Das Miteinander im Süden Italiens

Menschen unterschiedlicher Kulturen auf einem Markt in Palermo; im Bildmittelpunkt eine afrikanischstämmige Frau mit blauem Kleid und turbanähnlicher Kopfbedeckung, links und rechts bunte Marktstände.
Kate Stanworth
Zutaten und Gewürze aus Afrika und Asien sind heute Teil der sizilianischen Küche; hier auf dem Ballarò-Markt werden sie genauso angeboten wie traditionelle heimische Lebensmittel. 
Migration
In Palermo leben Migranten aus zahlreichen Ländern. Die Gesetze Italiens benachteiligen sie, doch im Alltag mischen sich ihre Kulturen und werden auch von Einheimischen aufgenommen.

Auf dem Ballarò-Markt riecht es intensiv nach gegrilltem Tintenfisch, frittierten Sardellen und würzigen ghanaischen Fleischeintöpfen. Bunte Stände sind voll mit Lebensmitteln, die in der sizilianischen Küche üblich sind wie Zitronen, Oliven, sonnengetrocknete Tomaten und Schwertfisch. Dazu gesellen sich nun auch neue Kochzutaten wie Koriander, scharfe Scotch-Bonnet-Chilis, Kochbananen und Okra. Sie haben ihren Ursprung weit weg von Italien, im Nahen Osten, in Afrika und Südasien.  

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Provinzhauptstadt der italienischen Insel Sizilien infolge aufeinanderfolgender Migrationswellen vor allem von außerhalb Europas verändert. Palermo ist heute die Heimat zahlreicher von Migranten geführter Unternehmen – von Restaurants, Handyläden und Geldtransfershops bis hin zu Afro-Friseursalons und Halal-Metzgereien. Im historischen Zentrum der Stadt, entlang einiger Barockprachtstraßen wie der Via Maqueda, werden viele Cafés von Einwanderern aus Bangladesch oder Tunesien betrieben. Vor einem sitzen junge Migranten, trinken Espresso und rauchen Zigaretten, während sie mühelos zwischen Italienisch, Arabisch, Wolof und Bengali wechseln. 

Für viele junge Einwanderer ist die Stadt sowohl Zufluchtsort als auch Heimat. Zum Beispiel für den gambischen Community-Aktivisten und Krankenpflegeschüler Jarjou Mustapha. Er war 17 Jahre alt, als er die gefährliche Überfahrt von Libyen nach Italien überstand. Bei seiner Ankunft in Palermo fühlte er sich sofort zu Hause, sagt er, weil ihn der farbenfrohe Anblick, die Geräusche und Gerüche an Westafrika erinnerten: „Ich hatte das Gefühl, irgendwo in ­Afrika zu sein.“ 

Eine neue Heimat in Palermo

Aber erst als er Italienisch lernte und sich in der Gemeinde engagierte, konnte er sich integrieren und „Teil des Lebens in Palermo“ werden. Er räumt zwar ein, dass das Leben in einer der ärmsten Städte Europas für Zugewanderte wie ihn sehr hart sein kann. Doch anders als viele andere Migranten, die gen Norden ziehen und in Norditalien, Deutschland oder Großbritannien Arbeit finden wollen, hat er sich entschieden, zu bleiben und sich hier ein Leben aufzubauen. Er sagt, dass er nicht der Einzige ist. „Viele Migranten machen diese Stadt zu ihrer Heimat“, sagt er. Denn Palermo sei eine Stadt, in der „Migranten und die lokale Gemeinschaft friedlich zusammenleben“. 

Straßenfußball im Stadtviertel Ballarò vor dem Wandbild eines christlichen Heiligen.

