Ein alter Mann mit eisernem Willen

Der indische Aktivist Anna Hazare setzt sein Leben aufs Spiel: Um die Regierung zu Schritten gegen die Korruption zu drängen, nutzt er auch den Hungerstreik. Seit zwanzig Jahren kämpft der 74-jährige Junggeselle gegen Bestechung und Misswirtschaft. Mit seinem Einsatz für das Gemeinwesen stellt der Mann aus einem kleinen Dorf in Westindien sich in die Tradition Mahatma Gandhis.
Zwölf Tage lang fastete er auf einer großen Bühne in einem öffentlichen Park in Neu-Delhi und hielt unter dem Jubel tausender Anhänger feurige Reden gegen Korruption und die uneinsichtige Regierung. Seine Aktion war das Hauptthema in den Medien. Im ganzen Land fanden Sitzstreiks und Demos statt, Menschen fasteten solidarisch. Hunderttausende Inder unterstützten Anna Hazares Forderung: die Einrichtung einer Aufsichtsbehörde, die als Ombudsmann Fälle von Korruption untersuchen und verfolgen kann. Seit 1968 dümpelt ein entsprechendes Gesetzesverfahren durch das indische Parlament. In verschiedener Form wurde es zur Abstimmung vorgelegt, doch stets fand sich eine Mehrheit interessierter Abgeordneter gegen den Antrag.

Autor

Rainer Hörig

war dreißig Jahre lang als freier Korrespondent für deutsche Medien in der indischen Industriestadt Pune tätig. Heute arbeitet er als Redakteur der deutsch-indischen Zeitschrift „Meine Welt“.

In den zwölf Fastentagen im August stieg Hazare zum neuen Hoffnungsträger der Nation auf. Sein eiserner, bisweilen bockiger Wille, die Entrüstung im Volk und die Tollpatschigkeit der Regierung führten dazu, dass eine von Bürgerinitiativen erarbeitete Gesetzesvorlage zustande kam und eine landesweite Bewegung entstand. Lange hatten die Inder vor der allgegenwärtigen Korruption in Verwaltung und Wirtschaft resigniert. Nun zeigte ein alter Mann aus der hintersten Provinz, dass man das politische Establishment zum Handeln bewegen und die Korruption vielleicht doch besiegen kann. Erst als die Regierung den Gesetzentwurf von Hazare und seinen Vertrauten im Parlament eingebracht hatte, nahm der 74-Jährige wieder Nahrung zu sich.

Anna Hazare stammt aus einem winzigen Dorf im westindischen Bundesstaat Maharashtra. Er tritt stets in weißer Baumwollkleidung auf und trägt ein weißes Schiffchen auf dem Kopf, die traditionelle Bekleidung der Bauern. Hazare ist bodenständig, patriotisch und religiös; ein Mann aus dem Volk, der sich zu Höherem berufen fühlt und nach dem Vorbild Mahatma Gandhis lebt und handelt. Er verkörpert, was die als korrupt diskreditierte Elite des Landes zu sein verspricht, aber nicht einhält: Bescheidenheit, Uneigennützigkeit, Hingabe an das Gemeinwohl. Deshalb genießt er überall Respekt.

Zu Besuch bei einem fastenden Volkshelden: Eine sanfte Stimme bittet darum, in den knallbunten Hindutempel einzutreten. Ein kleiner Wandschrank und ein schlichtes Bettgestell machen die ganze Einrichtung aus. An der Wand hängt ein Bild des Mönches Swami Vivekananda, des Gründers des sozial engagierten Hindu-Ordens Ramakrishna Mission. In der Mitte des Raums sitzt Hazare und faltet die Hände zum Gruß. Das eigene Haus samt Ackerland hat er vor Jahren gemeinnützigen Zwecken gestiftet und ist in den kleinen Raum im Dorftempel gezogen. Mit leiser Stimme sagt er: „In den Behörden herrscht die Korruption von oben bis unten. Beamte bestechen ihre Chefs, damit sie einen besseren Arbeitsplatz erhalten. Berichte und Akten werden gefälscht, um für nicht getane Arbeit Geld in die eigenen Taschen zu stecken. Das ist wie eine Kettenreaktion, jeder hat daran Anteil.“

Dieser Besuch liegt schon 15 Jahre zurück. Damals hatte Hazare mehreren Ministern der Regionalregierung Rechtsbeugung zum eigenen Vorteil vorgeworfen und ihren Rücktritt gefordert. Am Tag des Interviews im Tempel fastete Hazare bereits seit 14 Tagen. Am selben Tag noch wurden die Minister für Landwirtschaft und Bewässerung „beurlaubt“, Hazare nahm abends wieder Nahrung zu sich.

