Seit Mai haben die indischen Behörden Tausende von Muslimen im ganzen Land festgenommen und Hunderte nach Bangladesch und Myanmar abgeschoben – oft ohne Gerichtsverhandlung oder ordentliches Verfahren. Das wird als hartes Durchgreifen gegen illegale Migranten dargestellt. Einige Abgeschobene waren tatsächlich Migranten ohne Papiere aus Bangladesch oder Rohingya-Flüchtlinge, doch viele sind muslimische indische Bürger, die die Beamten nicht von ihrer Staatsangehörigkeit überzeugen konnten. Diese Zwangsdeportationen haben große Besorgnis ausgelöst.
Die fast 4000 Kilometer lange Grenze zwischen Indien und Bangladesch ist in manchen Teilen weiterhin durchlässig, in anderen stark militarisiert. Sie zertrennt eine Region, die einst geeint war; grenzüberschreitender Verkehr gehörte lange zum Alltag und besteht bis heute fort. Die Stacheldrahtzäune haben Gemeinschafts- und Verwandtschaftsbindungen zertrennt.
Auch staatliche Versuche, Migranten ohne Papiere aus Bangladesch aufzuspüren und auszuweisen, sind in Indien nicht neu. Vor den jüngsten Razzien verschärften sich die Spannungen mit Pakistan, nachdem islamistische Terroristen Ende April im von Indien verwalteten Teil Kaschmirs 25 hinduistische Touristen und einen lokalen muslimischen Reiseführer ermordet hatten. Indien machte Pakistan für den Anschlag verantwortlich und übte Vergeltung, unter anderem mit Raketen- und Luftangriffen. Gleichzeitig ergriff die von der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) geführte Regierung Schritte, um mutmaßliche illegale Migranten und „Eindringlinge“ (infiltrators) loszuwerden; gemeint waren Muslime, auch wenn das nicht offiziell so gesagt wurde. Am 2. Mai wies das indische Innenministerium die örtlichen Behörden an, Migranten ohne Papiere aus Bangladesch und Myanmar ausfindig zu machen und auszuweisen.
Rohingya wurden ins Meer gestoßen
Die Razzien in mehreren indischen Bundesstaaten folgten weitgehend ethnischen, religiösen und sprachlichen Kriterien. Arme und schutzlose Bengali-sprachige Muslime und vor allen solche aus Grenzregionen wie Westbengalen und Assam, die als Arbeitskräfte in andere Teile Indiens ausgewandert waren, wurden dort ins Visier genommen und festgehalten. Sie wurden beschuldigt, Bangladescher zu sein, obwohl sie indische Dokumente besaßen. Laut zahlreichen Berichten wiesen Beamte echte indische Papiere als Fälschungen zurück oder verlangten eine ganze Reihe zusätzlicher Dokumente. Viele der Inhaftierten wurden gewaltsam nach Bangladesch gebracht – einige über Landgrenzen, andere wurden von Booten vor der Küste von Bangladesch im Meer ausgesetzt, oft mit vorgehaltener Waffe.
Ähnliches berichten Rohingya, eine muslimische Minderheit aus Myanmar: Sie wurden unter dem Vorwand, man erfasse biometrische Daten, aus ihren Unterkünften in Delhi geholt, inhaftiert und auf eine Insel im Golf von Bengalen geflogen. Anschließend wurden mindestens 40 auf ein Marineschiff gebracht und mit angelegten Schwimmwesten vor Myanmar ins Meer gestoßen. Weitere hundert wurden nach Bangladesch hineingetrieben.
Die indische Regierung hat keine offiziellen Daten zu den Abschiebungen veröffentlicht. Laut Schätzungen aus Bangladesch, internationalen Medien und Menschenrechtsorganisationen wurden von Mai bis Juli etwa 2000 Menschen nach Bangladesch deportiert. Bangladesch hat später viele zurückgeschickt, nachdem Behörden dort bestätigt hatten, dass sie indische Bürger waren. Indien war daraufhin gezwungen, ihre Rückkehr zuzulassen – nach Daten aus Bangladesch im Mai bei über 100 Personen.
