Textilsiegel: Ehrgeiziger Zeitplan

Spagat zwischen den Interessengruppen muss gelingen
Spagat zwischen den Interessengruppen muss gelingen

Bis Ende des Jahres will Entwicklungsminister Gerd Müller ein Siegel für fair und umweltschonend produzierte Textilien einführen. Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen, vor allem wenn das neue Siegel den Massenmarkt erreichen soll und nicht nur die hochpreisige Nische. Dennoch kann das gelingen, meint der Entwicklungsexperte Roger Peltzer. Allerdings müssen sich beide Seiten von ihren Wunschvorstellungen verabschieden – die Textilhersteller ebenso wie die zivilgesellschaftlichen Initiativen für faire Kleidung.

Die Initiative des Ministers kommt zum richtigen Zeitpunkt. In der Öffentlichkeit ist das Bewusstsein gewachsen, dass die Zustände in einem großen Teil der Textilfabriken in Asien unhaltbar sind. Gleichzeitig sind Verbraucher, die nach Alternativen suchen, mit der Vielzahl von Initiativen für Öko- und Sozialstandards in der Textilindustrie überfordert. Als Renate Künast 2001 Verbraucherschutzministerin wurde, stand sie mit Blick auf den Markt für Bio-Produkte vor einem ähnlichen Problem: Dort konkurrierten eine ganze Reihe Standards, deren Unterschiede nur eingefleischten Ökologen vertraut waren. Mit der Einführung eines einheitlichen Dach-Biosiegels ist es gelungen, den Markt für Bioprodukte deutlich zu vergrößern.

Ein Textilsiegel könnte entwicklungspolitisch viel bewirken. Die Textilindustrie sowie die vorgelagerte Produktion der Rohstoffe bieten in vielen Entwicklungs- und Schwellenländer Millionen von Menschen Arbeitsplätze sowie die Chance, der Armut zu entkommen. Mit einem Siegel, das im Markt große Akzeptanz findet, könnte diese nachholende Industrialisierung sozialer und ökologischer gestaltet werden. Die Entwicklungspolitik könnte gemeinsam mit dem Verbraucherschutz Rahmenbedingungen setzen, die im Zweifel mehr bewirken als klassische Entwicklungshilfe.

Jede einzelne Produktionsstufe birgt soziale Risiken

Allerdings wird der Weg hin zu einem Textilsiegel, das große Teile des Massenmarktes abdeckt, nicht einfach. Anders als bei Bio-Eiern, fairem Kaffee oder Orangensaft umfasst die Produktion eines Kleidungsstückes nicht nur ein oder zwei, sondern sechs bis sieben Verarbeitungsstufen. Vom Baumwollfeld geht es zunächst in einen Entkörnungsbetrieb. Die Baumwollballen landen dann in einer Spinnerei, die das Garn herstellt.

Danach wird gefärbt, dann kommt der Zuschnitt und zuletzt werden die Kleider in den Fabriken in Bangladesch, Vietnam oder China genäht. Diese Wertschöpfungskette gliedert sich in Stufen, die über die ganze Welt verteilt sind.

Jede einzelne Produktionsstufe birgt ökologische und soziale Risiken. Bei der Baumwollproduktion werden giftige Pestizide eingesetzt, Böden werden ausgelaugt, es gibt Kinderarbeit und Bauern müssen um angemessene Löhne kämpfen. Die Arbeitsbedingungen in den Entkörnungsbetrieben mit vielen Saisonarbeitern interessieren bis jetzt kaum jemanden. Beim Färben der Stoffe werden oft giftige Farben eingesetzt. Die mitunter sehr schlechten Arbeitsbedingungen in den Nähbetrieben sind bekannt. Alle diese Aspekte bis Ende dieses Jahres mit einem Textilstandard abzudecken, ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Es wäre schon viel erreicht, wenn zunächst die ökologischen und sozialen Probleme beim Baumwollanbau und in den Nähbetrieben erfasst würden.

Die zweite Aufgabe besteht darin, den Spagat zwischen den verschiedenen Interessengruppen zu schaffen. Teile der Industrie werden für einen Mindeststandard plädieren, der lediglich festschreibt, was ohnehin schon praktiziert wird. Doch der sogenannte BSCI-Standard (Business Social Compliance Initiative), den die europäischen Textilhändler heute schon erfüllen müssen, hat sich als völlig unzureichend erwiesen: Er hat nicht einmal als Frühwarnung vor Mängeln beim Brandschutz oder der Gebäudesicherheit funktioniert.

