Resozialisieren statt wegsperren

Knut Henkel
Häftlinge in Bogotás zweit­größtem Gefängnis „La Modelo“ beim Fußballtraining.
Modellhaftes Vollzugssystem
Kolumbiens Regierung will den Strafvollzug humaner gestalten. Dagegen gibt es große Widerstände, obwohl Gefängnisse wie „La Modelo“ damit sehr gute Erfahrungen gemacht haben.

Daniel Estrada Vélez lässt die Alurolle gekonnt über den Teig gleiten. Als wenig später ein Dutzend Croissant-Rohlinge auf dem Blech neben ihm liegen, nimmt er den nächsten Teigfladen und rollt ihn auf dem Edelstahltisch in der Backstube des Gefängnisses „La Modelo“ aus. Hinter ihm steht Álvaro Rafael García – wie Daniel ganz in Weiß gekleidet – an dem modernen Backofen. Darin stehen mehrere Rollwagen mit Blechen voller Croissants, Brötchen und Brot, die gleich fertig sind. Rund ein Dutzend angehende Bäcker werden in der geräumigen Gefängnisbäckerei von Dario Hernández und seinem Vorgesetzten ausgebildet. Hernández, ebenfalls ein Verurteilter, assistiert dem Ausbilder, der das Backprojekt hinter Gittern leitet und serviert den Besuchern als erstes krosse, noch warme Croissants. 

„Wir backen hier nicht nur für die Insassen der Anstalt, sondern auch für einige externe Unternehmen“, sagt der kräftige 41-Jährige, auf dessen Schürze „Proyecto Panaderia CPMS Bog“ (Deutsch: Bäckereiprojekt CPMS Bogotá) steht. Das Ausbildungsprojekt im Gefängnis „La Modelo“, derzeit das zweitgrößte der drei nationalen Gefängnisse in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá, läuft vielversprechend, und die Stimmung in der Bäckerei ist an diesem Morgen gut. Häftlinge wie Álvaro Rafael García, der eine 17-jährige Haftstrafe wegen mehrerer Banküberfälle absitzt, erzählen von ihrer kriminellen Vergangenheit ebenso wie von ihren Zukunftsperspektiven. Der 39-Jährige hat etwas mehr als die Hälfte seiner Strafe abgesessen, die Bäckerlehre abgeschlossen und will sich auch nach seiner Freilassung als Bäcker bewähren. Für seinen Kollegen Daniel, der wegen schweren Raubs zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, ist das ebenfalls eine Perspektive. Seine Entlassung steht in rund einem Jahr an.

Im Gefängnis „La Modelo“ gibt es fünf verschiedene Ausbildungsprojekte für Häftlinge. Eines davon ist diese Bäckerei.

Fünf solche Ausbildungsprojekte – von Bäckerei bis Wäscherei – gibt es derzeit im „La Modelo“. „Für mehr fehlt es am Platz“, erklärt Nestor Dario Cárdenas, der für die nationale Gefängnisverwaltung (INPEC) arbeitet. „La Modelo hat mehr als 60 Jahre auf dem Buckel. Heute sind die Anforderungen an den Strafvollzug vollkommen andere als zu Beginn der 1960er Jahre“, sagt der Mann, der regelmäßig Führungen für Politiker und Journalisten hinter Gittern durchführt und lange im „La Modelo“ als Vollzugsbeamter gearbeitet hat. Im Gehen winkt er den Männern in den weißen Schürzen zum Abschied zu. Das „La Modelo“ ist eine von insgesamt 132 Haftanstalten in Kolumbien, die insgesamt 82.000 Häftlinge aufnehmen können. 

Nestor Dario Cárdenas arbeitet seit mehr als 20 Jahren für die nationale Gefängnisverwaltung. Das „La Modelo“ sei in der Vergangenheit berüchtigt gewesen, inzwischen habe sich die Situation dort aber verbessert, sagt er.
 

Die Anlage besteht aus zehn zum Teil unterteilten Pavillons, die mit einst dunklen und inzwischen hell ausgeleuchteten Gängen verbunden sind. Gerade reinigt ein Reinigungsteam den gekachelten Gang, den wir passieren. „La Modelo war früher berüchtigt. Hier gaben die Insassen, Guerilleros der FARC, der ELN sowie Paramilitärs und Drogenbanden, den Ton an, sie kontrollierten einzelne Pavillons. Kämpfe und immer wieder Tote machten Schlagzeilen“, erklärt Nestor Dario Cárdenas freimütig. Er hat vor 21 Jahren seinen Dienst bei der staatlichen Gefängnisverwaltung INPEC begonnen, erst als einfacher Vollzugsbeamter, der nach der Schicht noch die Abenduniversität besuchte, um seine zweite Ausbildung zum Journalisten zu absolvieren. Seit mittlerweile zehn Jahren ist er in der Presseabteilung der INPEC angestellt und koordiniert Besuche von Politikerinnen und Politikern sowie Journalistinnen und Journalisten. 