Stimmungsmache von oben gegen „Eindringlinge“
Öffentliche Empörung über die Abschiebungen gibt es in Indien nicht, aber rechtliche Schritte sind eingeleitet. So will die Regierung von Westbengalen mit einer Klage beim Obersten Gerichtshof Indiens verhindern, dass Wanderarbeiter aus dem Bundesstaat unter der falschen Anschuldigung, sie seien bangladeschische Staatsbürger, inhaftiert und abgeschoben werden. In einem anderen Fall verhandelt der Oberste Gerichtshof derzeit, ob die Rohingya in Indien Flüchtlinge oder illegale Migranten sind.
Autor
Abhishek Saha
ist indischer Journalist und Autor des Buches „No Land’s People: The Untold Story of Assam’s NRC Crisis“. Er promoviert zurzeit an der Universität Oxford über Staatsbürgerschaftsfragen in Indien.Der indische Premierminister Narendra Modi hat zuletzt wiederholt behauptet, dass „Eindringlinge“ eine ernsthafte Bedrohung für Indien darstellten: Sie würden das demografische Gleichgewicht verändern, Bürgern Arbeitsplätze wegnehmen und eine Gefahr für Frauen darstellen. Er kündigte eine „demografische Mission” gegen solche angeblich böswilligen Taktiken an und bezichtigte Oppositionsparteien, sie würden Eindringlinge aus wahltaktischen Gründen unterstützen.
Diese Äußerungen, die von anderen hochrangigen BJP-Führern wiederholt wurden, stehen im Einklang mit der langjährigen Haltung der Partei, irreguläre muslimische Migranten auszuweisen. Andererseits hat Modis Regierung im Jahr 2019 mit dem Citizenship Amendment Act das Staatsbürgerschaftsgesetz Indiens so geändert, dass nichtmuslimische Migranten aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan schneller die indische Staatsbürgerschaft bekommen können.
Hindus sollen natürliche Staatsbürger sein, Muslime nicht
In diesem Durcheinander von kollektiven Identitäten und Migration ist es wichtig festzuhalten, dass Indiens Regierung weder gesicherte Erkenntnisse zur Zahl der im Land lebenden Migranten ohne Papiere besitzt noch einen zuverlässigen Mechanismus, sie zu identifizieren. Darüber hinaus gibt es in Indien nicht das eine Dokument, anhand dessen man einen Staatsbürger eindeutig von einem Migranten ohne gültigen Aufenthaltsstatus unterscheiden könnte.
Rechtsgerichtete hinduistische Politiker bringen die Identität Bengali sprechender Muslime häufig mit dem Bild des Eindringlings in Verbindung. Das ist ein Vorwand, Muslime überhaupt aufs Korn zu nehmen – besonders in Wahlkämpfen. Die Politikwissenschaftlerin Niraja Jayal Gopal hat die Versuche der BJP analysiert, die Staatsbürgerschaftsgesetze auf Grundlage der Religion zu gestalten; sie stellt fest, dass dies „im Einklang mit der Idee von einer hinduistischen Mehrheitsnation steht, in der Hindus natürliche Staatsbürger sind, während Muslime ... eigentlich nach Pakistan oder Bangladesch gehören“.
Die jüngsten Abschiebungen stehen auch im Einklang mit der weltweit zunehmenden Politik gegen Migranten. In diesem politischen Klima haben die Worte und Taten indischer Politiker und der Regierung die angebliche illegale Migration von bangladeschischen Muslimen zu einem zentralen Thema der Innenpolitik gemacht, während es zuvor nur für die indischen Grenzstaaten von Belang war.
