Globalisiert und trotzdem sicher?

Pete Marovich/The New York Times/Redux/Laif
Fieber messen, bevor der Seemann in Wuhan an Bord gehen darf: Corona-Schutzmaßnahmen, besonders in China, haben den weltweiten Handel zeitweise stark behindert.
Lieferketten
Die Corona-Pandemie hat klargemacht: Ganze Volkswirtschaften werden verwundbar, wenn Konzerne aus Kostengründen Produk­tionsketten auf die ganze Welt verteilen. Eine allgemeine De-Globalisierung ist trotzdem nicht zu erwarten.

Als die Corona-Pandemie die meisten Volkswirtschaften der Welt lähmte, stießen freizeithungrige Menschen hierzulande auf Engpässe – unter anderem bei Wanderschuhen. Die nämlich stammen zum großen Teil aus Vietnam. Doch dort standen die Fabriken aufgrund von Corona-Beschränkungen still. Ob in Outdoorläden Wanderschuhe verfügbar sind, betrifft freilich die Freizeitgestaltung einer vergleichsweise kaufkräftigen Gesellschaftsschicht hierzulande. Wenn hingegen Näherinnen in Vietnam nicht arbeiten können, ist das für sie oft ein existenzielles Problem.

Auch bei wichtigeren Produkten wie Medizinausrüstung hat es zu Versorgungsproblemen geführt, dass über den Globus verteilte Liefer- und Transportketten während der Pandemie gestört waren. Und zum Teil legte der Ausfall weniger Vorprodukte Fabriken lahm. So musste die Herstellung von Autos oder Waschmaschinen zeitweise eingeschränkt werden, weil die Lieferung von Kabelbäumen aus der Ukraine und von Chips aus Taiwan stockte und kaum Teile auf Lager waren.

Die Diskussion um globale Veränderungen in Handel und Produktion haben bereits vor der Pandemie eingesetzt und erst recht vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine – nämlich infolge der weltweiten Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise nach der Lehman-Pleite 2008. Im Jahrzehnt danach hat das Wachstum des globalen Handels und der internationalen Investitionen das Vorkrisenniveau nicht mehr erreicht.

Just-in-time-Produktion rund um den Globus

Nicht zufällig nimmt die Debatte über eine vermeintliche De-Globalisierung jedoch jetzt Fahrt auf. Auslöser sind besagte Schwierigkeiten beim Nachschub von Rohstoffen und Vorprodukten für Unternehmen und Nationen im industrialisierten Norden. Die Ursachen aber liegen in einer in den vergangenen Jahren stark beschleunigten zeitlichen Verdichtung der Produktion, der Lieferung und des Konsums von Waren und Dienstleistungen. Weltumspannende Konzerne haben rationalisiert, ihre Lager verkleinert und dadurch Kosten gesenkt; örtliche Lagerwirtschaft wurde ersetzt von Just-in-time-Produktion rund um den Globus. Ausgeglichen haben sie das über die Beschleunigung von Lieferketten, die sich möglichst flexibel der jeweiligen Nachfrage anpassen müssen. Selbstredend ist diese Wirtschaft anfälliger für Störungen – und diese Risiken sind jetzt unübersehbar.

Fairer Handel macht ein bisschen resilienter

Fairer Handel hat Produzenten geholfen, die Corona-Pandemie zu überstehen – allerdings in Grenzen. Das zeigt die Studie „Fairtrade certification and producer resilience in times of crises“, die Fairtrade ...

In Schwellenländern haben im Zuge dieser Entwicklungen Menschen vermehrt Arbeit finden können. Allerdings ist auch der Druck auf sie gestiegen, weil sie vor allem über den Kostenvorteil, also niedrige Löhne, rekrutiert sind und dabei möglichst flexibel sein müssen. Insbesondere China hat in dieser Hochphase der Globalisierung profitiert. Jedoch ist China längst keine billige globale Werkbank mehr, sondern eine Wirtschaftsmacht und ein konkurrenzfähiges Hochtechnologieland. Vor allem die US-Regierung unter Donald Trump hat das 2017 als geoökonomisches Problem identifiziert. Ziel sei es vor allem, Allianzen im eurasischen Raum zu verhindern; insbesondere China und Russland müssten in dieser Hinsicht geschwächt werden.

