„Die Kulina lassen sich nicht so leicht unterwerfen“

Dialog mit Indigenen
Frank Tiss hat 15 Jahre bei Ureinwohnern im Nordwesten Brasiliens gelebt. Der niedersächsische Pastor erzählt, wie sie mit Missionaren umgehen und warum er keinen einzigen Kulina getauft hat.

Woran glauben die Kulina?
Sie haben animistische Glaubensvorstellungen. Einen monotheistischen Schöpfergott wie die Christen kennen sie nicht. Die ersten Menschen sind aus verschiedenen Kokos-Arten entstanden, also aus der Verwandlung einer Materie. Die Kulina gehen davon aus, dass nicht nur der Mensch, sondern auch Tiere und Geistwesen beseelt sind. Ihre Schamanen sind in der Lage, alles miteinander in Beziehung treten zu lassen. Durch sie als Mittler können die Geistwesen unter den Menschen wirken. Das ist vor allem bei Heilungsriten wichtig und bei Beerdigungen, weil das der Übergang von einer Daseinsform zu einer anderen ist.

Wann begannen die Versuche, sie zum christlichen Glauben zu bekehren?
Eine offensive Form von Mission hat in den 1960er Jahren begonnen, und zwar durch die US-amerikanische New-Tribes-Mission, die auch deutsche Mitarbeiter hat. Ich habe zwei von ihnen kennengelernt. Sie sind davon überzeugt, dass die Kulina mit ihrer traditionellen Religion ihr Seelenheil verspielen. Man will sie durch Worte gewinnen, versucht aber auch, ihre Lebensform zu beeinflussen. In einem der Kulina-Dörfer gibt es eine Missionsstation, der eine Krankenstation angeschlossen ist. Einer der Missionare sagte, er behandle niemanden mehr, der zuvor beim Schamanen war. Der ist für die Kulina bei Krankheiten der erste Anlaufpunkt. Laut den Dorfbewohnern hat der Missionar seine Drohung in einigen Fällen wahrgemacht.

Sie waren als Austauschpfarrer der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei deren brasilianischer Partnerkirche beschäftigt. Mit welchem Verständnis von Mission sind Sie nach Brasilien gegangen?
Die Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien hat 1982 den „Rat für Mission unter indigenen Völkern“ (COMIN) gegründet. Sein Ziel ist es, dass wir uns als Christen solidarisch an die Seite dieser Völker stellen, damit sie ihr Leben wieder selbst bestimmen können. Das geschah aus der Erkenntnis heraus, dass die traditionelle Art der Mission, fixiert auf die Bekehrung zum christlichen Glauben, mit Schuld ist an den Problemen der Indigenen. Mit seinem Einsatz für Landrechte, Bildung oder Gesundheit zielt der COMIN auf mehr als ihr Überleben, er möchte, dass sie „das Leben und volle Genüge haben sollen“, um es mit einem Bibelvers auszudrücken. Das hat mich fasziniert.

Die Kulina: Ureinwohner in Brasilien

Die Kulina zählen rund 7500 Menschen. Sie leben am Purus und Juruá und deren Nebenflüssen im Nordwesten Brasiliens und Peru. Sie sind das erste indianische Volk, das sein Land selbst so ...

Wie sind Sie mit den Kulina ins Gespräch über Religion gekommen?
Ich habe zuerst bei der Demarkation ihres Gebietes geholfen und anschließend bei der Weiterbildung von indigenen Dorfschullehrern mitgearbeitet. Erst später, nachdem ich ihre Sprache gelernt hatte und wir ein vertrauensvolles Verhältnis hatten, konnten wir über Glaubensfragen sprechen. Da ging es zunächst darum, Ängste gegenüber dem Christentum abzubauen. Mir war wichtig, dass sie sehen, dass sie eine eigene, lebendige Religion haben, die nicht minderwertiger ist als das Christentum. Sie haben nämlich oft zu hören bekommen, wenn jemand keine Bibel und keine Kirche hat, könne das keine richtige Religion sein. Und das haben sie selbst geglaubt. Ich habe gesagt, ihr braucht keine Bibel, weil bei euch die mündliche Tradition der Mythen noch funktioniert. Der Schamane ist euer Priester, der Dorfplatz eure Kirche.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie haben einen interreligiösen Dialog mit den Kulina geführt. Was heißt das?
Ich musste zunächst zeigen, dass christlicher Glaube dialogfähig ist. Denn das war für sie bislang der Glaube der Eroberer, derjenigen, die zerstören. Der Durchbruch kam, nachdem ich eine Hörzeitschrift ins Leben gerufen hatte. Für die Kulina ist Schrift nur der Schatten von Sprache, sie leben damit nicht so wie wir. Ich habe mit ihnen Beiträge über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten unserer Religionen aufgenommen. Das führte zu zahlreichen Kommentaren und Gesprächen. In Seminaren auf den Dörfern habe ich mit biblischen Texten gezeigt, wie Jesus lebte. Sie konnten kaum glauben, dass er nicht reich und mächtig war, sondern als einfacher Mensch unter einfachen Menschen lebte und sich um Randgruppen gekümmert hat. Ich musste ihnen sogar versichern, dass ich diese Geschichten nicht ihnen zuliebe erfunden habe. Sie stellten fest, dass Jesu Leben und Wirken etwas ganz anderes ist als das, was die Kirche oft daraus gemacht hat.