Eine weitere Besonderheit Palermos ist laut Jarjou die Art, wie hier Migranten unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen. Zum Beispiel organisieren sich Menschen aus Ländern wie Bangladesch, Gambia, Senegal und Tunesien nicht nur, um für die Rechte von Migranten in der Stadt zu kämpfen, sondern beteiligen sich auch am sozialen und kulturellen Austausch. An einem betriebsamen Freitagabend sieht man auf dem quirligen Markt von Vucciria im historischen Zentrum viele junge Senegalesen, Tunesier, Gambier und Sizilianer, die im Ciwara afro-inspirierte Cocktails aus Hibiskussaft und Wodka trinken und zu Afrobeats tanzen. Dieses Restaurant mit Bar hat Doudou Diouf, ein senegalesischer Musiker, 2018 eröffnet.

Jarjous Zugehörigkeitsgefühl zu Palermo ist vom damaligen Bürgermeister der Stadt, Leoluca Orlando, bestärkt worden. Im Jahr 2015, auf dem Höhepunkt der „Migrationskrise“, hat der gesagt: „In Palermo gibt es keine Ausländer: Wer in Palermo lebt, ist ein Palermitaner.“ Orlando habe die Stadt zu „einem Ort gemacht, an dem verschiedene Kulturen zusammenleben können“, sagt Jarjou. Mit seiner Aussage habe er Palermo als kosmopolitische und migrationsfreundliche Stadt präsentiert, die anderen europäischen Städten als Vorbild für die Integration von Migranten dienen könnte. Er setzte einen Kontrapunkt zu dem einwanderungsfeindlichen und rechtsextremen Populismus, der Europa überrollte. So wurde Palermo, eine Stadt am geografischen und wirtschaftlichen Rand Europas, zu einem Symbol für multikulturelles Zusammenleben auf einem Kontinent, der sich in die entgegengesetzte Richtung bewegt.

Orlando ist eine bedeutende Persönlichkeit in der Geschichte der Stadt und Siziliens, besonders in Bezug auf den Kampf gegen die Mafia. Er war von 1985 bis 1990, von 1993 bis 2000 und – seine wichtigste Amtszeit – von 2012 bis 2022 Bürgermeister von Palermo. Diese Amtsperiode fiel mit der Ankunft zahlreicher Migranten zusammen. Heute ist Orlando Abgeordneter im Europäischen Parlament. Der seit 2022 amtierende Bürgermeister Roberto Lagalla hat sich das Image der Stadt als Ort, der Migranten willkommen heißt, nicht völlig zu eigen gemacht.

Einzigartiges kulturelles Erbe

Palermo ist eine von Migration geprägte Stadt. In der Geschichte waren alle einmal hier, von den Phöniziern über die Griechen und Römer bis hin zu den Arabern, Normannen und Spaniern. Einer der Patrone der Stadt ist San Benedetto il Moro („Benedikt der Mohr“), der erste schwarze Heilige der modernen Geschichte. In Palermo leben nach Zahlen aus dem Jahr 2019 schätzungsweise 24.000 Menschen mit Migrationshintergrund, darunter etwa 10.000 bis 15.000 Bangladescher.

Autor

Ismail Einashe

stammt aus Somalia und berichtet als freier Journalist unter anderem aus Italien und Kenia.

Giulia Liberatore, eine Anthropologin an der Universität Edinburgh, hat mehrere Jahre lang Mi­grationsforschung in der Stadt betrieben. Sie sagt, wegen seiner Lage im Zentrum des Mittelmeers könne Palermo auf eine lange Geschichte als Ort religiöser und kultureller Begegnungen zurückblicken. Die wechselnden Herrscher brachten im Laufe der Jahrhunderte ihre jeweils eigenen kulturellen, religiösen, architektonischen und politischen Einflüsse mit, die „mit früheren Einflüssen verschmolzen und sich mit ihnen überlagerten“. Das hat ein einzigartiges kulturelles Erbe hinterlassen, so Liberatore.