Wenn nun in Industrieregionen wie den USA und Europa besorgt über die Resilienz von Lieferketten diskutiert wird, geht es nicht um Phänomene wie die Knappheit an Wanderschuhen, sondern um strategische ökonomische Interessen, die eingebettet sind in ein geopolitisches Ringen. In den Industrieländern steht die Sicherung von Vorprodukten und Rohstoffen im Vordergrund, von denen Volkswirtschaften und Unternehmen im globalen Norden abhängig sind – jedenfalls dann, wenn sie ihr Wirtschaftsmodell aufrechterhalten und den Wohlstand ihrer Bürgerinnen und Bürger wahren wollen.

Für Deutschland und Europa heißt das zurzeit vorrangig, russische Gas- und Energielieferungen zu ersetzen. Aus diesem Grund bereisen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundeskanzler Olaf Scholz unter anderem Länder der Golfregion. Ende September haben der Kanzler und der Energieversorger RWE eine Energiepartnerschaft mit den Vereinigten Arabischen Emiraten geschlossen. Hier steht hinter der Frage nach resilienten Lieferketten ein zielgerichteter wirtschaftspolitischer Wille.

Rezepte gegen die Störanfälligkeit von Lieferketten

Gegen die Störanfälligkeit von Lieferketten gibt es im Kern drei Rezepte: die Bezugsquellen verteilen (Handelsdiversifizierung), die Produktion nach Hause holen (re-shoring) oder die Produktion in  näher gelegene Länder verlagern (near-shoring). Bei den aktuellen Diskussionen geht es häufig um die Diversifizierung des Handels, welche grundsätzlich die Abhängigkeit von einzelnen Lieferantenländern reduziert. Zudem sind mit re-shoring und near-shoring meist höhere Kosten verbunden – nicht umsonst hatte man Produktionen im Zuge der Globalisierung in ferne Länder verlagert.

Autor

Mischa Ehrhardt

ist Wirtschaftskorrespondent in Frankfurt am Main, unter anderem für den Deutschlandfunk und mehrere deutsche Zeitungen.
Ein gutes Beispiel bieten die USA. US-Präsident Joe Biden hat 2021 angeordnet, die Lieferketten seines Landes zu überprüfen. „Sicherere und widerstandsfähigere Lieferketten sind für unsere nationale Sicherheit, unsere wirtschaftliche Sicherheit und unsere Technologieführerschaft von entscheidender Bedeutung“, heißt es im Ergebnisbericht der Prüfung. Genauer unter die Lupe nahmen die USA vier Bereiche: große Batterien etwa für Elektromobilität, sensible Mineralien und Materialien wie seltene Erden oder Metalle, medizinische Wirkstoffe sowie Halbleiter. Im Kern empfehlen die Fachleute, die heimische Produktion und Innovationen zu fördern, also re-shoring zu betreiben, besonders bei strategisch wichtigen Gütern wie Computerchips. Die US-Regierung solle den heimischen Markt durch Industriepolitik stärker auf dieses Ziel auszurichten. Nach außen soll sie internationale Handelsregeln stärken sowie die Zusammenarbeit zwischen Nationen verbessern, die für gleiche Werte einstehen.

US-Präsident Joe Biden spricht im September auf der Großbaustelle einer Fabrik, in der der US-Konzern Intel Halbleiter herstellen will. Das strategisch bedeutende Gut soll auch im Land produziert werden.

Es handelt sich also um die Stärkung der eigenen Wirtschaft und gleichzeitig eine kontrollierte Diversifizierung der Lieferketten im Rahmen einer geopolitischen Strategie. Damit soll der wirtschaftliche und technologische Führungsanspruch der USA abgesichert werden. Die Außenhandelsstrategie korrigiert die Politik unter Präsident Donald Trump: Der hatte im Zuge seiner „America First“-Strategie den Hauptkonkurrenten China, aber auch Europa mit Strafzöllen belegt, um alle Arten von Produktion – etwa auch von Stahl – in die USA zurückzuholen.