Ausgesprochen selten sind Besuche ausländischer Reporter. Nicht nur, weil das Image der kolumbianischen Strafanstalten mies ist, sondern auch, weil es alles andere als einfach ist, Zugang zu erhalten. „Unser Sicherheitsprozedere ist rigoros, die Vorlaufzeiten relativ lang“, gibt Cárdenas zu. Ob damit ungünstige, auf Fakten beruhende Berichterstattung erschwert werden soll, lässt er offen. Er weist aber darauf hin, dass sich im Vollzugssystem vieles in den letzten zwanzig Jahren verbessert hat. „Die Zeiten, in denen die Kontrolle des La Modelo in den Händen der Häftlinge lag, ist seit 2001 vorbei. Seit 2008, 2009 ist das auch in vielen der 131 anderen Haftanstalten des Landes der Fall“, so der Mann, der wie alle Vollzugsbeamten einen blau-schwarz gemusterten Kampfanzug trägt.

Die Regierung plädiert für grundlegende Reformen

In anderen Ländern der Region wie etwa in Ecuador ist das anders: Dort kontrollieren die Drogenkartelle etliche Haftanstalten, berichten Sozialwissenschaftler aus dem Nachbarland. In Kolumbien ist das Geschichte, aber das miese Image von „La Modelo“ ist genauso geblieben wie die pauschale Stigmatisierung aller Häftlinge als gemeingefährliche Gewaltverbrecher. Die Realität hinter Gittern sieht jedoch anders aus. Viel dazu beigetragen hat die in den vergangenen Jahren verbesserte Infrastruktur: „Das Essen, die Optionen, hier zu arbeiten, eine Ausbildung zu machen, und auch die medizinische Betreuung sind besser geworden“, berichtet der 39-jährige Bäcker García, der seit neun Jahren einsitzt. Dadurch ist Resozialisierung heute eine weitaus realistischere Möglichkeit als früher. 

An diesem Punkt setzt die im August 2022 vereidigte Regierung von Präsident Gustavo Petro an: „Wir plädieren für grundlegende Reformen des Strafgesetzbuches und wollen die Situation in den Vollzugsanstalten humaner gestalten. Weg von der rigorosen Sanktionspraxis hin zu Täter-Opfer-Ausgleich und Resozialisierung“, erklärt Camilo Eduardo Umaña. Der Jurist und Soziologe ist als Vizeminister der Justiz für die Haftanstalten des Landes verantwortlich und damit auch für die „Humanisierung der Vollzugsbedingungen“, wie er es nennt. 

Bis zu 6000 Häftlinge wurden in einem Gefängnis eingepfercht

Jede Woche steht mindestens eine Gefängnisvisite in seinem Terminkalender. Er will sich selbst ein Bild von den Zuständen machen und punktuelle Verbesserungen wie Umbauten, Ventilation oder zusätzliche Resozialisierungsangebote einleiten. „La Modelo“ und das Frauengefängnis „Buen Pastor“ hat er im Dezember 2022 besucht. Die Resonanz der Häftlinge war überaus positiv. Das belegen Transparente am „Buen Pastor“ sowie Aussagen von Inhaftierten aus beiden Gefängnissen. Das liegt daran, dass die Verantwortlichen im Justizministerium eine grundlegende Neuausrichtung und Umstellung versprechen auf eine restaurative, opferorientierte Justiz mit alternativen Strafen wie dem Täter-Opfer-Ausgleich, Wiedergutmachung und Hausarrest. Die Freiheitsstrafe soll zur letzten Option werden und nicht mehr quasi automatisch bei kleineren Delikten wie einem Kaufhaus- oder Handydiebstahl verhängt werden. 

Das stößt auf Beifall bei Experten wie Carlos Ojeda, dem Direktor der Menschenrechtsorganisation FASOL, die sich für die Sicherheit und die Rechte des Justizpersonals engagiert, jedoch auf viel Widerstand im politischen Establishment und in den Medien. Für Vizejustizminister Umaña, einen international anerkannten Strafrechtsexperten, ist das keine echte Überraschung. Allerdings hat ihn die Vehemenz des Widerstands gegen die Gesetzesvorlage, die seit April 2023 im Parlament in erster Lesung debattiert wurde, überrascht: „Wir stehen in einer Tradition der Sanktionslogik: Hohe Strafen sollen abschrecken. Doch die soziale Realität des Landes und die massiven Konflikte sorgen dafür, dass die Kriminalitätsstatistiken nicht sinken, sondern die Gefängnisse tendenziell überbelegt sind“, schildert der bedächtig auftretende Vizeminister das Grundproblem. 

