Wenn nicht sein kann, was nicht sein darf

Die 1990er Jahre gelten als Jahre des weltweiten Wirtschaftsaufschwungs. Nordkorea aber erlebte damals die schlimmste Hungersnot seiner Geschichte. Die US-amerikanische Anthropologin Sandra Fahy hat mit Überlebenden gesprochen und ein beeindruckendes Buch darüber geschrieben.

Fünf Prozent der Bevölkerung, rund eine Million Menschen, sind im Nordkorea der 1990er Jahre verhungert. Wie es dazu kommen konnte, beschreibt Sandra Fahy kurz in der Einleitung und ausführlicher im Anhang ihres Buches; zu den Ursachen gehören der Verlust der Sowjetunion als Haupthandelspartner, fehlgeleitete Agrarreformen, die absolute Priorität des Militärs vor der Nahrungsproduktion und ganz einfach Überschwemmungen.

Besonders lesenswert sind aber die Erzählungen von über 30 Menschen, die aus ihrer nordkoreanischen Heimat geflohen sind und heute in Seoul oder Tokio leben. Sie füllen den Hauptteil des Buches. Diese Frauen und Männer verschiedenen Alters und aus unterschiedlichen Landesteilen kommen im Originalton zu Wort, von der Autorin behutsam mit Hinweisen auf kulturelle und politische Besonderheiten ergänzt. Dabei weist sie immer wieder darauf hin, dass vom Regime erzwungene Sprachregeln die Not der Menschen verleugneten. So erinnert sich der 45-jährigen Young-shik Kim daran, wie er im engsten Freundeskreis vom Tod seines Vaters erzählte, „der so wenig Reis hatte, dass er verhungerte“. Tags darauf klopfte die Geheimpolizei an seine Tür und machte ihm deutlich, dass sein Vater, der gerade erst 70 geworden war, seinem Alter und seinem hohen Blutdruck erlegen war. „In einem sozialistischen Staat stirbt niemand an Hunger. Pass also auf, was du sagst.“

Derlei Warnungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Folglich starben Tausende Menschen – unter ihnen viele Kinder, die unter den Augen ihrer Angehörigen dahinsiechten – an „Schmerzen“, „Herzversagen“, „Bluthochdruck“ oder „Infektionen“. Wer von Hunger sprach, da sind sich alle von der Autorin Befragten einig, verschwand binnen Stunden für immer von der Bildfläche. Dafür sorgte und sorgt noch immer das totalitäre Regime, das seine Spitzel überall hat.

Das führt die Autorin zu der Frage, die auch die Rezensentin bei der Lektüre ständig umtrieb: Warum bloß haben sich trotz der immer elender werdenden Zustände kaum Menschen gewehrt und gegen das Regime von Kim Jong-un erhoben? Fahy sieht den Grund dafür hauptsächlich in dem für Menschen, die außerhalb Nordkoreas leben, kaum vorstellbaren Grad an Repression. Nicht umsonst begännen Rebellionen und Revolutionen weltweit immer dann, wenn die Unterdrückung ein wenig gelockert werde – nicht in einem Herrschaftssystem, in dem drakonische Strafen für die geringsten Verstöße drohen wie im Nordkorea der 1990er Jahre. Dazu kommt, dass Informationen über die Ursachen des Hungers in dem von der Außenwelt abgeschotteten Land völlig fehlten. Immer wieder berichten Geflohene, wie erschüttert sie waren, als sie nach ihrem Grenzübertritt erfuhren, dass die Außenwelt Nordkorea mit Hilfslieferungen unterstützte und keinesfalls fortdauernd mit Waffengewalt bedrohte.

Versorgungsengpässe, wenn das Regime sie denn überhaupt einräumte, galten durchweg als „Prüfungen“, die das Volk auf seinem Weg zum wahren Sozialismus zu bestehen hatte. Dies sorgte zusammen mit dem immerwährenden Appell an die große Opferbereitschaft der Bevölkerung dafür, dass viele hungernde Menschen ihre Not nicht als Folge einer fehlgeleiteten und menschenverachtenden Politik sahen, sondern als notwendige Stufe auf dem Weg zum Sieg des nordkoreanischen Sozialismus. Dazu kommt, dass der Hunger, wie die Autorin dokumentiert, im Sinne der Mächtigen zunächst nur Einwohner betraf, die dem Regime in Pjöngjang geographisch und vor allem auch ideologisch eher fern standen.

Eine Möglichkeit, sich trotz allem ansatzweise auszudrücken, das illustriert Sandra Fahy wieder und wieder, ist schwarzer Humor. „Der Hunger verging im Laufe des Tages“, erzählt Jae-young Yoon: „Wir sagten uns: Früh morgens ist man hungrig. Das Mittagessen lässt man aus, und abends legt man sich einfach schlafen.“

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