Das dekolonisierte Klassenzimmer

Schulklasse in Kenia; die Grundschüler, in Bänken sitzend, vor sich Schulhefte, tragen Schuluniformen; ein Lehrer beugt sich über einen der Jungen.
picture alliance / imageBROKER/Thomas Frey
Eine Grundschulklasse der Mirisa-Academy in Nakuru, Kenia, und ihr Lehrer beim Unterricht.
Die Bedeutung lokaler Sprachen
In vielen multikulturellen Gesellschaften dominiert die frühere Kolonialsprache das Bildungssystem. Vor allem in der Grundschule behindert das den Lernerfolg und die Entwicklung der Identität der Kinder. Eine bewusste Sprachpolitik kann das ändern.

Sprache ist ein Hauptmerkmal menschlicher Zivilisation. Durch sie bringen Gesellschaften ihre Hoffnungen und Ängste zum Ausdruck, formulieren Pläne und Werte für nachfolgende Generationen und bewahren indigenes Wissen ihrer jeweiligen Kultur. Im Bildungssektor dient Sprache längst nicht nur dazu, Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln sowie die Alphabetisierung fördern, sondern sie trägt wesentlich zur ganzheitlichen Entwicklung der Lernenden bei, die ihren Platz in der Gesellschaft finden sollen. Insbesondere in multikulturellen, mehrsprachigen postkolonialen Gesellschaften ist die Sprache für die Identitätsfindung entscheidend. Das Erbe des Kolonialismus führt jedoch gerade dort oft dazu, dass die Sprachen der ehemaligen Kolonisatoren die Schulen und Universitäten dominieren. Allerdings wächst inzwischen das Bewusstsein für die Bedeutung lokaler Sprachen; die Erkenntnis setzt sich durch, dass sie in Bildungseinrichtungen einbezogen werden müssen, um bessere Lernergebnisse und mehr soziale Gerechtigkeit zu erzielen.  

So sieht etwa der kürzlich in Kenia eingeführte kompetenzbasierte Lehrplan (CBC) für die frühe Grundschulbildung der ersten bis dritten Klasse vor, dass die Lernenden in ihrer Muttersprache beziehungsweise in der Sprache unterrichtet werden sollen, die im Einzugsgebiet der Schule gebräuchlich ist – meist, aber nicht immer ist das Kiswahili oder Englisch. Ab der vierten Klasse wird Englisch, das neben Kiswahili die zweite Amtssprache Kenias ist, zur Hauptunterrichtssprache. 

Darüber hinaus unterstützt das CBC-Rahmenwerk auch den Unterricht in indigenen Sprachen wie etwa Kikuyu, Luo, Luhya, Kalenjin, Kamba und Maasai. Dabei gilt es, Mehrsprachigkeit und ihre Vorteile – etwa ein Zuwachs an Problemlösungs- und Kommunikationsfähigkeit sowie kultureller Wertschätzung durch mehrsprachigen Unterricht – stets im Blick zu behalten und zu pflegen, auch wenn das angesichts von Herausforderungen wie knappen Haushalten und Mängeln bei der Lehrerausbildung nicht immer einfach ist. 

Die Fertigkeit in der lokalen Sprache gilt als Nachteil

Die Wahl der Unterrichtssprache kann in postkolonialen mehrsprachigen Gesellschaften in Subsahara-Afrika entscheidend sein für die Bildungserfolge der Schülerinnen und Schüler. Denn in diesen Gesellschaften ist die Kolonialsprache neben den indigenen Sprachen entweder Unterrichtssprache, Unterrichtsfach oder sogar allgemeine Kommunikationssprache in den Schulen. Das konfrontiert die Lernenden mit allerlei Hindernissen: Kinder, die zwar zur Schule gehen können, aber die offizielle Unterrichtssprache (noch) nicht sprechen, erleben, dass ihnen ihr bisheriges Wissen nicht nur nicht weiterhilft, sondern dass ihre Fertigkeit in der lokalen Sprache als Nachteil gilt.  Ihr Wissen darüber, wie die Dinge in ihrer eigenen Kultur und in ihrem sozialen Umfeld funktionieren, nützt ihnen nichts, weil die Kultur des Klassenzimmers, der Lehrenden und der Lehrbücher die der dominanten Gesellschaft ist. In der Folge erzielen viele Kinder, deren Muttersprache nicht die Unterrichtssprache ist, geringere Leistungen und Erfolge und brechen häufiger die Schule ab. 