Autor

Knut Henkel

ist freier Journalist in Hamburg und bereist regelmäßig Lateinamerika und Südostasien.

Bestes Beispiel ist das „La Modelo“: Das 1960 eingeweihte Gefängnis hat Kapazität für 2907 Häftlinge. Bis zu 6000 Straftäter wurden hier in der Vergangenheit eingepfercht, heute sind es laut Direktor Freddy Camargo rund 3300. Das ist ein Fortschritt, der nicht von ungefähr kommt, denn das Verfassungsgericht hat 2022 die Haftbedingungen kritisiert und in seinem Urteil Reformen eingefordert. Auf dieses Urteil beziehen sich auch die Regierung Petro sowie das Justizministerium. Doch in der kolumbianischen Zivilgesellschaft ist von Reformbereitschaft wenig zu spüren: „Für viele Kolumbianer enden die Grundrechte am Gefängnistor. Das widerspricht aber dem Rechtsstaat“, sagt Vizeminister Umaña und wirbt für seine Reformagenda. 
Menschenrechtler begrüßen die Reformen – und fordern mehr

In den Medien dringt er damit nicht gut durch. Hintergrundberichte zur Situation in den Vollzugsanstalten des Landes seien die Ausnahme, nicht die Regel. Umaña wundert sich, dass das Interesse, ihn bei Gefängnisvisiten zu begleiten, nahe Null ist. „Wie wollen Ihre Kollegen berichten, wenn sie die Realität nicht aus eigener Anschauung kennen?“, fragt er. 

Der letzte Gefängnisaufstand ist fast vier Jahre her

Die ist lange alarmierend gewesen. Der letzte Aufstand im „La Modelo“ im März 2020 – laut der damaligen Regierung ein Ausbruchsversuch, laut anderen Quellen ein Protest gegen die Haftbedingungen im Kontext der Corona-Pandemie – endete mit 24 Toten. Viele der Opfer hätten mehrere Schusswunden aufgewiesen, berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und unterstellt mit Bezug auf die Analysen der Gerichtsmediziner „Tötungsabsicht“. Dazu mag sich Gefängnisdirektor Freddy Camargo nicht äußern. „Ich bin seit September 2020 hier verantwortlich, und seitdem hat es zwei Tote gegeben. Beide Fälle wurden aufgeklärt“, sagt der ehemalige Polizeioffizier, dem 490 Vollzugsbeamtinnen und -beamte zur Seite stehen. 

Schräg gegenüber vom Fußballplatz befindet sich der Gefängnisgarten, in dem Häftlinge selbst Karotten, Salat, Tomaten und einiges mehr anbauen. „Das ist auch ein Resozialisierungsprojekt. Ich würde hier gern einen Fotokurs anbieten, aber das ist alles andere als einfach zu realisieren“, bedauert Cárdenas. Mangel an Geld und Platz seien die zentralen Gründe, so der Mann von Mitte 40, der seine Kamera mit stattlichem Teleobjektiv dabei hat und sicher ist, dass hinter Gittern deutlich mehr Waren produziert werden könnten. 

Óscar Ramírez, ein Jurist mit Schwerpunkt Menschenrechte, ist Präsident des „Solidaritätskomitee mit den Politischen Gefangenen“ (CSPP) und begrüßt die Reformpläne der neuen Regierung. „Für uns gehen sie jedoch nicht weit genug. Neben den Vollzugsanstalten, in denen sich die Situation verbessert hat, gibt es unzählige Polizeiwachen, wo vermeintliche Straftäter unter miserablen Bedingungen in Untersuchungshaft sitzen – oft über Monate“, sagt der 31-Jährige. Darunter auch etliche soziale Aktivistinnen und Aktivisten der landesweiten Proteste vom April bis Juli 2021 gegen die erzkonservative Regierung von Ex-Präsident Iván Duque (2018–2022). Unter oft fadenscheinigen Anklagen wurden damals mehr als 600 Menschen festgenommen und kriminalisiert. Für diese harte Leitlinie ist Generalstaatsanwalt Francisco Barbosa verantwortlich, einer der einflussreichsten Kritiker der Reformpläne aus dem Justizministerium. Mit dem Ende seiner Amtszeit im Dezember könnten die Verhandlungen im Parlament wieder Fahrt aufnehmen, hofft man im Justizministerium. 

Freddy Camargo teilt diese Hoffnung und verweist darauf, dass die Überbelegungsquote in den Haftanstalten bereits gesunken ist. In „La Modelo“ liegt sie nur bei rund zehn Prozent. Das weiß auch Álvaro Rafael García zu schätzen: „Im Pavillon drei, wo sich meine Zelle befindet, ist die Gewalt deutlich zurückgegangen.“ 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2023: Von Jung zu Alt
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