„Es sollte weiter das 0,7-Prozent-Ziel gelten“

Eine Menge bunt gekleideter Menschen reckt eine große aufgeblasene Rotstift-Attrappe hoch.
epd-bild/Christian Ditsch
Gegen den Rotstift bei der Entwicklungshilfe wendet sich im August 2024 ein Bündnis nichtstaatlicher Organisationen vor dem Kanzleramt in Berlin. Auch jetzt sind wieder Einschnitte im BMZ-Etat absehbar.
Deutsche Entwicklungshilfe
Die öffentliche Entwicklungshilfe steht in vielen Ländern unter großem Druck. Dagmar Pruin, die Präsidentin von Brot für die Welt, sagt, wie es in der Entwicklungszusammenarbeit weitergehen sollte und was das kirchliche Werk von der neuen Bundesregierung erwartet.

Dagmar Pruin ist seit 2021 Präsidentin von Brot für die Welt und der Diakonie Katastrophenhilfe.

Die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe schrumpfen in den USA, aber auch in vielen Staaten Europas. Die OECD fürchtet, wir haben „Peak Aid“, den Höhepunkt dieser Hilfe, überschritten. Geht sie ihrem Ende entgegen? 
Ich finde Begriffe wie „Peak“ schwierig, denn Entwicklungen sind jederzeit veränderbar. Gleichzeitig ist die derzeitige Situation Besorgnis erregend. Die angekündigte vollständige Auflösung der US-Entwicklungsagentur USAID hinterlässt eine sehr große Lücke und ist ein brutales Zeichen. Aber richtig, auch etwa die Niederlande oder Schweden haben empfindliche Kürzungen angekündigt, ebenso Großbritannien, das vor einigen Jahren sein Entwicklungsministerium abgeschafft hatte. Ich hoffe jedoch, dass in unserer global vernetzten Welt die Idee der Entwicklungszusammenarbeit nicht aufgegeben wird – weil Entwicklungszusammenarbeit wirksam ist. Die Preisgabe dieses Themenfelds würde bedeuten, das Thema Sicherheit viel zu sehr auf militärische Sicherheit zu verengen. Entwicklungszusammenarbeit, wie ich sie verstehe, dient dazu, dass Menschen in der Einen Welt sicher und gerecht leben können, auch etwa angesichts des Klimawandels. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass alle Staaten hier eine Leerstelle lassen.

Beobachten Sie einen Stimmungswandel in der Gesellschaft in Richtung, eigenen Interessen Vorrang zu geben und Geld lieber für Deutsche auszugeben? 
Durchaus. Das macht mir vor allem Sorge, wenn es heißt: Wir oder die anderen – wir müssen erst einmal bei uns Probleme lösen. Ich bestreite nicht, dass viele Menschen in Deutschland in ihrem täglichen Leben vor großen Herausforderungen stehen. Die Diakonie Deutschland ist wie Brot für die Welt Teil des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung und setzt sich ein für Menschen in Deutschland, die am Rande der Gesellschaft stehen, die auf Hilfe angewiesen oder benachteiligt sind. Aber zu denken, man müsse das eine auf Kosten des anderen tun, ist kurzsichtig. Die Frage, ob und wie Entwicklungszusammenarbeit uns nützt, ist legitim, aber man lässt keinen Menschen verhungern – Punkt. Und mich ärgert es, wenn so diskutiert wird, als ginge es einfach darum, dass reiche Länder etwas abgeben, ohne die historische Verantwortung durch den Kolonialismus anzuerkennen. Zudem verschulden wir uns seit Jahrzehnten durch das Befeuern des Klimawandels gegenüber dem Globalen Süden und haben eine Pflicht, Schäden zu beseitigen und für Gerechtigkeit einzutreten. Im Moment wird vor allem von Rechtspopulisten eine Diskussion mit Bildern der Verknappung angetrieben, als wäre nicht mehr genug da. Aber es ist genug da für alle auf dem Planeten. Deutschland ist ein reiches Land, ich würde mir wünschen, dass es mehr internationale Verantwortung übernimmt.

Folgt die neue Regierung nach Ihrem Eindruck einer populistischen Stimmung? Der Koalitionsvertrag liest sich, als wären vorrangige Ziele der Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr Hungerbekämpfung und die UN-Nachhaltigkeitsziele, sondern Rohstoffsicherung und Begrenzung von Migration. 
Im Koalitionsvertrag stehen unterschiedliche Absichten. Zum einen bleibt das BMZ als eigenständiges Entwicklungsministerium erhalten, trotz der Unkenrufe im Vorfeld. Es ist ein Garant dafür, dass die originären Anliegen der Entwicklungszusammenarbeit einen Platz am Kabinettstisch haben. Unsere große Sorge war, dass sich im Koalitionsvertrag Pläne durchsetzen würden, den Anteil der öffentlichen Entwicklungsleistungen (ODA) am Bruttonationaleinkommen von 0,7 auf 0,35 Prozent zu halbieren. Auch das ist erst mal nicht passiert. Aber wie viel Geld es jetzt geben wird, ist unklar. Das ist die Leerstelle im Koalitionsvertrag, die geschlossen werden muss – es sollte weiterhin das 0,7-Prozent-Ziel gelten. 

