Kleinkredite – Hilfe oder Bürde?

Nora Belghaus
Cristina Mamani häkelt und verkauft mit Erfolg Wickeltücher. Das Geschäft hat es ihr ermöglicht, sich von ihrem trinkenden Mann zu trennen.
Bolivien
Mikrokredite bieten Frauen einen Weg aus Abhängigkeit und Armut, heißt es. Aber sie können das Los von Kreditnehmerinnen auch ­weiter verschlimmern, wie sich in Bolivien zeigt. 

Mit leerem Blick und krummem Rücken starrt Tatiana Quispe auf den Boden. Die kräftige 43 Jahre alte Frau, zwei geflochtene Zöpfe, ausladender Faltenrock, sitzt auf einem winzigen Klapphocker. Hinter ihr rauschen Autos und Minibusse vorbei, vor ihr drängen sich Männer und Frauen durch die enge Passage. Um sie herum eine Kakophonie aus Kindergeschrei, Hundegebell und Hupenlärm. Nur sie scheint still, wie eingefroren, an ihrem Arbeitsplatz auf einem Quadratmeter Bürgersteig, in einem Geschäftsviertel von Boliviens Hauptstadt La Paz.

Vor Quispe, die eigentlich anders heißt, stehen zwei randvolle Tragetaschen. Darin in Plastik verpackte Trockenware: Pulvermilch, Nüsse, Zucker, Mehl. Die bietet sie zum Verkauf. Sie hätte ein Tuch dabei, um sie darauf auszubreiten, aber Quispe ist auf der Hut. Das Ordnungsamt könnte jeden Moment auftauchen, dann muss sie rennen. Eine Stammkundin bleibt stehen, Quispe kramt eine Packung Kekse aus der Tasche. Am unteren Rand eine rote Aufschrift: „Verkaufen verboten“.

Tatjana Quispe sitzt in La Paz am Straßenrand und verkauft eingeschweißte Lebensmittel wie Nüsse und Mehl. Ihr Traum vom eigenen Laden mit Hilfe eines Mikrokredits hat sich nicht erfüllt.
Das, womit Quispe seit ein paar Jahren ihren Lebensunterhalt für sich und ihre vier Kinder verdient, gilt dem Staat als informell und illegal. Weil sie keine Steuern zahlt und weil sie subventionierte Produkte verkauft, die eigentlich Frauen mit Babys helfen sollen, über die Runden zu kommen. Doch auch die verkaufen diese Produkte an Frauen wie Quispe, weil sie das Geld brauchen, um Rechnungen zu zahlen oder Schulden zu begleichen.

Quispe verdient im Monat 2000 Boliviano, umgerechnet knapp 260 Euro. Damit liegt sie knapp unter dem gesetzlichen Mindestlohn. Aber Quispe kann ihren Job nicht leiden. Er sei unehrlich, sagt sie. Ende 2018 fasste sie deshalb einen Plan: Ein Mikrokredit soll ihr ihren Traum vom eigenen Geschäft erfüllen. Sie ahnte nicht, dass er großes Unheil über ihr Leben bringen sollte.

Eigentlich sollen Mikrokredite Menschen mit den niedrigsten Einkommen helfen, sich etwas aufzubauen. Weil Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft besonders von Armut und Abhängigkeit bedroht sind, hat sich vor 30 Jahren in La Paz, der der Nachbarstadt El Alto, eine nichtstaatliche Organisation (NGO) gegründet, die vor allem alleinstehende Frauen unterstützen soll. „Promujer“, zu Deutsch „Für Frauen“, vergibt heute in sechs Ländern Lateinamerikas Mikrokredite an Solidargemeinschaften zwischen 8 und 30 Mitgliedern. Die springen füreinander ein, wenn ein Mitglied seine Rate nicht zahlen kann. Über zwei Millionen Frauen nahmen 2018 an dem Mikrokreditprogramm teil, davon 123.000 in Bolivien, die Tilgungsrate lag bei 90,2 Prozent.

Zahlen, die mit Stolz erfüllen

Zahlen, die Sonia Aguayo mit Stolz erfüllen. Die stellvertretende Leiterin, 49 Jahre alt, führt in der Promujer-Filiale in El Alto in einen bestuhlten Raum mit kahlen Wänden. Hier finden für jede Kreditgruppe einmal im Monat zum Zahltag Bildungsvorträge statt. Vor 14 Jahren habe sie bei Promujer angefangen, als Anwerberin auf der Straße. Dort habe sie gelernt, dass es „neben der physischen auch viel ökonomische Gewalt gegen Frauen“ gibt. „Viele Männer hier denken noch immer, den Lebensunterhalt der Familie dürften nur sie bestreiten“, sagt sie.

Sonia Aguayo von der Organisation Promujer, die in sechs Ländern Lateinamerikas Mikrokredite vor allem an alleinstehende Frauen vergibt.