Die heutige Ausgrenzung hat eine lange Geschichte
Um zu verstehen, wie sich ausgrenzende Praktiken an den postkolonialen Grenzen entwickeln, muss man sich diese Randgebiete Indiens genauer ansehen. Eines ist der nordöstliche Bundesstaat Assam mit seiner 250 Kilometer langen Grenze zu Bangladesch. Er ist seit Langem Schauplatz aufwendiger staatlicher Versuche, alle Migranten aus Bangladesch, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, zu identifizieren und sie abzuschieben. Das hat mit der langen Geschichte von Migration und anhaltendem lokalen Widerstand dagegen zu tun.
Assam, weltweit für seinen Tee bekannt, hat mehrfach große Zuwanderungswellen aus dem Gebiet des heutigen Bangladesch und vormaligen Ostbengalen und Ostpakistan erlebt – sowohl von Hindus als auch von Muslimen, von Flüchtlingen wie von Wirtschaftsmigranten. Während der britischen Herrschaft zogen muslimische Bauern aus Ostbengalen nach Assam, um dort fruchtbares, aber ungenutztes Land zu bewirtschaften; die Kolonialpolitik und muslimische Politiker ermutigten sie dazu. Hinzu kamen gebildete hinduistische Bengalen auf der Suche nach neuen Möglichkeiten.
Die Teilung Britisch-Indiens in Indien und Pakistan, zu dem bis 1971 auch das heutige Bangladesch gehörte, spaltete dann den Subkontinent entlang der Religionslinien. In der Folge kamen Flüchtlinge aus dem heutigen Bangladesch nach Assam; vor allem hinduistische bengalische Gemeinschaften flohen vor Gewalt und Bedrohung in dem mehrheitlich muslimischen Land. Daneben hielt auch die muslimische Zuwanderung an, hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen. Als Westpakistan (das heutige Pakistan) dann einen brutalen militärischen Angriff auf Ostpakistan startete und dieses im Befreiungskrieg zum Staat Bangladesch wurde, erlebte Indien 1971 erneut einen großen Zustrom von Migranten aus diesem Gebiet.
Ängste mündeten in ethnonationalistische Kampagnen
Diese Migrationswellen aus Bengalen lösten in Assam unter langjährigen Einwohnern verschiedener ethnischer Zugehörigkeit, unter Hindus der oberen Kasten und auch unter einer kleinen Anzahl von Muslimen Ängste um den Erhalt ihrer angestammten Identität aus. Das führte zu heftigen ethnonationalistischen Kampagnen. Hartnäckig kursierende Erzählungen über illegale Migration schürten Verdächtigungen gegenüber ganzen Gemeinschaften von Migranten bengalischer Herkunft, sie seien „illegal“. Mit juristischen und bürokratischen Mitteln versuchte man, „Eindringlinge“ aufzuspüren und auszuweisen. Das gelang mal mehr, mal weniger.
Die bedeutendste Initiative gegen Außenstehende war die Assam-Bewegung von 1979 bis 1985, die die Vertreibung illegaler Migranten forderte. Sie ging mit Gewalt und politischer Instabilität einher und endete mit dem Assam-Abkommen, einer Vereinbarung zwischen drei Seiten: den Führern der Bewegung, der Regierung von Assam und der Zentralregierung in Neu-Delhi.
Mit diesem Abkommen wurde in das indische Staatsbürgerschaftsgesetz Abschnitt 6A eingefügt, der den 24. März 1971 als letzten Tag für den Erwerb der Staatsbürgerschaft in Assam festlegt; diese einzigartige Bestimmung gibt es in keinem anderen indischen Bundesstaat. Der Tag ist das Datum, an dem die Militäraktion Westpakistans gegen Ostpakistan begann. Nach dieser Regelung hatten Migranten, die vor diesem Stichtag nach Assam gekommen waren, Anspruch auf die Staatsbürgerschaft; wer danach eingetroffen war – ob als Flüchtlinge oder Wirtschaftsmigrant –, war davon ausgeschlossen.
