Wie ein Dorf sein Land verteidigt

Sandra Weiss
Juan Romero leitet den Jugendrat des Dorfes und fordert mehr Mitsprache für die jungen Leute.
Selbstverwaltete Gemeinde in Mexiko
Vor elf Jahren hat die Indi­genagemeinde Cherán in Zentralmexiko mit Hilfe einer Bürgerwehr die Holzmafia vertrieben. Nun ist sie eine autonome Insel zwischen Avocadoplantagen – aber  die Jugend möchte mehr als Subsistenzwirtschaft. 

José Ramírez spricht bedächtig, wenn er nach den Ereignissen vom April 2011 gefragt wird. Es kommt schließlich nicht oft vor, dass man Geschichte schreibt. Schon gar nicht in Cherán, einem abgelegenen Dorf in den Bergen des mexikanischen Bundesstaates Michoacán. Die Ortschaft liegt auf 2500 Metern Höhe und ist meist eingehüllt in Nebel und Wolkenschwaden. 

Es ist ein eher unwirtlicher Ort, an dem die Purépecha-Indigenen leben. Die Erde bringt kaum Ertrag, das Wasser versickert rasch im porösen Vulkangestein und fließt weiter in die tiefergelegenen, fruchtbaren Ebenen des Bajío. Diese Region war in der spanischen Kolonialzeit Sitz prunkvoller Haciendas, heute ist sie eine Hochburg der mexikanischen Export-Landwirtschaft –besonders für Avocados, Brokkoli, Beeren oder Zitronen. In Cherán gibt es im Gegensatz zum Bajío vor allem steile Berge und Wald. Für die spanischen Kolonialherren, die nur Augen für Silber und Gold hatten, war das nicht weiter interessant. Doch heute, 500 Jahre später, weckt auch das Hochland Begehrlichkeiten.

Es begann so um 2008, erinnert sich Ramírez. Mit seinen knapp 70 Jahren ist sein Gedächtnis nicht mehr ganz so gut – aber was damals passierte, hat sich dem ehemaligen Lehrer eingebrannt. Zu dieser Zeit wurde die Bevölkerung von der Holzmafia terrorisiert, die die Nadelwälder plünderte. „200 LKWs, voll beladen mit Holz, fuhren jeden Tag an meinem Haus vorbei“, erzählt er. Der größte Teil des Nebelwaldes war Gemeinschaftsbesitz, um den sich niemand wirklich kümmerte. Die Polizei kassierte Schmiergelder und schaute weg. Die Mitglieder der in innerparteiliche Fehden verstrickten Gemeindeverwaltung gaben sich gegenseitig die Schuld – und taten nichts. Bauern, die sich beschwerten, wurden am nächsten Tag tot aufgefunden oder verschwanden spurlos. „Es waren die Frauen, die schließlich die Initiative ergriffen“, erzählt Ramìrez. 

„Sicherheit, Gerechtigkeit und unser Land zurückgewinnen“

Sie hatten sich beim gemeinsamen Tortillabacken verschworen und heimlich eine Delegierte in die Kirche zum Pfarrer geschickt, um ihn vom Widerstand zu überzeugen. Der war ein mutiger, streitbarer Gottesmann und der Einzige, der es noch wagte, in seinen Predigten Gewalt und Plünderungen anzuprangern. Am 15. April läuteten dann plötzlich die Kirchenglocken – laut, lang und zu einer Stunde, in der üblicherweise keine Messe war. 

Der 70-jährige José Ramírez erinnert sich genau, wie der Widerstand im Dorf begonnen hat.

Ramírez war gerade im Unterricht im Nachbardorf, als der Rektor in sein Klassenzimmer kam. „Alle, die aus Cherán sind, müssen sofort in ihr Dorf“, richtete er ihm aus. Eine Stunde später fand sich Ramírez an einer von den Dorfbewohnern errichteten, brennenden Straßensperre wieder, mit fünf blockierten Holzlastern und gefangenen LKW-Fahrern, die später mit Hilfe der korrupten Ortspolizei fliehen konnten. „Angst vor der Holzmafia und deren Rache hatten wir alle, aber der Drang, etwas zu tun, war größer“, sagte er. Es ging Schlag auf Schlag: Am Abend war er zum Sprecher seines Stadtteils bestimmt worden und hatte mit einer Handvoll weiterer Delegierter ein politisches Programm ausgearbeitet. „Das hatte nur drei Punkte“, erinnert er sich: „Sicherheit, Gerechtigkeit und unser Land zurückgewinnen.“ 

Daraus entstand ein Selbstverwaltungsmodell, das in ganz Mexiko für Aufmerksamkeit sorgte. Cherán verbannte erst die korrupte Polizei aus dem Dorf und ersetzte sie durch eine eigene Bürgerwehr. Dasselbe Schicksal widerfuhr den politischen Parteien, sie wurden alle verbannt und stattdessen ein Bürgerrat gegründet. Dieser verbot das Abholzen des Waldes ebenso wie den Anbau von Avocados. Die Plantagen der begehrten Exportfrucht hatten sich damals schon in den tiefergelegenen Regionen von Michoacán ausgebreitet. 

