Berliner Geisterbeschwörung

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Nato
Macron hat Recht: Europa kann sich nicht mehr auf die Nato verlassen, kommentiert Bernd Ludermann.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärt die Nato für „hirntot“ – und die Antwort aus Berlin ist wie erwartet: Die Bundeskanzlerin beeilt sich ebenso wie der Außenminister zu betonen, die Nordatlantische Verteidigungsorganisation sei für „unsere“ Sicherheit unverzichtbar. Mehr noch als an Paris ist diese Botschaft an Washington gerichtet und lautet frei übersetzt: Liebe USA, bleibt uns bitte gewogen!

Das ist Realitätsverweigerung. Die Frage ist heute nicht mehr nur, ob die USA im Falle eines Krieges den Verbündeten in Europa wie versprochen die eigene Armee zu Hilfe schicken würden – ein Versprechens, an dem es schon immer auch Zweifel gab. Dass Präsident Donald Trump Europa nicht mehr schützen oder für seinen Schutz zahlen lassen will, ist insoweit das im Grunde bekannte Problem. Ein ganz anderes und neues ist aber, dass in jüngster Zeit das dominierende Nato-Land, die USA, und dann auch das Nato-Mitglied Türkei die Sicherheit Europas aktiv untergraben.

Der erste Schritt war, dass Donald Trump ungeachtet dringender Einwände der Verbündeten aus dem Atomabkommen mit dem Iran ausgestiegen ist. Dann hat er den Vertrag mit Russland über das Verbot von Mittelstreckenraketen gekündigt. Der Einmarsch der Türkei in den Norden Syriens, den der US-Präsident zunächst billigte und dann zu bremsen versuchte, ist der jüngste und krasseste Fall. Wenn sich als Folge nun der Iran Atomwaffen zulegt oder Israel das gewaltsam verhindert, wenn ein neues Wettrüsten mit Mittelstreckenraketen beginnt oder in Syrien der Islamische Staat und Al-Qaida erstarken, dann wachsen die Gefahren für Europa.

Sicherheit in Europa kann nicht mehr in erster Linie auf militärischer Stärke beruhen

Auf all diese Entscheidungen hatte die Nato, deren Zweck der Schutz all ihrer Mitglieder ist, offenbar keinerlei Einfluss. Ganz zu schweigen davon, dass die Nato-Partner bessere Strategien für die gemeinsame Bewältigung der alle betreffenden Gefahren entwickeln würden. Zudem markiert der türkische Einmarsch in Nordsyrien möglicherweise einen welthistorischen Wendepunkt: Die USA haben den Anspruch aufgegeben und wohl auch die Fähigkeit verloren, regionale Sicherheitsordnungen etwa in Ostasien und im Nahen Osten einseitig militärisch zu garantieren – auch wenn die US-Armee die stärkste der Welt bleibt.

Die Nato „hirntot“ zu nennen ist also eine polemische, in der Sache aber treffende Diagnose aus Paris. Daran ändert auch nichts, dass Macron starke Worte liebt und Frankreichs Regierungen nie so viel von der Nato gehalten haben wie die deutschen: Paris hat für die Verteidigung des Landes und für weltpolitische Einflussnahme stets mehr auf eigene militärische Stärke gesetzt.

Dies ist ein sehr zweifelhaftes Rezept. Sicherheit in Europa kann nicht mehr in erster Linie auf militärischer Stärke beruhen – wenn sie das je konnte. Neue Konzepte für eine gemeinsame Friedenspolitik sind gefragt. Auch Macron hat die bisher nicht. Aber er wagt zumindest sich einzugestehen und auszusprechen, dass es nicht mehr taugt, die transatlantische Solidarität zum Kernpfeiler unserer Sicherheit zu erklären. Dieses Berliner Mantra wirkt immer mehr wie eine Geisterbeschwörung.

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