Eine Kundin von Promujer, die sich von ihrem Partner unabhängig gemacht hat, ist Cristina Mamani. Aufrecht und mit wachen Augen sitzt die 54 Jahre alte Frau auf einer Holzbank in einem etwa zehn Quadratmeter großen Zimmer am Stadtrand von El Alto. Ihr Blick ist auf die Häkelnadel in ihrer rechten Hand geheftet, die tanzend einen blassgelben Wollfaden zu Schlaufen zieht. Vor 25 Jahren lud sie eine Freundin zu ihrer Solidargemeinschaft bei Promujer ein. Bis dahin hatte sie mit ihrem Partner jahrelang vergeblich versucht, ihr Ladengeschäft zum Laufen zu bringen: Tischlerei, Zierfischhandel, Druckerei für Hochzeitskarten. Der Vater ihrer kleinen Tochter vertrank nach Feierabend die Einnahmen, Mamani wurde noch mal schwanger, doch im neunten Monat verlor sie das Kind. Sie wurde krank, Depression und Gastritis. Sie flüchtete sich ins Häkeln, häkelte Wickeltücher für ihr ungeborenes Kind. 

Als ihr die Freundin von dem Kredit erzählt, hat sie eine simple Idee, die ihrem Leben eine Wende geben wird: Wickeltücher verkaufen. Mamani wird Mitglied und bald Vorzeigeklientin von Promujer. Sie trennt sich vom trinkenden Partner, zieht mit ihrer Tochter in eine eigene Wohnung, häkelt und häkelt, spart und spart. Alle 28 Tage trifft sie am Zahltag die Solidargemeinschaft zum Bildungsvortrag in der Promujer-Filiale. Anfangs seien sie 20 Frauen gewesen, heute sind es nur mehr 8. „Es gibt immer welche, die es nicht schaffen“, sagt sie und fügt lächelnd hinzu: „Aber ich zahle immer pünktlich.“

Mayra Rojas geht es genau um jene Frauen, die es nicht schaffen. Rojas, 46 Jahre alt, sitzt im knallbunten Café des feministischen Kollektivs „Mujeres Creando“, zu Deutsch „Erschaffende Frauen“ in La Paz. Das 1992 gegründete Kollektiv ist wegen seiner provokanten Protestaktionen gegen die katholische Kirche landesweit bekannt. 2016 zogen die Frauen mit einem Wandbild auf einer Hausfassade die Aufmerksamkeit auf sich. Anstelle von Jesus hing dort eine nackte Frau am Kreuz. 2017 protestierten Angehörige des Kollektivs als Nonnen verkleidet vor der zentralen Kathedrale von La Paz für das Recht auf Abtreibung. Bei vielen ist das Kollektiv verschrien, als „zu radikal, hysterisch, besessen“.

Ein gnadenloses Geschäft mit der Armut von Frauen?

Seit 13 Jahren berät die Juristin hier ehrenamtlich Frauen, die sich mit einem Mikrokredit verrannt haben. Rojas sagt, hinter den Mikrokrediten verberge sich ein gnadenloses Geschäft mit der Armut von Frauen. 2010 haben sie und eine Ex-Ministerin für Entwicklung ein Buch darüber herausgebracht. Die 341 Seiten sind voller Beispiele für faule Kredite mit überhöhten Zinssätzen und Vorwürfen gegen ein perfides System.

Jede Woche kämen im Schnitt drei Frauen zu Rojas, weil sie ihre Kreditrate nicht zahlen können. Sie sind verzweifelt, sie haben Angst. Die meisten von ihnen alleinerziehend, mit drei, vier, manchmal mehr Kindern. Drohungen, Denunziation und öffentliche Demütigungen seitens der Kreditinstitute würden ihr geschildert, sagt Rojas. 

Das Grundproblem sei, dass die Kreditgeber sich nicht an die Regeln hielten. Viele Frauen würden vorher nicht ausreichend beraten, die meisten verstünden nicht, was in den Verträgen steht, oder könnten diese nicht einmal lesen, später würden sie mit der Verwaltung ihrer Finanzen allein gelassen. Die zunächst gering erscheinenden Zinssätze von im Schnitt 2,9 Prozent monatlich seien trügerisch. Wenn man diesen Satz aufs Jahr hochrechne, seien es die höchsten Zinssätze im Kreditwesen überhaupt.

Seit 2013 werden in Bolivien zwar alle kreditgebenden Institutionen stärker reguliert, um der Überschuldung zu begegnen. Doch das Gesetz sei „nur ein Stück Papier“, sagt Rojas. Das Kleingedruckte in den Verträgen sei so raffiniert formuliert, dass im Falle der wenigen Prozesse, zu denen es überhaupt komme, immer die Bank gewinne. Nicht selten fänden sich in den Verträgen höhere Zinssätze als gesetzlich erlaubt. „Diese Frauen haben keine Lobby“, sagt Rojas. 