Diese Geschichte erkennt man in der berühmten Architektur der Stadt mit ihren arabisch-normannischen Palazzi und den katholischen Kirchen mit islamischen geometrischen Mustern. Sie zeigt sich auch in der einzigartigen Küche mit Zutaten wie Couscous, Mandeln, Pinienkernen, Pistazien, Reis, Safran und Rosinen, die in vielen klassischen palermitanischen Gerichten verwendet werden wie Nudeln mit Sardinen, Fenchel, Pinienkernen und Rosinen oder Caponata, einem Gericht aus gebratenem Gemüse, Pinienkernen und Rosinen. Viele muslimische Traditionen werden in der Stadt mittlerweile akzeptiert. 

Solidaritätsküche und gemeinsame Pilgerfahrten

So berichtet Jarjou, dass die lokale muslimische Gemeinschaft jedes Jahr im Ramadan von anderen Gemeindeverbänden und Gruppen bei der Beschaffung und Verteilung von Lebensmitteln unterstützt wird. Sie betreiben im Ramadan eine Solidaritätsküche, in der sie bis zu 200 Iftar-Mahlzeiten zubereiten – Speisen, die Muslime traditionell nach dem täglichen Fasten essen. Die Mahlzeiten werden auf der Piazza Santa Chiara im Stadtteil Ballarò verteilt. Nach Ende des Ramadans erlaubt der Stadtrat von Palermo der muslimischen Gemeinde, auf dem Foro Italico, einem großen Park entlang der Küste der Stadt, ausgedehnte Eid-Gebete abzuhalten.

Auch die neuesten Einwohner nehmen in Palermo die ältesten Traditionen der Stadt an. So hat Giulia Liberatore zusammen mit dem palermitanischen Anthropologen Eugenio Giorgianni untersucht, wie katholische Traditionen von Hindus aus Sri Lanka und Mauritius aufgegriffen wurden: Sie haben sich die Verehrung der heiligen Rosalia zu eigen gemacht. Diese andere wichtigste Schutzpatronin von Palermo habe viele Eigenschaften mit den hinduistischen Göttinnen Sakti oder Kali gemein, sagt Liberatore. Sie nehmen auch an Pilgerfahrten auf den Monte Pellegrino teil, zum Sanktuarium der heiligen Rosalia, von dem man den Golf von Palermo überblickt.

„Wir sind keine Fische“

Laut Jarjou haben viele Migranten inzwischen tiefe Wurzeln in Palermo geschlagen. „Viele haben Einheimische geheiratet und hier Familien gegründet“, sagt er. Und viele seien sehr gut integriert. Zu ihnen gehört Chris Obehi, ein beliebter nigerianischer Sänger und Songwriter, der als 17-Jähriger aus seiner Heimat im nigerianischen Bundesstaat Edo nach einer gefährlichen Reise über Libyen Palermo erreicht hat. Die meisten seiner Songs beruhen auf den erschütternden Migrationserfahrungen, die er in der Wüste und bei der Überfahrt übers Meer gemacht hat, und den vielen Schwierigkeiten des Migrantenlebens in Italien. Einer seiner populärsten Songs, „Non siamo pesci“ (Wir sind keine Fische), hat den ergreifenden Refrain: „Wir sind keine Fische im Meer, wir sind keine Fische, wir sind Menschen.“

Chris Obehi ist als 17-Jähriger aus Nigeria nach Palermo gekommen und heute ein populärer Sänger. In vielen Liedern behandelt er Migrationserfahrungen.

Obehi sagt, das Leben in Palermo könne hart sein, aber es sei auch schön und habe seine Musik inspiriert. Er erzählt, dass er es vom Straßenmusiker in Palermo zu Auftritten bei großen Musikfestivals in Italien und zu Fernsehauftritten gebracht hat. Schließlich hat er den renommiertesten Musikpreis Siziliens gewonnen, den Rosa Balistreri e Alberto Favara Award. Obehi singt auf Italienisch, Sizilianisch, Edo und Englisch und sagt, er genieße es, verschiedene Musikstile zu mixen. 

