Der Krieg schweißt zusammen

Khalid Al-Banna
Rages Ghaleb ist mit seiner Familie aus Taiz geflüchtet und lebt jetzt mit Hunderten anderen Familien in einem Flüchtlingslager. Dort ist die Solidarität sehr stark.
Jemen
Der Krieg, der im Jemen seit 2015 tobt, hat noch mehr Menschen als zuvor in tiefe Not gestürzt. Gegenseitige Hilfe, vor allem in der Familie und unter Nachbarn, ermöglicht vielen das Überleben.

Seit dem Ausbruch des Krieges im Jemen im Jahr 2015 ist die Zahl der Bedürftigen stetig gestiegen und auch die wirtschaftliche Lage des Landes hat sich weiter verschlechtert. Zugleich hat sich aber auch eine unglaubliche Solidarität unter den Jemeniten entwickelt. Diese hilft den Menschen, trotz aller Schwierigkeiten weiterzumachen und die Hoffnung nicht zu verlieren. 

Im Jahr 2022 sind laut Angaben des UN-Welternährungsprogramms von den insgesamt 30,5 Millionen Jemeniten etwa 20,7 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen . Vor dem Krieg waren „nur“ rund 15,9 Millionen Menschen in irgendeiner Form auf humanitäre Hilfe angewiesen. Der starke Anstieg der Zahlen hat verschiedene Gründe. So sind die Preise dramatisch gestiegen, Menschen haben ihre Arbeitsplätze verloren oder Familienmitglieder, die die Hauptverdiener waren, sind gestorben oder vertrieben worden. 

Der 48-jährige Murad Thabit ist Lehrer an einer Grundschule im Gouvernement Ibb, aber wie alle anderen Angestellten des öffentlichen Dienstes in den nördlichen Gouvernements hat auch er seit 2016 kein reguläres Gehalt mehr erhalten. Unter diesen Umständen ist es für ihn schwierig, seine siebenköpfige Familie zu versorgen. „Als das Gehalt für den ersten Monat gestoppt wurde, hatte ich Angst, dass meine Kinder verhungern könnten, da ich keine andere Einkommensquelle habe“, erzählt Thabit. 

Auch der Cousin in Saudi-Arabien hilft

Also verließ er Ibb, kehrte in die Nähe seines Heimatdorfes im Gouvernement Lahij zurück und versuchte dort, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Doch damit hat er keinerlei Erfahrung und Landwirte stellen lieber erfahrene Arbeiter ein, deshalb ist er jetzt arbeitslos. „Ich habe auch versucht, auf dem Bau zu arbeiten, aber ich habe keinen Job bekommen, weil andere besser sind als ich“, sagt er. Während er sich mühte, Arbeit zu finden,  erhielt er einen Anruf von einem Cousin in Saudi-Arabien. „Er teilte mir mit, dass er mir 500 saudische Riyal (131 US-Dollar) schicken werde. Ich war sehr glücklich, und als ich das Geld bekommen hatte, konnte ich meine Familie mit dem Nötigsten versorgen.“ Thabit hatte seinen Cousin seit mehr als fünf Jahren nicht mehr angerufen, aber der Cousin erfuhr von seiner Schwester von Thabits Problemen und schickte das Geld an sie.

Nicht nur sein Cousin hilft ihm, erklärt Thabit, sondern auch einige Nachbarn, die im Ausland oder als Geschäftsleute reich geworden sind und mit Lebensmitteln, Baumaterial oder Plastikartikeln handeln. So gelinge es ihm, seine Familie zu versorgen. Die Angestellten des öffentlichen Dienstes, so wie er, seien auf diese Hilfe angewiesen, da sie keine Gehälter mehr bekommen. Die Regierung hat 2016 aufgrund der Wirtschaftskrise die Gehaltszahlungen für die öffentlichen Bediensteten in den nördlichen Gouvernements eingestellt, so dass sie jetzt nur noch ein Monatsgehalt pro Jahr erhalten. Die Weltbank schätzt, dass einer von zehn Menschen im Jemen vollständig auf Geldtransfers angewiesen ist, um seine Grundbedürfnisse decken zu können. 

Die Zakat geht direkt an Bedürftige

Thabit, der in der Schule Islamwissenschaft unterrichtet hat, erklärt, dass der Islam die Muslime ermutigt, sich gegenseitig zu helfen, besonders in schwierigen Situationen. „Es ist ein Grundpfeiler des Islam, die Zakat zu zahlen, wobei Verwandte und Nachbarn als Empfänger Vorrang haben“, fügt er hinzu. Die Zakat, eine Abgabe für Bedürftige, wird direkt an diese gezahlt, außer wenn große Unternehmen sie geben – die sollen sie an die Regierung abführen. „Darüber hinaus fordert der Islam reiche Menschen auf, Sadaqah zu zahlen“, sagt Thabit. Das ist eine freiwillige Wohltätigkeit – ebenfalls direkt an arme Begünstigte –, während Zakat verpflichtend ist. „Der Islam verspricht denjenigen, die die Zakat zahlen, dass sie in den Himmel kommen, weswegen viele dies heutzutage tun.“

Almosen zu zahlen ist ein Gebot des Islam; hier beten Gläubige ­während des Ramadan im April 2021 in einer Moschee in Taiz. 