Nichtstaatliche Organisationen und Gewerkschaften hingegen werden umgehend faire Löhne durchsetzen wollen, die mindestens das Existenzminimum sichern, den sogenannten „living wage“. Doch selbst die von der Kampagne für saubere Kleidung unterstützte Fair Wear Foundation räumt ein, dass in den von ihr zertifizierten Betrieben selten existenzsichernde Löhne gezahlt werden. Es ist schwer, einen für ganz Asien geltenden Mindestlohn festzuschreiben, der reicht, um eine Familie angemessen zu ernähren und unterzubringen.

Es kann außerdem volkswirtschaftlich schädlich sein, die Löhne in einem Industriezweig stark über das Niveau in anderen, nicht exportorientieren Sektoren anzuheben. Die Folge kann sein, dass etwa niemand mehr Grundschullehrer werden will und stattdessen alle als Vorarbeiter in Textilfabriken arbeiten wollen. Es ist wichtig, weiter eine auskömmliche Bezahlung zu fordern, doch höhere Löhne lassen sich nicht von heute auf morgen einführen, sondern können nur das Ergebnis einer längerfristigen Entwicklung sein.

Es muss um mehr gehen als unakzeptable Praktiken abzustellen

Erfreulicherweise hat sich die Diskussion über Öko- und Sozialstandards in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt. Alle Beteiligten sind sich zunehmend einig, dass es um mehr gehen muss, als lediglich bestimmte unakzeptable Praktiken in der Textilproduktion abzustellen, etwa die Verletzung von Mindestnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO.

Ein neuer Standard müsste mehr leisten: Er müsste sicherstellen, dass sich die ökologischen und sozialen Bedingungen, unter denen ein zertifiziertes Produkt hergestellt wird, kontinuierlich und nachweisbar verbessern. Bei der Zertifizierung würde dann nicht mehr vorrangig der Ist-Zustand geprüft, sondern das Bemühen der Verantwortlichen, die Verhältnisse zu verbessern.

Dafür müssen die zertifizierten Betriebe in Ausbildung, in Gebäude, in Sozialeinrichtungen wie Kinderkrippen und in höhere Löhne investieren. Ein fairer Deal zwischen Produzenten, Handel und Verbrauchern müsste deshalb so ausgestaltet sein, dass der Verpflichtung der Hersteller die Garantie von Handel und Verbrauchern gegenübersteht, die zertifizierten Produkte bevorzugt zu kaufen und sich außerdem an der Finanzierung der nötigen Investitionen zu beteiligen.

Es gibt Beispiele dafür, dass ein solcher Handel im Grundsatz funktionieren kann. So garantiert Cotton Made in Africa (CMiA), eine Initiative für zertifizierte Baumwolltextilien aus Afrika, dass bei der Produktion bestimmte Mindeststandards erfüllt werden, dass die beteiligten Unternehmen in die Qualifizierung der Baumwollbauern investieren, dass möglichst wenig giftige Pestizide eingesetzt und zugleich Schritte zur Steigerung der Bodenfruchtbarkeit unternommen werden.

Die Einzelhändler, die CMiA-Produkte verkaufen, müssen eine Lizenzgebühr zahlen, die in die Finanzierung solcher Investitionen fließt. Ein anderes Beispiel ist der sogenannte Bangladesh Accord on Fire and Building Safety – der Vertrag, mit dem sich 200 Textilfirmen verpflichtet haben, 50 Millionen Euro in einen besseren Brandschutz und in Gebäudesicherheit in Bangladesch zu investieren. Die Diskussion über einen Textilstandard kann auf diesen Erfahrungen aufbauen.

Sollte es Minister Müller gelingen, mit einer „Koalition der Willigen“ aus dem Handel und der Zivilgesellschaft einen Standard auf den Weg zu bringen, der Mindestanforderungen für die Rohstoffproduktion und die Nähbetriebe mit Investitionen in eine kontinuierliche Verbesserung der Produktionsbedingungen verbindet, dann wäre dies ein großer Schritt vorwärts. Ein solcher Standard würde schnell Anziehungskraft entwickeln, der sich kaum eine Handelskette entziehen könnte – vor allem wenn öffentlich gemacht würde, wer sich an die Spielregeln hält und wer nicht.

Ein solcher Standard müsste von allen Beteiligten als gemeinsamer Lernprozess konzipiert sein. In dem Maße, in dem sich bestimmte Kriterien bewähren und die Einhaltung überprüft werden kann sowie Wirkungen gemessen werden können, ergeben sich Möglichkeiten, einen Standard zusätzlich durch staatliche Regulierung zu stärken. Die Europäische Union könnte etwa Zollpräferenzen an die Einhaltung der geforderten Normen binden.

Roger Peltzer arbeitet als Abteilungsleiter bei der Deutschen Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) in Köln und ist an der Entwicklung und Verwirklichung des Textillabels Cotton Made in Africa beteiligt. Er gibt hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.

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