Einzigartig ist Palermo in Jarjous Augen darin, dass nicht nur Neuankömmlinge die lokale Kultur angenommen haben – auch die Sizilianer haben Dinge wie Afrobeat, Essen und sogar afrikanische Frisuren für sich entdeckt. Zwar warnt er davor, zu meinen, dass Palermo immun gegen ausländerfeindliche Stimmungen sei. Aber er glaubt einfach, dass es „weitaus besser ist als andere Städte in Italien“. 

Doch laut Liberatore sind Rassismus, soziale Marginalisierung und Ausgrenzung nach wie vor entscheidende Hindernisse für die Migrantengemeinschaften in Palermo. „Unsere Arbeit mit Tamilen und Bengalen in der Stadt hat gezeigt, auf wie viele Arten sie in Schulen, im öffentlichen Gesundheitswesen, im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz rassistisch diskriminiert werden.“ Sie weist darauf hin, dass Migranten weiterhin „unterbezahlt, auf dem Arbeitsmarkt ausgebeutet und als Bürger zweiter Klasse behandelt werden“.

Eine kosmopolitische Stadt: Demonstration für die Rechte von Migranten in Palermo im ­September 2023.

Jarjou stimmt zu, dass Rassismus und Ausgrenzung nach wie vor große Probleme sind. Viele Mi­granten bleiben aufgrund ihres irregulären Status unsichtbar, sagt er. „Dokumente sind ein wichtiger Schlüssel zur Integration.“ Er macht sich auch Sorgen um die Zukunft in Italien, das von der rechtsgerichteten Regierung unter Giorgia Meloni regiert wird: Er fürchte um die Zukunft von Zugewanderten in der Stadt, da in Italien die ablehnende Haltung gegenüber Einwanderern immer stärker wird. 

Die Erfahrung der Koexistenz ist real, aber auch fragil

Jarjou ist auch ehrenamtlicher Sprecher des Verbands der Gambier in Palermo, der Hunderte von Mitgliedern aus dieser Gemeinschaft hat. Die politische Integration ist jedoch nach wie vor begrenzt, weil man italienischer Staatsbürger sein muss, um in ein politisches Amt gewählt zu werden. Dass Migranten und auch ihre in Italien geborenen Kinder nicht die Staatsbürgerschaft erhalten, erschwert ihre Integration. 

Im Land geborene Kinder von Migranten haben aufgrund extrem restriktiver Staatsbürgerschaftsregeln, die dem Abstammungsprinzip folgen, nicht automatisch Anspruch auf die italienische Staatsbürgerschaft. Das macht es für Migranten der zweiten Generation äußerst schwierig, in Italien zu arbeiten und zu leben, sagt Liberatore. Ein Referendum im Juni 2025, das die Staatsbürgerschaftsregeln lockern sollte, ist gescheitert, weil weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten an der Volksabstimmung teilnahmen. Das bringt viele Palermitaner der zweiten Generation dazu, ihre Stadt zu verlassen. „Deshalb halte ich es auch für wichtig, Palermo oder Sizilien oder den Mediterranismus nicht zu romantisieren“, meint Liberatore.

Die Erfahrung der Koexistenz in Palermo ist real, aber auch fragil. Es gibt dafür viele Risiken wie Armut, rechtsextreme Politik und zunehmendes Misstrauen gegenüber der Politik. Doch für Jarjou bleibt Solidarität das wichtigste Kapital der Stadt. Er verweist auf die lokalen Gruppen wie Arci Porco Rosso, die Italiener und Migranten zusammenbringen, um sich gegen die migrationsfeindliche Politik in Italien zu wehren. Es macht seiner Meinung nach Palermo einzigartig, dass so viele Einwohner sich zusammenschließen und Räume schaffen, die die Stadt zu einem „besseren Ort für alle“ machen.

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2025: Gelebte Vielfalt
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