Lasst die Militärs nicht allein

Afghanistan
Die Taliban sind laut den UN heute wieder so stark wie vor dem Einmarsch der internationalen Truppen Ende 2001. Trotzdem muss sich der Westen in Afghanistan weiter engagieren, nur mit anderen Mitteln als bisher.

Der Fall der Provinzhauptstadt Kundus Ende September war eine Blamage für die Kabuler Zentralregierung, allen voran den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani. Er hatte in Kundus und der umliegenden Provinz ein Modell für sein Sicherheitskonzept gesehen. Ausgerechnet dieses ist nun zum Rezept des Scheiterns geworden.

Die überraschende Einnahme von Kundus, wenn auch nur für ein paar Tage, zeigt, dass die Taliban weder durch den langen Krieg noch durch den Tod ihres Führers Mullah Omar an Kampfstärke verloren haben. Im Gegenteil. Geschickt nutzen sie die Handlungsunfähigkeit der durch politischen Zwist  zermürbten Zentralregierung aus. Das demoralisiert nicht nur die afghanischen Sicherheitskräfte, sondern untergräbt das ohnehin nur schwache Vertrauen der Bevölkerung in ihre Regierung. So kommt es, dass in einigen Regionen die Taliban als Ordnungsmacht allmählich wieder als Alternative dastehen. Das Versagen der Einheitsregierung, die in ein Lager des Präsidenten Ghani und eines seines Kontrahenten und sogenannten Geschäftsführers Abdullah Abdullah gespalten und handlungsunfähig ist, ist der beste Nährboden für die Erfolge der Taliban.

Bis zur Präsidentschaftswahl 2014, dem Ende der Ära des früheren Präsidenten Hamid Karsai, sah es noch anders aus. Damals war die Moral der afghanischen Truppen durchaus hoch. Immer wieder gelang es ihnen, die Taliban aus Landesteilen zurückzudrängen, in denen diese sich über Jahre eingenistet hatten. Nach jeder Heldentat fuhren in Kabul Autofahrer mit Fotos der Gefallenen hinter ihren Windschutzscheiben und Aufklebern wie „Unsere Helden“ herum.

Die USA fielen den Afghanen in den Rücken

Die afghanischen Wähler hatten im April 2014 unmissverständlich demonstriert, dass sie die Demokratie und den neuen afghanischen Staat wollen. Obwohl die Taliban drohten, die Wahlen zu stören, reihten sich am Wahltag hunderttausende Bürger vor den Wahllokalen auf. Es war die bislang größte Massendemonstration gegen Gewalt und Terrorismus in Afghanistan überhaupt. Der Wahltag wurde stolz als Niederlage der Taliban gesehen, weil die Menschen keine Angst vor ihnen gezeigt hatten.

Doch bereits kurz danach fiel ausgerechnet die führende Interventionsmacht USA den Afghanen in den Rücken. Überraschend kündigte Präsident Barack Obama aus innenpolitischem Kalkül heraus an, die US-Truppen frühzeitig vom Hindukusch abzuziehen. Den NATO-Verbündeten, darunter Deutschland, blieb nicht viel anderes übrig, als sich dieser überraschenden Wendung anzuschließen. Schließlich hatte es in Berlin und von Bundeskanzlerin Angela Merkel stets geheißen: Zusammen rein, zusammen raus. Das Versprechen, die Afghanen bis 2023 mit Truppen zu unterstützen, war vergessen.

Das löste Ängste in Afghanistan aus, die dazu beigetragen haben, das Vertrauen in den Westen und in die von ihm unterstütze Kabuler Demokratie zu untergraben. Zur gleichen Zeit tauchten in den afghanischen Ostprovinzen erste Berichte auf, dass der Islamische Staat (IS) nun auch in Afghanistan Fuß fasst. In Kabul wurde das von internationalen Militärs lange Zeit entschieden dementiert. Eine neue Gefahrenlage schien nicht in ihre Übergabepläne zu passen.

Mit dem Abzug der Tuppen bricht die Wirtschaft ein

Die neue Phase der afghanischen Geschichte, in der eigentlich bewiesen werden soll, dass das Land nach dreizehn Jahren kostspieliger Intervention stark genug ist, auf eigenen Füßen zu stehen, begann also mit hausgemachten Problemen, die bereits zu einer schweren Hypothek auf die Zukunft geworden sind. Pessimisten und Unkenrufer sollten recht behalten: Mit dem Abzug der internationalen Truppen droht in den USA und Europa auch der Wille zu versiegen, weiter in die Entwicklung des zerstörten Landes zu investieren. Internationale Organisationen verkleinern ihre Operationen, zahlreiche Hilfsorganisationen geben ihre Projekte mit verkleinerten Budgets in die Hände lokaler Mitarbeitender oder reduzieren ihre Präsenz dauerhaft. Auch die Finanzierung des Wiederaufbaus wird langsam, aber sicher zurückgefahren. Am Schlimmsten jedoch wirkte der Abzug der ISAF-Truppen auf die von der Intervention künstlich aufgeblasene Wirtschaft Afghanistans: Das Wirtschaftswachstum kollabierte von rund 13 Prozent im Jahr 2012 auf befürchtete Null in diesem Jahr.