Sollte die neue Bundesregierung die Schwerpunkte ihrer Entwicklungszusammenarbeit ändern? 
Als Präsidentin eines kirchlichen Werkes finde ich zentral, dass allein 0,2 Prozent des Bruttonationaleinkommen für die ärmsten, die wenigsten entwickelten Länder bereitgestellt werden. Sorgen macht uns, dass Hilfe zunehmend auf bestimmte Länder konzentriert wird, die zweifelsohne Unterstützung benötigen – etwa die Ukraine –, aber andere Länder wie Haiti oder der Kongo vernachlässigt werden. Es gibt allerdings Länder, in denen Deutschland nicht bilateral, von Staat zu Staat, Hilfe leisten kann, zum Beispiel, weil dort Autokraten herrschen. Eine große Chance liegt hier in der Entwicklungszusammenarbeit der Zivilgesellschaft und insbesondere der kirchlichen Werke. Wir arbeiten mit lokalen Partnern und konzentrieren uns auf die Bedürfnisse der Menschen. Wir können auch dort arbeiten, wo staatliche Entwicklungszusammenarbeit nicht hingelangt, auch in entlegene Gebiete. Im Sudan zum Beispiel unterstützt die Diakonie Katastrophenhilfe Nachbarschaftskomitees, die helfen, wo staatliche Dienste während des Krieges nicht funktionieren. Sie organisieren Suppenküchen oder Schulunterricht. Das sind große Chancen der Zivilgesellschaft und ich wünsche mir, dass die neue Bundesregierung das sieht und anerkennt. Die kirchlichen Werke werden in Deutschland von sehr vielen unterstützt und von Spenderinnen und Spendern getragen, die genau das wollen. 

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Sollten neue Geber wie China und die Golfstaaten in die Bresche springen und multilaterale Hilfe stärker mitfinanzieren, etwa die der UN-Organisationen?
Ja, absolut. Auch da fallen die USA aus. UN-Sonderorganisationen wie die Weltgesundheitsorganisation schaffen Strukturen, die wir für unsere Arbeit brauchen, sie machen etwa Bedarfserhebungen. Diese Strukturen müssen erhalten und gestärkt werden, und dazu sollten neue Geber beitragen. 

Staatliche Zuwendungen machen mehr als die Hälfte des Etats von Brot für die Welt aus und Spenden nur grob ein Viertel.  Wie geht Brot für die Welt mit dem absehbaren Rückgang der Finanzmittel um? 
Ja, die Bundesmittel machen etwas mehr als die Hälfte unseres Budgets bei Brot für die Welt aus. Ein Rückgang wäre katastrophal, insbesondere bei der humanitären Hilfe, die schon im letzten Bundeshaushalt drastisch gekürzt worden ist. Umso wichtiger sind sowohl für Brot für die Welt als auch die Diakonie Katastrophenhilfe stabile Spenden, die uns so arbeiten lassen, wie es nötig ist. Im Moment tun wir alles, damit die staatlichen und kirchlichen Mittel nicht sinken. Aber wenn das passiert, müssen wir die Projektzahl reduzieren und entscheiden, wo Hilfe am dringendsten ist und die beste Wirkung erzielt. Noch hoffe ich aber, dass das nicht passiert. 

Sollte künftig ein größerer Teil der Entwicklungszusammenarbeit direkt an Organisationen im Süden gehen? 
Wir als kirchliche Werke arbeiten schon ausschließlich mit lokalen Partnerorganisationen zusammen, auch in der humanitären Hilfe. Grundsätzlich ist die Lokalisierung der Hilfe das richtige Mittel und ein wichtiges Ziel, damit zivilgesellschaftliche Akteure im Globalen Süden ihre Zukunft selbst gestalten. 

Tun die Kirchen genug dagegen, dass die Solidarität mit armen Ländern schwächer wird?
Ich wünsche mir jederzeit mehr. Die Kirchen sind wichtig dafür, die Geschichten des Gelingens in der Entwicklungszusammenarbeit immer wieder zu erzählen. Man muss verstehen, warum Hilfe wirkt. Dafür haben wir mit unseren weltweiten Partnern viele Beispiele. 

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