Vor allem Jemeniten, die nach Saudi-Arabien ausgewandert sind, helfen auch bedürftigen Menschen, die nicht mit ihnen verwandt sind. Die meiste Hilfe verteilt sich jedoch auf Verwandte, denn „es ist gesellschaftlich nicht akzeptiert, Fremden zu helfen, wenn die eigenen Verwandten in Not sind“, so Thabit. Die Abhängigkeit der jemenitischen Haushalte von Geldüberweisungen hat während des Krieges deutlich zugenommen. Laut ACAPS (einem unabhängigen Informationsdienstleister mit Sitz in der Schweiz) haben die Überweisungen den Haushalten geholfen, die allgemeinen sozioökonomischen Schocks zu bewältigen, die das Land erschütterten. Darunter fallen zum Beispiel die starke Abwertung der lokalen Währung, Einkommensverluste, die Inflation und steigende Arbeitslosigkeit.

„Allah schickt jeder Familie zumindest einen Helfer“

Als der Krieg im Jemen ausbrach, gingen viele Händler bankrott und andere verloren einen Teil ihres Geschäfts. Große Gebäude wurden beschädigt und die Bewohner einiger Städte wie Taiz flohen in sicherere Gebiete und ließen ihr Hab und Gut zurück. Abdulhakim Hassan, 53, ist einer von ihnen. Er arbeitete als Buchhalter in einem lokalen Unternehmen in Taiz. Dieses wurde aber 2015 geschlossen, als die Kämpfe in der Stadt ausbrachen und das Gebäude in Mitleidenschaft gezogen wurde. „Ich bin noch am selben Tag mit Geschäftsleuten aus unserem Dorf aus Taiz geflohen. Wir haben uns dann alle in alte Häuser im Dorf zurückgezogen, die damals sicher waren“, erzählt Hassan. „Unsere Lage war sehr schlecht und einige reiche Leute aus dem Dorf teilten mit uns das gleiche Leid.“

Autorin

Amal Mamoon

ist Journalistin im Jemen.
Später verließen einige der Geschäftsleute den Jemen, andere arbeiteten in sicheren Gouvernements. Doch einige von ihnen haben die schwierigen Tage, die sie mit ihren Nachbarn geteilt haben, nicht vergessen. „Einige der Geschäftsleute aus unserem Dorf haben mir und anderen Arbeitslosen geholfen und eine wichtige Rolle dabei gespielt, unser Leid zu lindern“, sagt Hassan. 

Heute genieße er ein friedliches Leben in seinem Dorf, auch wenn er keine Arbeit mehr habe, sagt Hassan. „Mein jüngerer Bruder hat ebenfalls einen guten Job und hilft mir monatlich“, fügt er hinzu. „Ich kann sagen, dass Allah jeder Familie zumindest einen Helfer schickt.“

Die Geflüchteten leben wie eine große Familie zusammen

Mohammed Ali, ein Geschäftsmann um die 70, der einige Häuser in der Stadt Taiz besitzt, ist der Ansicht, dass der Krieg den Jemeniten viele Dinge beigebracht hat – und Solidarität spiele da eine besondere Rolle. „Ich habe einige Häuser und Geschäfte, aber vor dem Krieg war mir die Sadaqah und die Hilfe für andere egal. Doch der Krieg hat uns das Leiden unserer Brüder spüren lassen, auch weil wir es selbst eine Zeit lang miterlebt haben“, sagt er. 

Ali hilft nun einigen seiner Verwandten, aber gelegentlich auch Familien aus anderen Gebieten und Minderheitengruppen. Dazu gehören beispielsweise die Muhamasheen, eine Gemeinschaft, deren Mitglieder traditionell als Diener in der Gesellschaft wahrgenommen werden, die sehr niedrige Arbeiten verrichten und besonders arm sind. Ali ermutigt inzwischen auch andere zu helfen. „Allah hat uns dieses Geld gegeben und Er wird uns fragen, wie wir es in diesem irdischen Leben ausgegeben haben. Ich bitte Ihn, das ewige Leben im Himmel zu verbringen, denn das ist mein einziger Wunsch.“ Auch die Imame in den Moscheen im Jemen fordern in ihren Freitagspredigten auf, einander zu helfen, da dies ein Gebot des Islam sei. 