Polizisten, Beamte und Soldaten haben seit Monaten keinen Sold und Lohn mehr erhalten. Was könnte schneller zu einer Zersetzung der sogenannten Wehrkraft beitragen als schiere Not? Hinzu kommt ein krasser Loyalitätskonflikt, der täglich durch die politische Kabale in Kabul geschürt wird. Die unklaren politischen Mehrheitsverhältnisse und der Mangel an Legitimität der Regierung führen dazu, dass überall im Land doppelköpfige Administrationen entstehen. Diese arbeiten zwar fleißig, aber nicht mit-, sondern gegeneinander.

Ränkespiele in Kundus

So war es auch in Kundus.Der Gouverneur von Kundus, ein Paschtune, ernannt vom Präsidenten Ghani, vertritt das paschtunische Netzwerk. Sein Stellvertreter sowie der Polizeichef hingegen, beide Tadschiken, sind von Ghanis Gegenspieler Abdullah ernannt worden. Statt wirksam zu regieren, verstrickten sie sich in Ränkespiele. Die gingen auch weiter, als die Taliban im April dieses Jahres bereits an die Stadtgrenze vorrückten. Die Taliban konnten ihren Angriff auf die Stadt also in unmittelbarer Nähe in Ruhe planen.

Ausgerechnet die staatlichen Strukturen, in deren Aufbau der Westen viel Zeit und Geld investiert hat, gefährden heute, da sie nicht funktionieren, Afghanistans Stabilität. Die westliche Öffentlichkeit beklagt völlig zu Recht die fatale Bombardierung des einzigen Krankenhauses in Kundus durch NATO-Kampfjets Anfang Oktober. Dennoch: Die größeren Probleme Afghanistans geraten einmal mehr aus dem Fokus.

Autor

Cem Sey

ist freier Journalist und lebt in Kabul. Er arbeitet vor allem für deutsch- und türkischsprachige Medien, darunter die Deutsche Welle und die „tageszeitung“.
Es reicht, wenn die Taliban oder schlimmer noch der IS größere Landesteile erobern und von dort aus ungehindert agieren, um Afghanistan erneut in die Schieflage zu bringen. Das wäre für die geopolitisch labile Region eine größere Gefahr, als es westliche Beobachter darstellen. Eine solche Entwicklung wäre gegen die Interessen einiger regionaler Mächte, darunter Russland, China, Iran und vor allem Indien und Pakistan. Diese Staaten würden nicht tolerieren, dass das empfindliche Gleichgewicht, das die westliche Intervention immerhin garantiert hat, von ihren Konkurrenten ausgenutzt wird. Was dann passieren könnte, demonstriert Wladimir Putin gerade in Syrien.

Deshalb diskutiert die NATO leise darüber, den Einsatz in Afghanistan doch noch zu verlängern und auszuweiten. Doch das würde nicht reichen. Dieses Mal muss der Westen mit allen Mitteln der Diplomatie versuchen, für Afghanistan eine regionale Lösung auszuarbeiten. Dazu gehören auch substantielle Verhandlungen mit den Taliban.

Westliche Politiker müssen sich diesen Aufgaben stellen. Sie müssen dazu etwas lernen, was sie bislang tunlichst vermieden haben: Sie müssen den Politikern in Afghanistan und der Region auf  Augenhöhe begegnen. Nur gemeinsam können neue Visionen für Frieden in Afghanistan entwickelt werden. Zu lange hat man diese Arbeit den Militärs überlassen und diese damit überfordert. Deren Instrumentenkasten, das ist seit Kundus klar, hat versagt.

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Ein nützlicher Schlüssel für das Verständnis der Probleme ist das Buch von Ahmed Rashid --Sturz ins Chaos-die Rückkehr der Taliban--. Das Buch wurde vor 10 Jahren geschrieben und beleuchtet anschaulich, warum militärische Interventionen weder Frieden noch Stabilität bringen.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2015: Blauhelme: Abmarsch ins Ungewisse
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