Die Einwohner Assams mussten ihre Staatsbürgerschaft nachweisen
In der Folge versuchte die Zentralregierung, teilweise unter Anleitung der Justiz, festzustellen, wer in Assam sich als indischer Staatsbürger qualifiziert und wer nicht. Das Kriterium dafür war, ob man von jemand abstammt, der oder die vor 1971 im Land ansässig war. Der umfangreichste dieser Versuche war das Nationale Bürgerregister (NRC), das für Assam 2019 veröffentlicht wurde. Der Obersten Gerichtshof Indiens überwachte es, verschiedene Abteilungen der Zentralregierung und der Regierung Assams führten es praktisch durch. Für das Register wurden über 30 Millionen Einwohner Assams aufgefordert, ihre Staatsbürgerschaft mit Dokumenten nachzuweisen. Fast zwei Millionen Antragsteller wurden ausgeschlossen, ihre Staatsbürgerschaft bleibt ungewiss. Das Verfahren selbst ist in der Schwebe; es ist umstritten und Anträge auf erneute Überprüfung laufen.
Schon vor Erstellung des Registers hat zudem die quasi-gerichtliche Institution namens „Foreigners Tribunals“ (Ausländertribunale) in den letzten vier Jahrzehnten rund 150.000 Personen die indische Staatsbürgerschaft aberkannt. Sie wurden zu „illegalen Ausländern“ erklärt. Der NRC und die Tribunale in Assam sind bis dato einzigartig. Diese Tribunale sind von Juristen, Medien und Menschenrechtsgruppen kritisiert und mehrfach von höheren Gerichten gerügt worden. Eine jüngere Studie der National Law School of India University und der Queen Mary University in London zu den Tribunalen hat ergeben, dass es sich um „ein rechtlich unhaltbares System handelt, das gegen die grundlegendsten Prinzipien der konstitutionellen Demokratie und der internationalen Menschenrechte verstößt“.
Sobald ein Tribunal eine Person als „Ausländer” einstuft, kann sie verhaftet und womöglich abgeschoben werden. In der Regel geben jedoch die meisten von ihnen an, indische Staatsbürger zu sein. Ihre Familien legen Rechtsmittel ein. Zudem kommt es laut Regierungsdaten selten zu Abschiebungen, weil Bangladesch die zu „Ausländern“ erklärten Personen nicht als seine Staatsbürger akzeptiert.
Ausgrenzung prägt nun staatliches Handeln im ganzen Land
Assam hat nach Daten aus der Volkszählung von 2011 rund 31 Millionen Einwohner. 48 Prozent von ihnen sprechen Assamesisch, 29 Prozent Bengali; hiervon sind die meisten Hindus. Doch unter den 34 Prozent Muslimen in Assam bilden Muslime bengalischer Abstammung die größte Untergruppe. Meist bezeichnen sich die Mitglieder dieser Gemeinschaft kulturell als Assamesen (nicht als Bengalen) und geben Assamesisch als ihre Muttersprache an – teils, um sich der Mehrheit anzupassen. Dennoch werden sie beschuldigt, illegale Migranten zu sein.
In Assam sind Gemeinschaften, die nicht zu den „Indigenen” gezählt werden, wie bengalische Hindus und Muslime mit Wurzeln im heutigen Bangladesch, seit langem Ausgrenzung und Misstrauen ausgesetzt. Doch mit dem Aufstieg der hindu-nationalistischen Politik wird die Bezeichnung „Außenstehende” zunehmend nur auf Muslime angewendet. Der erwähnte Citizenship Amendment Act von 2019 hat dies weiter verfestigt, weil er ausgeschlossenen Hindus einen Weg zur Staatsbürgerschaft eröffnet, Muslimen aber nicht.
Indien experimentiert schon lange mit juristischen und bürokratischen Mechanismen, die Staatsbürgerschaft in seinen Grenzregionen zu bestimmen. Heute zeigen die Deportationen nach Bangladesch und Myanmar, wie sich unter einer hindu-nationalistischen Regierung und in einem migrantenfeindlichen globalen Klima diese Ausgrenzungsmechanismen über die Randgebiete Indiens hinaus verbreiten: Sie prägen nun politische Auseinandersetzungen und staatliches Handeln im ganzen Land.
Aus dem Englischen von Anja Ruf.
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