Rages Ghaleb, Mitte 30, lebte früher friedlich im Westen des Gouvernements Taiz. Doch als 2018 die Kämpfe in seinem Dorf immer heftiger wurden, floh er mit anderen Nachbarn in den Bezirk Al-Ma’afer, wo es sicher war. „Ich kam 2018 in dieses Lager für Geflüchtete und traf viele verschiedene Familien aus unterschiedlichen Gebieten, die alle das gleiche Leid teilten“, erzählt Ghaleb. „Seitdem leben wir als eine große Familie. Wenn ich Arbeit habe, kaufe ich Lebensmittel und wir essen gemeinsam – diejenigen, die nichts haben, können mit denen essen, die etwas haben.“ 

Nicht nur Lebensmittel werden geteilt

Einige Familien, darunter auch seine fünf Familienmitglieder, hätten nicht genug zu essen, wenn sie das Essen nicht teilen würden, erklärt Ghaleb. Alle vertriebenen Familien in diesem Lager gehören zur Gruppe der Muhamasheen, darum habe er sich ausgerechnet hier niedergelassen. „Wir kannten uns vor dem Krieg nicht, aber wir sind alle aus Muhamasheen, und wenn wir uns nicht gegenseitig helfen, wer wird uns dann helfen? Durch Solidarität haben wir die Folgen des grausamen Krieges gemeinsam überwunden“, sagt er. 

Die Solidarität unter den vertriebenen Muhamasheen umfasse nicht nur das Teilen von Lebensmitteln, sondern auch alle grundlegenden Dienstleistungen, von denen es im Lager nicht genug gibt. „Wenn jemand krank wird, tun wir unser Bestes, um die Person in ein Krankenhaus zu bringen, und wenn das Zelt einer Familie zusammengebrochen ist, rennen wir los, um es wiederaufzubauen“, erzählt Ghaleb. „Einige großzügige Menschen helfen uns auch, aber natürlich können sie nicht allen Familien hier helfen. Es sind Hunderte, aber sie geben, was sie können, an die Leiter des Lagers, und diese teilen das Geld unter uns auf“, fügt er hinzu. 

Auch Frauen und Kinder helfen im Lager mit: Sie versorgen andere Familien oder sammeln leere Plastikflaschen und verkaufen sie an Recyclingfabriken, da ein Ernährer oft nicht ausreicht. „Meine Frau und meine Kinder gehen wie die anderen in diesem Lager morgens auf Arbeitssuche, und wenn sie Geld haben, helfen sie bei der Versorgung.“ 

Wenn Reiche nicht helfen, gilt das als Schande für sie

Fast alle Kinder im Lager gehen nicht zur Schule, weil ihre Eltern es sich nicht leisten können und sie es vorziehen, wenn ihre Kinder arbeiten, um ihnen zu helfen. UNICEF schätzt, dass mehr als zwei Millionen Kinder im Jemen die Schule abgebrochen haben – ein Anstieg um fast eine halbe Million seit  2015. Bis zu 19 Millionen Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen und 4,2 Millionen Menschen leben als Geflüchtete. Schätzungsweise drei Viertel der über vier Millionen Vertriebenen sind Frauen und Kinder, und etwa 30 Prozent der vertriebenen Haushalte werden laut Angaben des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen inzwischen von Frauen geführt. 

Der Soziologiedozent Ma’amon Mohammed bestätigt, dass die Solidarität der Familien in der gegenwärtigen Lage geholfen hat, widerstandsfähig zu sein. „Der Hauptgrund für die Solidarität ist religiöser Natur, denn die Zakat ist eine Säule des Islam. Aber  wir leben auch in einer Stammesgemeinschaft. Das heißt, dass reiche Leute Bedürftigen aus derselben Familie oder demselben Stamm helfen sollten, und wenn sie dies nicht tun, ist es eine Schande für sie“, sagt er. 

Es sei zudem „irrational“, wenn Menschen sehen, dass ihre Verwandten und Nachbarn in Not sind, und ihnen nicht helfen. „In manchen Familien gibt es nur eine Person, die einen guten Job hat, also hilft sie den anderen“, erklärt Mohammed. „Wenn eine Person auf der Straße bettelt, ist das ein Schandfleck sowohl für die Familie als auch für den ganzen Stamm – nicht nur für die bettelnde Person.“ 

Zwar könne die Solidarität unter den Muhamasheen nicht den gleichen Ursprung haben, da sie nicht zu einem Stamm gehörten. Aber der Soziologe sagt, dass sie sich durch die Solidarität untereinander stärker fühlen. „Einige reiche Leute helfen auch ihren alten Freunden, die früher reich waren, aber jetzt bedürftig sind, da viele von ihnen wegen des Krieges alles verloren haben“, sagt Mohammed. „Es gibt verschiedene Gründe für die Solidarität in unserer Gemeinschaft. Aber sie ist auf jeden Fall das Wichtigste, was den Jemeniten hilft, resilient zu sein.“

Aus dem Englischen von Sophie Stange.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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