Er habe keine Angst vor dem Tod, sagte er damals, denn er sei schon einmal gestorben. Mit 34 Jahren war Anna Hazare als Fahrer zur Armee gegangen. Während des Kriegs mit Pakistan überlebte er als einziger einen Bombenangriff auf eine Lastwagen-Kolonne. „Es war, als hätte ich ein neues Leben geschenkt bekommen, und es war so wunderbar, dass ich beschloss, dieses Leben in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.“ Das war beeinflusst von den Ideen Swami Vivekanandas: „So wie ich ihn verstand, meinte er, Gott existiere nicht nur im Tempel. Der beste Weg zu Gott besteht also darin, den Menschen zu dienen.“

Hazare kehrte 1975 zurück in sein Heimatdorf. Dort spaltete die Armut die Menschen, viele tranken. Hazare verzichtete auf Ehe und Familie, um sich ganz der Gemeinschaft zu widmen. Die Renovierung des Tempels war sein erstes Projekt. „Es macht keinen Sinn, über soziale Veränderungen zu reden, wenn die Menschen Hunger leiden. Ich musste zuerst für Arbeit sorgen“, erinnert er sich.

Seine Heimat liegt in einem Dürregebiet. Hazare organisierte Wasserräte, in denen Bauern eine gerechte Verteilung der kostbaren Ressource aushandeln. Er nennt seine Methode „Wasserernten“, in der Entwicklungspolitik ist sie als „Entwicklung von Wassereinzugsgebieten“ bekannt: Mit kleinen Wehren in Bachläufen und mit Erdwällen entlang der Hänge wird das Regenwasser am Abfließen gehindert und kann versickern. Schon nach wenigen Jahren steigt der Grundwasserspiegel. In Hazares Heimat hat sich die Natur erholt. Die Brunnen haben nun wieder Wasser und ermöglichen zwei Ernten im Jahr. Das Dorf ist heute ein blühendes Gemeinwesen.

In den 1980er Jahren fand die Methode zahlreiche Nachahmer. Die Regierung zeichnete Hazare mit Preisen aus und lud ihn ein, in staatlichen Entwicklungsprogrammen als Berater mitzuarbeiten. Auch ausländische Geldgeber nutzen die Methode für ihre Projekte. Doch „während der Arbeit als Entwicklungshelfer erfuhr ich, wie viel Geld durch Korruption verschwendet wird“, berichtet Hazare. Also müsse Entwicklungsarbeit Hand in Hand mit dem Kampf gegen Korruption gehen.

Mit Hilfe von Dokumenten, die ihm Bürger zuspielten, erhob Hazare in den folgenden Jahren immer wieder Anklage gegen leitende Bürokraten und Minister im Bundesstaat Maharashtra. Mehrmals trat er in den Hungerstreik, um seinen Forderungen nach Rücktritten Nachdruck zu verleihen – mit Erfolg. 1991 rief Hazare eine „Volksbewegung gegen Korruption“ ins Leben und verlangte eine Auskunftspflicht von Behörden. Damit war er ein Vorkämpfer für das Recht auf Information, das 2005 im Parlament verabschiedet wurde.

Im Jahr 2010 erschütterte dann eine Serie von Korruptionsskandalen Indien. In vielen Städten gab es Proteste, die vor allem von der Mittelklasse getragen wurden. Hazare erneuerte seine Forderung nach einer Anti-Korruptions-Behörde. Anwälte des Obersten Gerichtshofs, eine ehemalige Polizeioffizierin, ehemalige Spitzenbeamte und Bürgerrechtler unterstützen ihn.

Das „Team Anna“ ist keineswegs stets einer Meinung. Der Menschenrechtsanwalt Bharat Bhushan beispielsweise betont, ein Ombudsmann allein könne die Korruption nicht stoppen. Auch von anderer Seite kommt Kritik. Die renommierte Bürgerrechtsaktivistin Arundhati Roy wirft dem „Team Anna“ vor, dass es Gesetzesvorhaben ohne breite, öffentliche Debatte durchdrücken will. Der Entwicklungsexperte und Journalist Mukul Sharma erkennt bei Hazare autoritäre Tendenzen und ein altmodisches Weltbild. Die Regierung versucht, einzelne Mitglieder zu denunzieren, und schickt Steuerfahnder ins Haus.

Hazare sagt, der Kampf gegen Korruption müsse zehn bis fünfzehn Jahre lang geführt werden, um erfolgreich zu sein. Der erste Schritt ist nun auf dem Weg durch die Ausschüsse des Parlaments: das Gesetz zur Einrichtung eines Ombudsmanns gegen Korruption, der von einer großen Behörde mit umfassenden Vollmachten unterstützt wird. Hazare und sein Team werden darüber wachen, dass das Gesetz im Laufe der Beratungen nicht verwässert wird.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2011: Globalisierung: Auf dem Weg zur Einheitskultur?
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