Hat sich jemand von ihnen für den christlichen Glauben entschieden?
Ich habe in 15 Jahren keinen einzigen Kulina getauft. Ich wollte ihnen nicht vermitteln, dass das Christentum besser für sie sei, sondern dass sie fähig sind, sich eine eigene Meinung über den christlichen Glauben zu bilden.

Sind die Kulina kritischer geworden gegenüber der traditionellen Mission?
Ja, das denke ich schon. Sie sind ein Volk, das sich nicht so leicht unterwerfen lässt. Ein Kulina kann wunderbare aus dem amerikanischen übersetzte Lieder singen, die von seiner Seelenrettung künden, und das kann in dem Moment für ihn richtig sein. Abends ist derselbe Mensch dann bei einem Ritual mit einem Schamanen dabei. Bei den Kulina hat das jahrzehntelange Wirken fundamentalistischer Missionare nicht viel gefruchtet. Die großen zahlenmäßigen Erfolge hatten sie bei ihnen nicht. 

Was haben Sie selbst gelernt?
Es war eine Begegnung auf Augenhöhe, mit offenem Ausgang. Der Dialog mit den Kulina hat meinen Blick geweitet – für ihre Art des Glaubens. Man muss sich genau anschauen, was ihre Religion enthält, um nicht vorschnell zu urteilen, es fehle ihnen etwas oder sie seien primitiv. Die Kulina sind sehr interessiert an anderen Menschen und sehr offen. Für sie gibt es nicht das eine Richtige oder das eine Falsche. In ihrer Kultur leben sie manches ganz selbstverständlich, was der christlichen Tradition im Ursprung wichtig war, etwa ein gleichberechtigter Umgang miteinander, ohne Hierarchien. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Frauen und Männern.

Warum sind Sie nach Deutschland zurückgekehrt?
Unsere drei Kinder sind in Brasilien geboren. Mit der höheren Schulbildung wäre es schwierig geworden, deshalb haben wir uns entschieden, zurückzugehen, wenn der Älteste das entsprechende Alter erreicht hat. Außerdem waren 15 Jahre für einen von der EKD entsandten Pfarrer schon die absolute Ausnahme. Ursprünglich waren nur neun Jahre vorgesehen.

Und wer führt Ihre Arbeit fort?
Niemand. Wir haben zwar zwei Nachfolger eingearbeitet, aber keiner von beiden wollte bleiben. Und die Arbeit des COMIN schrumpft auch, weil die Finanzierung immer schwieriger wird.

Haben Sie das Gefühl, Ihre Arbeit war vergebens?
Nein. Die Demarkierung bleibt, die Kulina haben jetzt ein klar umgrenztes Gebiet, auf das sie pochen können. Sie kennen ihre Rechte und wissen, dass es Behörden gibt, die verpflichtet sind, sie zu unterstützen. Und sie sind sich bewusst geworden, wie viel Potenzial sie haben, Probleme selbst zu lösen, mit ihrer kollektiven Art, die Dinge anzugehen, mit ihrem Gemeinsinn. Diese Erfahrung nimmt ihnen niemand.

Haben Sie noch Kontakt zu den Kulina?
Leider nicht. Internet und Mobilfunk gibt es bislang nur in dem Städtchen, in dem wir gelebt haben, in den Dörfern nicht. Man müsste sich eher Briefe schreiben. Aber die Schriftsprache ist nicht das Medium, über das man sich austauschen könnte. Außerdem findet Kommunikation im seltensten Fall unter vier Augen statt. Das Normale ist, dass man sich in einer Gruppe begegnet. Das haben wir dort als sehr schön und lebendig erlebt. Auf Distanz funktioniert es aber nicht.

Das Gespräch führte Gesine Kauffmann.

literaturtipp:
Frank Tiss: Nach dem Regenwald ein Dschungel
Fünfzehn faszinierende Jahre mit brasilianischen Ureinwohnern – und eine verwunderliche Rückkehr
Mabase-Verlag, Neuendettelsau 2016, 214 Seiten, 15 Euro

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Hallo, es gibt die Möglichkeit des Kontaktes. Das Projekt "Marinaha" ist ein Missionsprojekt, das aktuell dort bei den Kulina viel leistet: Bildung, Infrastruktur und auch Bekehrungen zum christlichen Glauben.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2017: Indigene Völker: Eingeboren und ausgegrenzt
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