Autorin

Nora Belghaus

ist Reporterin für Print- und Multi­media-Journalismus im In- und Ausland. Lateinamerika ist ihr regionaler Schwerpunkt.
Sonia Aguayo von Promujer, konfrontiert mit den Vorwürfen, die Rojas ihrer Stiftung macht, reagiert überrascht, dann nachdenklich, dann abwehrend. Die Frauen von Mujeres Creando seien „sehr extrem in ihren Ansichten“. Und viele Frauen machten sich gebildete Menschen wie Rojas gezielt zunutze, um von ihrer selbst verschuldeten Zahlungsunfähigkeit abzulenken. 

Ein Paradebeispiel für einen misslungenen Mikrokredit

Auch Tatiana Quispe, die stille Verkäuferin aus La Paz, hat sich von Rojas beraten lassen. Ihr Fall ist ein Paradebeispiel für einen misslungenen Mikrokredit. Als sich Quispe 2018 für einen Kredit entscheidet, glaubt sie, den üblen Teil ihres Lebens schon hinter sich zu haben. Mit 18 Jahren wurde sie zum ersten Mal schwanger, es folgten drei weitere Kinder. Ihr Partner schlug sie und manchmal auch die Töchter. 25 Jahre lang. Sie stritten, weil er nicht wollte, dass sie außerhalb von zu Hause arbeitete. 

Irgendwann schafft sie den Absprung. Sie lässt sich scheiden und macht einen Plan. Ein individueller Mikrokredit, also ohne Solidargemeinschaft, soll Quispe beim Neubeginn helfen. Ihr Vater bürgt mit den zwei Minibussen der Familie, mit denen Quispes Brüder wiederum ihren Lebensunterhalt verdienen. Gemeinsam gehen sie zur Banco Sol, der ersten staatlich regulierten Mikrobank Boliviens. Keine drei Tage nach dem Beratungsgespräch unterschreiben sie den Vertrag.

„Es ging alles so schnell“, sagt Quispe. 28.000 Bolivianos, umgerechnet 3629 Euro, abzubezahlen jeden ersten Dienstag im Monat bis Dezember 2022. Zu welchem Zinssatz, weiß sie nicht. Aber an ihren Plan erinnert sie sich genau. Sie wollte einen Laden für gebrauchte Autoteile aufmachen. Sie habe einmal gehört, dass damit viel Geld zu machen sei. „Diesen Traum hatte ich schon immer, und ich habe ihn auch heute noch“, sagt sie.

Doch Quispes Geschäftsidee geht nicht auf. Zu hoch ihre Fixkosten, zu wenig Kapital, um überhaupt richtig anzufangen. Und dann sind da ihre vier Kinder, die versorgt werden müssen. Wie die Zeit verrinnt auch das Geld. Hier eine feste Zahnspange für die jüngste Tochter, dort die Gebühren für die Ausbildung der Älteren. Am Ende verkauft Quispe wieder ihre subventionierten Produkte. Gerade so schafft sie es, den Kredit samt Zinsen monatlich abzubezahlen. 

Einen Monat Hausarrest – und nun?

Bis zu einem Tag im März 2019. Quispe muss damals Nachschub holen bei den Frauen mit den kleinen Kindern und den Subventionen. Aber Angestellte des Ordnungsamts ziehen mit der Polizei los, um dem illegalen Treiben ein Ende zu bereiten. Quispe wird festgenommen und erhält einen Monat Hausarrest. Nur mit einer Genehmigung habe sie das Haus verlassen dürfen. „Ich habe mich wie eine Kriminelle gefühlt“, sagt sie kaum hörbar. 

Noch schwerer wiegen die finanziellen Folgen. Einen Monat lang kann sie nicht arbeiten gehen. Der Kredit, der ihr Sicherheit bringen sollte, gräbt ihr nun mit jedem Zahltag ein Stück mehr den Boden unter ihren Füßen ab. Einen von zwei Goldohrringen habe sie schon ins Pfandhaus gegeben, um die Kreditraten zu zahlen, sagt sie mit gesenktem Blick und knetet ihr nacktes Ohrläppchen. Zahlte sie nicht, fiele ihre gesamte Familie mit ihr in den Abgrund von Armut und Schulden. 

Am nächsten Zahltag löst Quispe ihren zweiten Ohrring ein. Am Tag darauf sagt sie am Telefon ungewohnt hoffnungsvoll: „Diesmal war es richtig knapp. Aber ich bin schon so oft hingefallen, irgendwie stehe ich immer wieder auf.“ Wieder bleibt ihr genau ein Monat dafür.

 

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erschienen in Ausgabe 3 / 2021: Sport im Süden
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