Die Wirtschaft wächst, die Kinder bleiben klein

Arun Sankara/AFP via Getty Images
Mitarbeiterinnen des Anganwadi-Zentrums in Chennai zeigen Kindern, wie man sich die Hände wäscht, um sich vor Corona zu schützen. Die indische Regierung hat das Geld für diese Mutter-Kind-Zentren in den vergangenen Jahren deutlich gekürzt.
Indien
Kinder sind in Indien erschreckend häufig mangelernährt. Fachleute sehen Ursachen dafür in falschen politischen Prioritäten und in der Diskriminierung von Frauen.

Die jüngsten Daten zur Unterernährung von Kindern in Indien lassen bei Experten die Alarmglocken schrillen. Denn statt Fortschritten zeigen sie, dass in sieben der zehn größten Bundesstaaten der Anteil der untergewichtigen Kinder steigt, in sechs davon auch der Anteil der Kinder mit körperlicher Entwicklungsverzögerung.

Die Daten stammen aus dem ersten Teil von Indiens neuester fünfter Erhebung zur Familiengesundheit (National Family Health Survey, NFHS). Seit den 1990er Jahren gehören diese in unregelmäßigen Abständen durchgeführten Umfragen zu den wichtigsten Datenquellen zu Gesundheit, Ernährung und Sterblichkeit. Wegen der Corona-Pandemie konnte die Erhebung für NFHS-5 allerdings noch nicht abgeschlossen werden. Die indische Regierung hat daher im Dezember 2020 nur den ersten Teil der Daten veröffentlicht, der sich auf 22 der insgesamt 28 indischen Bundesstaaten und Territorien bezieht.

Die wenigsten Fachleute hatten wirklich günstige Ergebnisse erwartet, doch das Ausmaß von Stagnation und Rückschritt kam doch für viele überraschend: In den erfassten Bundesstaaten und Territorien wurde bei mindestens 22 Prozent der Kinder eine körperliche Entwicklungsverzögerung oder eine für ihr Alter zu geringe Körpergröße festgestellt. In zweien, Meghalaya und Bihar, waren über 40 Prozent der Kinder im Wachstum zurückgeblieben.

Wirtschaftswachstum kommt bei den Ärmsten nicht an

Auch der Welthunger-Index bescheinigt Indien ein „ernsthaftes Hungerproblem”: Im neuesten Index rangieren Bangladesch und Nepal, zwei Nachbarstaaten Indiens, gemeinsam auf Platz 76, Indien aber auf Platz 101. Dabei hat Indien drei Jahrzehnte anhaltenden Wirtschaftswachstums hinter sich und seine Regierung ist entschlossen, eine führende Rolle in Asien einzunehmen. Offenbar kommt das Wirtschaftswachstum nach wie vor nicht bei den ärmsten Schichten an. Begrenzte Erfolge zeigen sich nur unterhalb der nationalen Ebene und in der Tatsache, dass über das Problem zumindest ein offenerer Dialog geführt und mehr Energie in seine Lösung gesteckt wird als in der jüngeren Vergangenheit. Ob das ausreicht, um die von der Corona-Pandemie verursachten Rückschläge für das Land zu überwinden, bleibt abzuwarten.

Die neuen Daten belegen keine Fortschritte im Kampf gegen die Unterernährung – dennoch gibt es in Indien wichtige Programme, die entscheidende Verbesserungen bringen könnten. Dazu zählen vor allem die Integrierten Dienste für Kindesentwicklung (Integrated Child Development Services, ICDS), eine der größten Initiativen zu diesem Zweck weltweit. Sie umfassen Ernährungs- und Impfprogramme, Gesundheitschecks und, was von entscheidender Bedeutung ist, Nahrungsergänzungsprogramme für schwangere und stillende Frauen sowie für Kinder unter sechs Jahren.