Es ist auch eine Antwort auf Chinas politischen Willen, in zehn Bereichen der Hochtechnologie bis 2025 global mit den führenden Nationen auf Augenhöhe zu sein. So ist im Bericht der US-Regierung kritisch vermerkt, dass bei großen Batterien China mit 75 Prozent der globalen Produktion mit Abstand Marktführer ist. Bei der weltweiten Halbleiterproduktion ist der Anteil der US-Produktion von 37 Prozent im Jahr 1990 auf heute 12 Prozent gesunken. Sie werde weiter sinken, wenn die USA ihrer Industrie wirtschaftspolitisch nicht unter die Arme greifen, warnt der Bericht.

Kein elektrisches Gerät kommt mehr ohne Halbleiter aus

Nicht zufällig ist hierzulande eines der prominentesten Beispiele in der Diskussion um gestörte Lieferketten der Halbleitermangel in der Automobilbranche. An der deutschen Schlüsselindustrie hängen andere Zulieferer und Industriezweige und entsprechend viele Arbeitsplätze. Und Halbleiter, von denen die meisten zurzeit aus Taiwan kommen, sind zentral. Sie stecken in Autos, Smartphones und Kühlschränken – kein modernes elektrisches Gerät kommt mehr ohne sie aus. Deswegen hat die EU-Kommission den European Chips Act auf den Weg gebracht. Mit rund 45 Milliarden Euro soll eine eigene europäische Chipproduktion ausgebaut werden. Im August sind die USA mit dem Chips and Science Act of 2022 mit einem noch höheren Volumen nachgezogen. Re-shoring in diesem Bereich betreibt auch China. Mit einem Fonds von umgerechnet 200 Milliarden Euro will es die Technologieführerschaft in der Halbleiterindustrie erreichen.

Anders als die USA ist Westeuropa aber auch auf Importe von Energie angewiesen und versucht, hier die Versorgung durch Diversifizierung zu sichern. Mit den Erschütterungen der Lieferketten infolge der Pandemie könnte dieses Programm von der Privatwirtschaft Rückenwind erhalten. Die Europäische Vertretung der Handelskammer in der Volksrepublik konstatiert ein Umdenken in den Chefetagen vieler Unternehmen. „Während die Diskussionen sich einst vorrangig um Gelegenheiten für Investitionen drehten, konzentrieren sie sich jetzt auf den Aufbau der Widerstandskraft der Lieferketten, auf die Herausforderungen, Geschäfte zu machen, wie mit den Risiken durch Reputationsschäden umgegangen wird, und die Bedeutung der Einhaltung globaler Regeln“, heißt es in einem Positionspapier dieser Handelskammer vom September 2022. Unternehmen überlegten zunehmend, in Länder zu investieren, in denen die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse einfacher seien.

Vietnam ist ein Land, in dem internationale Unternehmen in den vergangenen Jahren verstärkt die Produktion ausgebaut haben. Das gilt aber nicht für alle Unternehmen. Die deutschen Autobauer Volkswagen, Daimler und BMW verstärken ihre Engagements in China, wobei es ihnen hier vor allem um den Markt in der Volksrepublik geht: Dort leben fast 1,4 Milliarden Menschen und potenzielle Käufer deutscher Autos.

Geschäftsmöglichkeiten und regionaler Handel in Afrika

Von den Veränderungen könnten in Zukunft möglicherweise einige Länder Afrikas profitieren. „Man kann schon davon sprechen, dass das Interesse an Geschäftsmöglichkeiten auf dem afrikanischen Kontinent anzieht“, so Heiko Schwiderowski, Leiter des Referates Subsahara-Afrika beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Das geschehe zwar noch zögerlich – die Investitionen seien noch nicht gewachsen. Die Nachfrage und Erkundigungen über Geschäftsmöglichkeiten auch in Subsahara-Afrika stiegen aber, vor allem im Bereich erneuerbarer Energien. Tim Heinemann, der Koordinator für das virtuelle Kompetenzzentrum Development Economics von der KfW Entwicklungsbank, sieht dagegen noch nicht den Trend, dass Lieferketten verstärkt nach Afrika verlagert würden: „Dort handelt es sich um Standorte, an denen es relativ teuer ist zu produzieren.“ So gebe es in Infrastruktur und der Logistik von Transporten für den Export nach wie vor große Probleme.