Autor

Daniel Ochieng’ Orwenjo

ist Professor für Angewandte Sprachwissenschaft an der Technischen Universität Kenia.

Dies zeigen die Ergebnisse einer Umfrage zur Bewertung der Lernergebnisse in der unteren Grundschulstufe, die 2010 vom Kenya National Examination Council (KNEC) veröffentlicht wurde. Sie ergab, dass 52 Prozent der Kinder der dritten Klasse nicht richtig lesen konnten und bis zu 60 Prozent von ihnen bis zur dritten Klasse eine Klasse wiederholt hatten. Derlei Benachteiligungen beschränken sich dabei nicht auf den Grundschulunterricht, sondern ziehen sich durch bis zu den Hörsälen moderner Universitäten. Ich selbst musste als Doktorand am Institut für Afri­kanische Linguistik der Goethe-Universität Frankfurt ein Jahr lang zusammen mit deutschen Studierenden Latein lernen, unterrichtet auf Deutsch von einer deutschen Dozentin. Als ich merkte, dass meine geringen Deutschkenntnisse für den Unterricht nicht ausreichten, erklärte ich der Kursleiterin meine missliche Lage. Ich bat sie, sich vorzustellen, sie würde Kiswahili in der für sie fremden Sprache Dholuo zusammen mit Luos (deren Muttersprache Dholuo ist) lernen, unterrichtet von einem einsprachigen Dholuo-Lehrer. Am Ende durfte ich meine Prüfungen auf Englisch ablegen.

Auch erinnere ich mich an meine Zeit als Grundschüler im ländlichen Kenia in den 1980er Jahren. Damals endeten unsere Schultage stets mit einer Versammlung, bei der die Namen der Schüler, die ihre Muttersprache gesprochen und damit gegen die Sprachpolitik der Schule verstoßen hatten, laut vorgelesen wurden. Sie wurden öffentlich an den Pranger gestellt und sogar geschlagen. Um solch eine Demütigung zu vermeiden, sprachen viele von uns kein Wort mehr, sobald wir durch das Schultor traten. Erst am Abend, außerhalb der Schule, fingen wir wieder an zu sprechen. Diese Politik raubte vielen von uns die so dringend benötigte Möglichkeit, soziale Verbindungen einzugehen und so unsere Identität weiterzuentwickeln – sie nahm uns die Chance, das zu sein, was wir waren – Kinder. Trotz zahlreicher Proteste von Sprachforschern und Pädagogen wird diese Praxis bis heute in einigen ländlichen Schulen fortgesetzt. 

Sprache als Zeichen von Macht, Zugehörigkeit und kultureller Kontinuität

Sprache beeinflusst die Identitätsbildung aber nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch darüber hinaus. In mehrsprachigen Gesellschaften mit kolonialem Erbe wird Sprache zu einem Zeichen von Macht, Zugehörigkeit und kultureller Kontinuität. Während die Schüler im formalen Bildungssystem in einer Kolonialsprache wie Englisch oder Französisch unterrichtet werden, dreht sich ihr Leben zu Hause und in der Gemeinschaft oft um indigene oder lokale Sprachen, die für sie eine tiefe kulturelle Bedeutung haben. Diese Dualität kann zu inneren Spannungen führen, da die Lernenden hin- und hergerissen sind zwischen dem Prestige und den vermeintlichen Chancen, die mit der Kolonialsprache verbunden sind, und der emotionalen und traditionellen Bedeutung ihrer Muttersprachen. Wenn Schüler hauptsächlich in Kolonialsprachen unterrichtet werden, kommt es oft zu einer stillen Erosion ihrer kulturellen Bezugspunkte – Geschichten, Redewendungen, Rituale und Weltanschauungen, die in ihren Muttersprachen verankert sind, lassen sich möglicherweise nicht ohne weiteres in fremde Sprachstrukturen übersetzen. 

„Christen glauben an Gott“ schreibt eine muslimische Schülerin in der Jambiani Secondary School in Sansibar, Tansania, an die Tafel.

Eine große Schwierigkeit beim Erlernen der englischen Sprache etwa lag für uns im Unterricht von „englischen Redewendungen“. Ein solches Sprichwort ist: „Make hay while the sun shines“. Als kenianische Kinder verstanden wir nicht, dass es Orte und Zeiten gibt, an denen am Tag nicht die Sonne scheint. In meiner Muttersprache Dholuo ist das Wort für „Sonnenschein“ Teil des Namens für „Tag“ („Odie-chieng“ – wörtlich: Mitte des Sonnenscheins). Die Bedeutung des Sprichworts habe ich erst erkannt, als ich 2005 den deutschen Winter erlebte. 