Der Siegeszug des grünen Goldes auf dem Weltmarkt war ursprünglich das Ergebnis einer klugen Marketingkampagne der Agrar- und Lebensmittelindustrie. Erst ließen sich die US-Amerikaner für das „Superfood“ begeistern, dann folgten Europäer und Asiaten. Allein in den USA werden rund um den Superbowl, das Megaevent im American Football, 140.000 Tonnen Avocados verzehrt – meist in Form von Guacamole-Dips. Doch Avocadobäume sind heikel: Sie gedeihen nur bei gemäßigtem Klima mit Temperaturen um die 20 Grad. Sie brauchen viel Dünger, durchlässige Böden und regelmäßig Wasser – denn ihre Wurzeln können kaum Feuchtigkeit speichern.

Für den Avocadoanbau wurde der Wald abgebrannt

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Die Bedingungen in Michoacán im zentralen Hochland Mexikos sind dafür ideal. Um die Jahrtausendwende schossen im ganzen Bundesstaat private Avocadoplantagen von mexikanischen Bauern sowie lokalen und internationalen Investoren aus dem Boden wie zuvor die Pilze. Es folgten Verpackungs- und Exportfirmen. Wer ein Stückchen Land hatte, pflanzte Avocados – und konnte innerhalb eines Jahrzehnts reich werden. Das Geld lockte die Mafia an, die bald die 20.000 Hektar Gemeindewald in Cherán entdeckte. Die lokale Bevölkerung nutzte den Wald kaum – und wenn, dann nur, um daraus Holz für Möbel zu gewinnen. 

„Wir wunderten uns anfangs, warum sie nicht nur die besten Bäume fällten, sondern danach den Rest in Brand setzten“, sagt Ramírez. Erst später dämmerte ihm, dass dort Anbauflächen für Avocados entstehen sollten. Ramírez war empört: „Hier wachsen von Natur aus Kiefern und Oyamel-Bäume, keine Avocados. Und wir brauchen sie auch nicht, denn hier verhungert niemand.“ Für ihn ist die Avocado ein Symbol der Gier. Wie die politischen Parteien sorge sie nur für Zwist.

Das sieht Josué Velásquez etwas anders. Der 48-jährige Händler gehört einer Generation an, die eine ordentliche Schulbildung genoss und nach Höherem strebte als einer Zukunft als Bauer. „Als Elfjähriger musste ich das Unkraut auf dem Feld meiner Eltern mit der Machete jäten“, erzählt er. „Ich habe es gehasst.“ Subsistenzlandwirtschaft verhieß ein Leben der Entbehrungen in einem Moment, in dem Mexiko sich dem Weltmarkt öffnete und andere Lebens- und Konsummodelle lockten. Viele aus seiner Generation gingen in die USA, um dort ein paar Jahre zu schuften und Geld für ein Haus in der Heimat und ein Auto zu sparen. 

Velásquez blieb in Mexiko, machte Kramläden auf und schöpfte die Rücküberweisungen ab, die die Ausgewanderten an die Daheimgebliebenen schickten. Er profitierte also von der Migration – sah aber auch ihre Schattenseiten. „Die Gringos bläuen dir ein, dass Geld für alles die Lösung ist, und die Menschen hier begannen, lieber Geld zu verdienen, als ihr eigenes Essen anzubauen“, erzählt er. Mit dem Bezug zum Ackerland verlor die Gemeinde ihre kulturellen Riten wie etwa ihre traditionelle Kleidung und Feste, ihre Erdung in der Natur, ihren Zusammenhalt – und das öffnete der Mafia ab etwa 2008 das Einfallstor. 

Die Basisdemokratie verhindert, dass einzelne sich kaufen lassen

Diese Entwicklung hat die Rebellion von 2011 versucht zu korrigieren. Mit der Selbstverwaltung ging auch eine Wiederbelebung der Purépecha-Kultur einher und vor allem ihrer basisdemokratischen Organisation. Doch Cherán ist eine Insel geblieben, umzingelt von Avocadoplantagen und der Logik der Gewinnmaximierung. 

Hier gelten basis­demokratische Verfahren – ein Mitglied des Bürgerrates im Rathaus von Cherán.

Die 75 von den Einwohnern bezahlten Polizisten – alle stammen aus dem Dorf – kommen kaum nach mit ihren Patrouillen. Immer wieder kämpfen sie gegen mutwillig gelegte Brände in Wäldern, die durch den Klimawandel und Schädlinge wie den Borkenkäfer ohnehin schon gestresst sind. Sind ein paar Hektar abgebrannt, werden den Bürgerräten lukrative Angebote von „Investoren“ unterbreitet, damit sie den „wertlosen Wald“ für den Avocadoanbau freigeben. Das basisdemokratische Modell, in dem Posten ständig rotieren und Delegierte auf Präsenz-Dorfversammlungen von allen gewählt werden, blockiert bislang noch solche Korruptionsversuche.