Autorin

Namrata Kolachalam

ist Autorin und lebt in Mumbai, Indien.
Ein weiteres Programm, das 2018 Premierminister Narendra Modi gestartet hat, setzt Techniken wie SMS-Nachrichten, Apps und Internet-Dashboards ein, um ein genaueres und stets aktuelles Bild über die Versorgungslage der Bevölkerung zu erhalten. Nicht zuletzt gibt es Indiens Schulspeisungsprogramm, das allen Kindern in staatlichen Bildungseinrichtungen ein kostenloses warmes Mittagessen garantiert. Eine jüngst in der Online-Fachzeitschrift „Nature Communications” erschienene Studie hebt den generationsübergreifenden Nutzen dieses Programms hervor: Sie weist nach, dass Mädchen, die in der Schule freies Mittagessen erhalten haben, später eher Kinder mit einem gesunden Körpergewicht zur Welt bringen. Da die hohe Rate an Wachstums- und Entwicklungsverzögerungen infolge schlechter Ernährung zu den größten Problemen Indiens zählt, ist dies ein wichtiger Beleg für die Wirkung des Schulspeisungsprogramms.

Nach zehn Monaten Corona-Lockdown und geschlossener Schulen servieren Lehrerinnen im Februar im südindischen Hyderabad wieder Mittagessen.

Benachteiligte Frauen ziehen benachteiligte Kinder auf

Fachleute plädieren deshalb dafür, Hilfsprogramme gegen Unterernährung bei Kindern geschlechtsspezifisch anzulegen. Dazu gehört, Mädchen vor Kinderehen und frühe Schwangerschaften zu schützen, die Ernährung für Frauen zu verbessern und für schwangere Frauen sicherzustellen, dass sie ausreichend Nährstoffe und kalorienreiche Nahrung erhalten.

Der in Belgien geborene indische Ökonom Jean Drèze erklärt, dass andere asiatische Staaten wie China und Vietnam manche dieser Probleme viel besser im Griff haben, weil sie robustere Sozialdienste besitzen. Allerdings findet er den Vergleich mit Bangladesch und Nepal aussagekräftiger, weil auch diese Länder in Südasien liegen und vergleichbar arm sind. „In Sachen Kinderernährung stehen sie besser da als Indien, obwohl Indien in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten erheblich reicher geworden ist. Das hat viel damit zu tun, dass die Indikatoren zum Verhältnis der Geschlechter dort viel besser aussehen”, sagt er. Das gelte zum Beispiel für den Anteil berufstätiger Frauen und für die Gleichstellung von Jungen und Mädchen beim Zugang zur Grundschulbildung.

Wenn Mädchen ermutigt werden, am Wirtschaftsleben teilzunehmen, statt vom Schulbesuch oder der Erwerbstätigkeit abgehalten zu werden, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie untergewichtige Kinder gebären, welche Probleme haben, Gewicht aufzuholen und eine durchschnittliche Körpergröße zu erreichen. Es ist ein Teufelskreis, in dem benachteiligte Frauen benachteiligte Kinder aufziehen. Er macht es armen Frauen außerordentlich schwer, ihre Kinder vor gesundheitlichen und kognitiven Problemen zu bewahren, die sich aus Unterernährung ergeben. 

Tief verwurzelte patriarchalische Strukturen

Purnima Menon vom entwicklungspolitischen Forschungsinstitut International Food Policy Research Institute (IFPRI) meint, dass „Frauen an der Wachstumsgeschichte Indiens nicht beteiligt sind”, vor allem verglichen mit anderen Ländern der Region. Das ist verwunderlich, da Indien seit den 1990er Jahren ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum erzielen und 300 Millionen Menschen aus extremer Armut befreien konnte. Dennoch gehen nur 21 Prozent der Frauen einer bezahlten Beschäftigung nach, eine der niedrigsten Raten weltweit. Zum Teil erklärt sich dies dadurch, dass Mädchen und Frauen nach wie vor vermittelt wird, sie sollten zu Hause bleiben und für ihre Familien sorgen – ganz im Sinne tief verwurzelter patriarchalischer Strukturen.

Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und der Lebensqualität, die viele in Indien erfahren. „Das BIP sagt nichts über die Verteilung des Wohlstands aus – es hat wenig damit zu tun, was ein einzelner Haushalt tatsächlich zur Verfügung hat”, sagt Varna Sri Raman, Leiterin des Forschungsbüros von Oxfam Indien. „Das BIP überdeckt die Ungleichheit.” Obwohl etwa ein Drittel der Bevölkerung in Gefahr sei, in „extreme Armut” abzurutschen, könne das reichste Segment der Gesellschaft Steuergeschenke einheimsen, während die Ärmsten leer ausgingen, sagt sie.

Das hat damit zu tun, wo die Regierung ihre Prioritäten setzt. Das Geld, das für die Bekämpfung der Gesundheits- und Ernährungsprobleme bereitgestellt wird, reicht einfach nicht, um die Lage der Schwächsten in Indien spürbar zu verbessern, darunter viele Kinder. Das Budget für die Integrierten Dienste für Kindesentwicklung (ICDS) wurde mehrfach zusammengestrichen, allein 2015–2016 um sieben Prozent. Im jüngsten Staatshaushalt sind die Nahrungsbeihilfen insgesamt um 27 Prozent zurückgegangen. Das heißt auch: Das Personal dieser Programme leidet unter schlechter Bezahlung und Mangel an Arbeitsmitteln, was die Fortführung dieser Regierungsprogramme weiter infrage stellt.

Das Anganwadi-Programm

Ein Beispiel ist das 1975 vom ICDS ins Leben gerufene Anganwadi-Programm, das Hunger bekämpfen und die Gesundheit von Frauen verbessern soll. Anganwadi – auf Deutsch etwa „Schutzdach“ – verteilt Lebensmittel und bietet medizinische Versorgung, Vorschulerziehung und Impfungen. Die über das ländliche Indien verteilten Anganwadi-Zentren haben großes Potenzial, die Gesundheit in Gemeinschaften einfacher Leute zu verbessern. 

Im September demonstrieren Mitarbeiterinnen der Mutter-Kind-Zentren für höhere Löhne und mehr Anerkennung ihrer Arbeit.

Allerdings sind die Anganwadi-Angestellte hoffnungslos unterbezahlt – manche erhalten  umgerechnet nur 40 US-Dollar im Monat – und sind völlig überlastet. Das US-amerikanische National Bureau of Economic Research hat in einer jüngst veröffentlichten Studie gezeigt, dass schon eine einzige Zusatzkraft pro Anganwadi-Zentrum im Bundesstaat Tamil Nadu die Ernährung und Bildung der Kinder erheblich verbessern würde. Doch statt die Mittel für dieses hoch rentable zusätzliche Personal zur Verfügung zu stellen, wurde das Geld für Kinderernährung seit 2015 gekürzt. „Schaut man sich den kumulativen Effekt an, so ist das Budget der ICDS, zu dem das Anganwadi gehört, real um 40 Prozent gesunken”, sagt Drèze. 

Die höchsten Kasten betrachten Eier als unrein

Erschwerend kommt hinzu, dass das Thema Essen mittlerweile stark politisiert ist. In einer zunehmend gespaltenen politischen Landschaft werden Maßnahmen, für die Expertenmeinungen ausschlaggebend sein sollten – etwa, was „gesundes Essen” ist –, zu moralischen Debatten über die richtige vegetarische Lebensweise. Denn das Kastensystem, eine alte Form von Unterdrückung und Sozialkontrolle im Hinduismus, ist immer noch stark, obwohl es per Gesetz abgeschafft ist; und die höchsten Kasten ernähren sich strikt vegetarisch, insbesondere Rindfleisch ist tabu. In jüngerer Zeit werden nun auch Eier als unrein betrachtet – mit weitreichenden Folgen.

Eier sind ein ideales Nahrungsmittel für Kinder in Indien, denn sie sind preiswert eiweißreich. Leider bietet nur ein Drittel der Bundesstaaten, hauptsächlich im Süden und Osten des Landes, Schulkindern Eier zum Mittagessen an – manche einmal pro Woche, andere fünfmal. Viele Staaten, die von der nationalistischen Bharatiya Janata Party von Premierminister Narendra Modi regiert werden, bieten zum Schulessen keine Eier an. Als in Madhya Pradesh die Kongresspartei vor einigen Jahren vorschlug, Eier auf den Speiseplan der Schulessen zu setzen, hagelte es Kritik von der BJP. Einer ihrer Führer erklärte: “Das macht Kinder zu Kannibalen.”