Dabei liegen in diesen Muttersprachen einzigartige Wege, die Welt zu verstehen – ökologische Weisheit, soziale Harmonie, mündlich überlieferte Geschichten –, die für die Bewahrung des kulturellen Erbes von entscheidender Bedeutung sind. Wer indigene Sprachen aus den Klassenzimmern verbannt, büßt nicht nur sprachliche Vielfalt ein, sondern drängt die Kulturen, die diese Sprachen erhalten, weiter an den Rand. 

Die sprachliche Vielfalt als Stärke begreifen

Aber wie können wir in postkolonialen Gesellschaften Raum für indigene Sprachen im Bildungswesen zurückgewinnen und gleichzeitig von der internationalen Präsenz profitieren, die koloniale Sprachen mit sich bringen? Die Antwort liegt nicht darin, Kolonialsprachen rundweg abzulehnen, sondern in der Förderung inklusiver, mehrsprachiger Bildungssysteme, die sprachliche Vielfalt als Stärke begreifen. 

Dies kann mit dem Unterricht in der Muttersprache in den Grundschulklassen beginnen – was nachweislich die kognitive Entwicklung und die Lernergebnisse verbessert – gefolgt von der schrittweisen Integration weiterer Sprachen, einschließlich Kolonialsprachen. Die Lehrpläne sollten auf die lokalen Gegebenheiten zugeschnitten sein und neben allgemeinen Inhalten auch indigene Literatur, Traditionen und Perspektiven berücksichtigen. Lehrkräfte müssen darin geschult werden, den sprachlichen Reichtum der Schüler zu erkennen, und die Politik muss sicherstellen, dass Sprachen im Bildungswesen den multilingualen Charakter der Gesellschaft widerspiegeln.

Dann und nur dann werden Kolonialsprachen zu Brücken – nicht zu Mauern –, die einen globalen Zugang zu Bildung ermöglichen, ohne lokale Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Die Muttersprachen sind lebendige Träger von Bedeutung

Ein dekolonisiertes Klassenzimmer verändert nicht nur die Unterrichtssprache, sondern gestaltet auch die Machtverhältnisse des Wissens selbst neu. Es vermittelt den Schülern, dass ihre Muttersprachen keine Relikte der Vergangenheit sind, sondern lebendige Träger von Bedeutung, die einen zentralen Platz in ihrer intellektuellen und persönlichen Entwicklung verdienen, und es nutzt gleichzeitig die globale Verbreitung der Kolonialsprachen zur globalen Teilhabe. 

Eine der aktuell erfolgreichen Initiativen dazu ist das 2022 gestartete indische „Palash“-Programm in Jharkhand – ein mehrsprachiges Projekt des Bildungsministeriums des Bundesstaates Jharkhand in Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk UNICEF und der Language Learning Foundation. Es wurde ins Leben gerufen, um die Grundschulbildung für Kinder inklusiver zu gestalten, indem Muttersprachen wie Kurukh, Santali, Mundari, Ho und Kharia in den Lehrplan integriert werden. Derzeit beteiligen sich 1041 Schulen mit 35.400 Schülerinnen und Schülern der Klassen 1 bis 5 sowie 1064 ausgebildete Fachkräfte, die durch mehrsprachige Lehrbücher und kulturell relevante Arbeitshefte unterstützt werden. In Afrika ist die African Storybook Initiative ein erfolgreiches mehrsprachiges Alphabetisierungsprojekt, das frei lizenzierte Bilderbücher in zahlreichen afri­kanischen Sprachen anbietet. Im März 2023 umfasste das Angebot etwa 3800 Originaltitel und 7266 Übersetzungen in rund 236 Sprachen. Lehrkräfte und lokale Autoren können diese Ressourcen in frühkindlichen Bildungseinrichtungen in ganz Subsahara-Afrika lesen, adaptieren, übersetzen und verwenden.

Durch die Rückeroberung des sprachlichen Raums in der Bildung haben postkoloniale Gesellschaften die Möglichkeit, nicht nur historische Ungleichgewichte zu korrigieren, sondern auch eine integrativere, kulturell reichhaltigere und intellektuell fundiertere Zukunft aufzubauen. 

Aus dem Englischen von Barbara Erbe.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2025: Gelebte Vielfalt
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