Junge Leute fordern, mit dem Wald auch Geld zu verdienen

Doch der Druck wächst. Vor allem die jüngere Generation will am Fortschritt teilhaben. „Wir sollten das radikale Avocadoverbot überdenken“, fordert Velásquez. „Wenn wir zum Beispiel auf tausend Hektar den Anbau erlauben, könnten wir die Einnahmen daraus klug investieren, in nachhaltige Produkte wie zum Beispiel Massageöle, Bienenwachskerzen oder natürliche Lacke auf der Basis von Harz oder ätherischen Ölen“, fordert er. „Wir sitzen auf einem Schatz und sollten ihn auch nutzen, denn sonst tun es andere“, fürchtet er. 

Wandel fordert auch Juan Romero. Er hat im Kulturzentrum von Cherán sein Büro: Darin stehen ein alter Holzschreibtisch, ein Computer und ein paar abgewetzte Stühle. Der 26-Jährige ist einer der vier Vorsitzenden des Jugendrates und von Beruf Jurist. „Ich war zwölf und gerade mit meiner Familie aus den USA zurückgekommen, als wir auf die Barrikaden gingen“, erzählt er stolz. „Wir kämpften gegen die Bösen für das Wohlergehen unserer Gemeinde, das motivierte mich.“ 

Er habe damals die Waldwächter auf ihren Touren begleitet und dabei seinen Stolz auf seine indigenen Wurzeln und die Natur entdeckt. Romero respektiert die Ältesten, kritisiert sie aber auch: „Ihr basisdemokratisches Modell ist zu zeitaufwendig. Man sitzt ständig in Versammlungen, das funktioniert in unserer digitalen, vernetzten Welt nicht mehr“, sagt Romero. „Die Älteren beschweren sich, dass die Jüngeren sich nicht mehr fürs Gemeindeleben und den Wald interessieren, aber gleichzeitig misstrauen sie uns. Erst ab 45 kann man in den Gemeinderat gewählt werden und den Jugendrat wollten sie voriges Jahr sogar ganz abschaffen“, beklagt er.

Mitglieder der Bürgerwehr, die immer wieder mit mut­­willig gelegten Bränden im Wald zu kämpfen hat.

Wie auch Velásquez plädiert er für eine nachhaltige Nutzung des Waldes. „Es ist richtig zu verhindern, dass andere deine Schätze plündern“, sagt er. „Aber wenn du selbst auch nichts daraus machst, ist das dumm. Wir haben Wälder, aber kaufen die Bretter in Nachbargemeinden. Wir haben 23 Quellen, aber leiden unter Wassermangel“, kritisiert er. „Hier mitten im Dorf haben wir eine Quelle, die total zugemüllt ist, obwohl wir vom Jugendrat dort immer wieder säubern“, schimpft der junge, athletische Mann. Immerhin konnte er jetzt den Ältestenrat davon überzeugen, rund um die Quelle einen kleinen Park mit Grillplatz zu errichten. „So wird der Ort touristisch aufgewertet und hoffentlich besser geschützt“, sagt Romero. 

Die Generationenfrage wird zur Nagelprobe für die Rebellen

Romero ist auch geschickt, auswärtige Partner aufzutun – anders als die Älteren mit ihrem tiefen Misstrauen gegenüber dem Staat. Für eine Jugend-Umfrage im Dorf hat er die Unterstützung der Universität und des Statistikamtes gewonnen. „Sie haben uns Fragebögen zur Verfügung gestellt, Jacken und Mützen, und uns online geschult“, erzählt Romero stolz. Auf diese Art will er den Jugendlichen das Interesse an der Wissenschaft nahebringen und selbst mehr über die Stimmung im Dorf erfahren. „Wenn ich die Probleme nicht kenne, kann ich keine funktionierende Jugendarbeit machen“, sagt der Jurist. 

Unterstützung von außen ist für ihn in Ordnung, „so lange wir dabei das Heft in der Hand behalten“. Sein Enthusiasmus wirkt ansteckend. Als die Ältesten die Alkohol- und Drogenexzesse der Dorfjugend beklagten, konnte er durchsetzen, dass die aufgegriffenen Übeltäter nicht wie früher mit Bußgeldern und Arbeitsstunden bestraft wurden. „Wir schicken sie zum Psychologen, und sie müssen sechs Monate einen Sport- oder Kulturkurs machen“, erzählt er, während in der Aula das Jugendorchester probt und die ersten Akkorde anstimmt. Die Generationenfrage ist für ihn die Nagelprobe. 65 Prozent der Dorfbewohner sind jünger als 29. „Wir dürfen nicht starr an dem festhalten, was 2011 aus der Not entstanden ist, sondern müssen den Jugendlichen den Sinn dieser Rebellion vermitteln und dann gemeinsam ihre Prinzipien modernisieren“, sagt Romero. „Nur dann hat unser Modell eine Zukunft.“

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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