Einige Ökonomen hoffen, dass auch ärmere Länder des afrikanischen Kontinentes in Zukunft verstärkt in den Fokus kommen könnten, um Lieferketten breiter zu fächern. „Zum einen geht es natürlich um Rohstoffe“, unterstreicht Holger Görg vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel, der dort auch das Kiel Centre for Globalization leitet. Das zeige das Beispiel Senegal, wo gerade Erdgasfelder vor der Atlantikküste erschlossen werden. Das ist unter Umweltschützern umstritten, weil es inmitten eines Naturschutzgebietes liegt. Doch auch die Bundesrepublik will künftig von dort Flüssiggas beziehen. „Und natürlich ist auch Nordafrika sehr wichtig in der Diskussion um grünen Wasserstoff und Solarenergie.“

Görg sieht für viele Länder Afrikas mit ihrer vergleichsweise jungen Bevölkerung für die kommenden Jahre großes Potenzial. Zumal das Abkommen über eine Afrikanische Kontinentale Freihandelszone (African Continental Free Trade Area, AfCFTA) von Mai 2019 perspektivisch einen umfassenden afrikanischen Markt schaffen soll. Es soll über Zollabbau den regionalen Handel und damit die Produktion ankurbeln und regionale Wertschöpfungsketten stärken. „Wir erleben, dass wir hier in einigen Jahren quasi eine Freihandelszone von über 1,3 Milliarden Menschen haben werden“, meint auch Heiko Schwiderowski vom DIHK.

Von einer allgemeinen De-Globalisierung gehen die meisten Ökonomen derzeit jedenfalls nicht aus. Sie sehen eher eine Anpassung von Lieferketten in einigen, vor allem strategisch wichtigen Sektoren innerhalb des bestehenden globalen Handels. Das erklärt sich auch dadurch, dass viele Mineralien und Rohstoffe nur in begrenztem Maß in den industrialisierten Ländern des Nordens vorhanden sind – sie müssen importiert werden. Und einmal aufgebaute Strukturen und Investitionen in fernen Ländern kann oder will man auch nicht von heute auf morgen abbauen. „Wir sehen kein Ende der Globalisierung, aber das Wachstum der Globalisierung hat sich ein bisschen abgeschwächt in den Krisenjahren“, meint Holger Görg vom IfW.

Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Köln sieht man die Diskussion über De-Globalisierung für Länder wie Deutschland sogar potenziell als ökonomisches Problem. „Deutschland gehört zu den größten Gewinnern der globalen Arbeitsteilung. Eine Rückverlagerung (re-shoring) mag in Einzelfällen sinnvoll sein, im großen Stil wäre es schädlich“, schreibt DIW-Präsident Marcel Fratzscher.

Olaf Scholz hält nichts von De-Globalisierung

Das dürfte einer der Hintergründe sein, weshalb Bundeskanzler Olaf Scholz „nichts von De-Globalisierung“ hält, wie er im September 2022 zu verschiedenen Gelegenheiten betont hat: „Ich halte nichts davon, dass wir das, was den Wohlstand und den Fortschritt der letzten Jahrzehnte in der ganzen Welt möglich gemacht hat, aufgeben und plötzlich wieder uns allein auf uns selber konzentrieren“, sagte er etwa bei den Baden-Badener Unternehmergesprächen. Die Welt werde multipolarer als je zuvor. Man müsse neben Asien auch Afrika oder Südamerika in den Blick nehmen.

Noch weist wenig darauf hin, dass eine Phase allgemeiner De-Globalisierung kommen wird. Aber die geoökonomischen Spannungen sind ein Zeichen, dass die Herstellung und Lieferung strategisch wichtiger Güter stärker politisch kontrolliert sein wird. Das heißt, die westlichen Industrieländer dürften in Zukunft verstärkt dafür sorgen, bei der Belieferung mit Rohstoffen und wichtigen Materialien weniger von einzelnen Ländern abhängig zu sein, und industriepolitisch die Herstellung wichtiger Produkte im eigenen Wirtschaftsraum fördern.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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