„Ihr habt uns aufgegeben“

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Katja Dorothea Buck
Joseph Kassab, Leitender Geistlicher der Synodenkirche für Syrien und Libanon, erklärt Bischof Ralf Meister an einer Landkarte aktuell diskutierte Teilungspläne für Syrien. Viele Christen lehnen die Teilung des Landes vehement ab.
Christen im Nahen Osten
Ralf Meister, der Bischof der Hannoverschen Landeskirche, musste sich bei einem Besuch im Libanon viel Kritik anhören. Auch an der deutschen Flüchtlingspolitik. Diese beschleunige das Ausbluten der Region.

Es ist kein einfaches Terrain, auf das sich Meister bei seiner Reise nach Beirut begeben hat. Seit Beginn des Arabischen Frühlings vor fünf Jahren zwingen Instabilität, Gewalt und Terror Millionen Menschen zur Flucht. „Der Massenexodus von Christen aus dem Irak und Syrien ist irreversibel“, sagt Paul Haidostian, der Präsident der Evangelisch-Armenischen Haigazian-Universität in Beirut. Diejenigen, die noch ausharren oder aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen nicht gehen können, hätten zunehmend das Gefühl, auf der Verliererseite zu stehen. Und: Die großzügige Flüchtlingspolitik Deutschlands beschleunige das Ausbluten der Region zusätzlich.

Auch Rima Nasrallah, Dozentin an der Near East School of Theology in Beirut, wird bitter, wenn sie auf dieses Thema zu sprechen kommt. „Wer jung und qualifiziert ist, überlegt sich nicht lange, ob er noch bleiben soll. Mit eurer Flüchtlingspolitik habt ihr den Nahen Osten aufgegeben und die Region den Armen, Kranken und den Kriegstreibern überlassen.“ Natürlich könne sie denjenigen, die gehen, keinen Vorwurf machen. Doch für die, die in ihrer Heimat an einer friedlichen Zukunft arbeiteten, werde es immer schwieriger.

Das bestätigt auch Mofid Karajili, der evangelische Pfarrer von Homs. Anfang 2012 wurde die Stadt von Rebellen eingenommen. Seine Kirche wurde damals zerstört, die Schule und das Altenheim, die zur Gemeinde gehören, lagen zwischen den Fronten. 70.000 Christen verließen damals die Stadt. „Als 2014 die Rebellen wieder abrückten, kamen nur 3000 zurück“, sagt Karajili. „Wir können nicht sagen, ob wir eine Zukunft haben. Wir wissen aber, was unsere Aufgabe ist.“ Er habe in der Jugendarbeit sogenannte „Space of hope-Teams“ gegründet, in denen Jugendliche aller Religionen zusammenkommen und in gemischten Teams sportliche Wettkämpfe veranstalteten. „In jeder Gruppe müssen Mädchen und Jungen, Muslime und Christen, Schiiten und Sunniten sein. Wenn sie gewinnen, gewinnen sie gemeinsam. Und wenn sie verlieren, verlieren sie gemeinsam“, sagt Karajili.

„Wir haben einen blinden Fleck gehabt“

Als Leitender Geistlicher der größten evangelischen Landeskirche in Deutschland musste Bischof Meister sich aber auch in anderer Hinsicht Kritik anhören. Die Christen aus dem Nahen Osten fühlen sich von den westlichen Kirchen im Stich gelassen. „Seit Beginn des Arabischen Frühlings versuchen wir Euch zu erklären, was für uns Christen auf dem Spiel steht. Aber ihr wolltet nie zuhören“, sagte Michel Jalakh, der Generalsekretär des Mittelöstlichen Kirchenrats (MECC). „Für uns hat der Westen seine Glaubwürdigkeit verloren.“ Seit der Gründung des MECC 1974 hätten sich die Kirchen immer wieder in Ausnahmesituationen befunden; jetzt drohe das Christentum nach 2000 Jahren im Nahen Osten ausgelöscht zu werden. „Wir brauchen nicht nur eure finanzielle Unterstützung, wir brauchen auch eure Fürsprache bei den Politikern eures Landes“, sagte Jalakh.

Die Gespräche zeigten Wirkung. Bei einer Vorlesung an der Near East School of Theology zur Flüchtlingskrise und den Kirchen in Deutschland schlug Meister nachdenkliche und selbstkritische Töne an. „Wir haben da bisher einen blinden Fleck gehabt“, sagte er und kam auch auf die Erklärung der Leitenden Geistlichen der 20 evangelischen Landeskirchen zur Situation der Flüchtlinge vom September 2015 zu sprechen. Meister selbst hatte am Wortlaut des Textes mitgearbeitet. „Nach den vielen Gesprächen in den letzten Tagen würde ich diese Erklärung heute anders formulieren“, sagte er vor rund hundert Zuhörerinnen und Zuhörern. Der Text sei zu unkonkret und gehe mit keinem Wort auf das besondere Schicksal der christlichen Flüchtlinge ein. Niemand habe bisher reflektiert, was es für die Christen des Nahen Ostens bedeutet, ihre Heimat zu verlassen. „Wir müssen stärker darüber nachdenken, wie wir unsere Geschwister im Nahen Osten unterstützen können, damit sie bleiben können.“

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erschienen in Ausgabe 2 / 2016: Seuchen: Unsichtbare Killer
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