Menon ist jedoch überzeugt, dass sich die Lage durch entschlossenes politisches Handeln deutlich verbessern lässt. Sie hat sich genau angesehen, wie Bundesstaaten wie Gujarat, Chhattisgarh, Odisha und Tamil Nadu 2005 und 2006 sowie 2014 und 2015 die Fälle von Wachstumsverzögerung verringern konnten. Ergebnis: „Wichtig ist ein klares Ziel. Und das hatten diese Bundesstaaten auf oberster Ebene.” Hinzu kamen kompetente Partner in und außerhalb der Bürokratie. Auch waren die politischen Verhältnisse tendenziell stabiler. Eine Wahlperiode dauert in den Bundesstaaten fünf Jahre – gewinnt eine Partei zwei Wahlen in Folge, hat sie mindestens zehn Jahre Zeit, ihre Programme umzusetzen, statt dass ihre Arbeit gleich von einer neuen Regierung unterlaufen wird. In politischer Kontinuität sieht Menon einen großen Vorteil für die Bekämpfung der Unterernährung

Kleine Fortschritte dank der Entschlossenheit der Politik

Im Allgemeinen leiden Kinder in den nordöstlichen und zentralen Staaten öfter unter Hunger als in anderen Landesteilen. Das hängt in vielen Fällen eng mit dem Zustand der Wirtschaft zusammen. Bihar zum Beispiel ist ein sehr armer Bundesstaat und hat die drittgrößte Bevölkerungszahl; die Zahl der Zahl im Wachstum zurückgebliebenen Kinder ist hoch und jede Verbesserung dort würde die Perspektiven für ganz Indien verändern, sagt Menon. Und anders als andere arme und große Bundesstaaten macht Bihar anscheinend tatsächlich Fortschritte dank der Entschlossenheit der Politik: Seit 2015/16 ist dort der Anteil der Kinder mit Wachstumsverzögerungen leicht von 48,3 Prozent auf 42,9 Prozent gesunken.

Inzwischen sind die unterbrochenen Erhebungen für den NFHS-5 wieder aufgenommen worden. Fachleute erwarten aber nicht, dass die Zahlen erheblich von den vorläufigen Ergebnissen abweichen. Die Corona-Pandemie hat die Lage nur noch verschlimmert, denn sie hat das Leben der ärmsten Familien noch schwerer gemacht. Ende September 2021 waren die Anganwadi-Zentren immer noch geschlossen, so dass die Mahlzeiten, die sie anbieten, nicht effektiv verteilt werden konnten. Die meisten Schulen hatten den Präsenzunterricht noch nicht wieder aufgenommen, so dass die Schulspeisung ausfiel. Angesichts der Tatsache, dass viele Familien ihre Kinder hauptsächlich wegen des Essens zur Schule schicken, ist das ein großes Problem.

Die Regierung hat die Programme angepasst, beispielsweise indem sie das Essen den Familien nach Hause bringen lässt. Doch so kommt es nicht unbedingt bei den Kindern an. Oft werden die bescheidenen Portionen der Kinder dann unter der gesamten Familie geteilt. Corona war ein schwerer Schlag für Indiens Ernährungsprogramme. In Umfragen geben zwei Drittel der Befragten an, weniger nahrhaftes Essen zu haben als vor dem Lockdown.

Fachleute halten die Situation der Kinderernährung in Indien für sehr bedenklich und sehen die Ungleichheit eher zu- als abnehmen. Immerhin scheint aber auch das Problembewusstsein zugenommen zu haben, und kleine Erfolgsgeschichten bestärken die Verantwortlichen darin, dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu widmen. „Ständig hört man nun Politiker über Ernährung reden”, sagt Menon. „Das war vor zehn Jahren noch nicht so.”

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann

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erschienen in Ausgabe 12 / 2021: Das Spiel der großen Mächte
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