinge. Sie lernen viel über Politik oder auch, wie man soziale Netzwerke als politisches und kulturelles Werkzeug nutzen kann, statt sich von ihnen vereinnahmen zu lassen. Wir machen seit vier Jahren einen wöchentlichen Podcast, der von Tausenden auf der Halbinsel Yucatán und bis nach Guatemala gehört wird. 

Wie sehen Sie die Zukunft für die Maya? 
Schwierig, aber nicht hoffnungslos. Wenn diese jungen Leute in ein paar Jahren Führungsrollen übernehmen, mit diesem Engagement, dieser Kraft, dann gibt es durchaus Chancen auf ein besseres Morgen.

Das Gespräch führte Sandra Weiss. 

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erschienen in Ausgabe 5 / 2025: Gelebte Vielfalt
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