Daniel Großhans brüllt vor Aufregung in die Kamera. Der damals 27-Jährige trägt Sonnenbrille und Werder-Bremen-Trikot und sitzt auf einem vollgepackten Fahrrad, während an ihm die karge Steppe des westlichen Afghanistans vorbeirauscht. Von 2021 an war er nun drei Jahre auf Fahrradweltreise, erst vor wenigen Minuten hat er in dem kleinen Film, der sich auf Youtube findet, die Grenze vom Iran nach Afghanistan überquert. „Ich bin jetzt schon sicher, dass der kommende Monat in Afghanistan der härteste meines Lebens werden könnte“, schreibt er später auf Instagram.
Es ist eine seltsame Szene aus dem Frühling des Jahres 2024 und aus einem Land, in dem jahrzehntelang ununterbrochen Krieg geherrscht hat. Nachdem sich die radikalislamischen Taliban vor bald vier Jahren an die Macht gekämpft hatten und ihr Krieg gegen die westlich unterstützte Regierung zu Ende gegangen war, ist inzwischen relative Ruhe eingezogen. Zwar herrscht in Afghanistan noch immer eine der größten humanitären Krisen weltweit. Die Taliban haben ihre radikale Politik rigoros durchgesetzt und vor allem die Rechte von Frauen und Mädchen massiv beschnitten. Dennoch lockt das Land wieder mehr Touristen an.
Einst Teil der Seidenstraße und später in den 1970er Jahren des Hippie-Trails nach Indien, verkörperte Afghanistan für viele Reisende eine Art Sehnsuchtsort, der während des jahrzehntelangen Kriegs unerreichbar blieb. Nun unterstützen die Taliban den Tourismus: Es gibt ein zuständiges Ministerium und eine Schule für „Gastfreundschaft“, in der Afghanen sich als Touristenführer und im Management von Hotels weiterbilden können.
Laut den Taliban ist die Zahl der Reisenden schon gestiegen
„Allein im vergangenen persischen Kalenderjahr, das im März dieses Jahres endete, stieg die Zahl der ausländischen Touristen nach offiziellen Angaben des Ministeriums für Information und Kultur in Kabul im Vergleich zum Vorjahr von 5000 auf knapp 8200. Nach Angaben der Taliban kämen die Touristen aus den USA, Russland, China, Kanada, der Europäischen Union, aber auch aus Australien oder Japan.
„Wenn diese Menschen kommen und sehen, wie es hier wirklich ist“, sagte der Informations- und Kulturminister Khairullah Khairkhwa im vergangenen Jahr der arabischen Nachrichtenseite Al Jazeera, „werden sie ein positives Bild Afghanistans verbreiten.“ Besonders offen sind die Taliban daher Reisebloggern und Influencern gegenüber, welche ihre Politik nur selten öffentlich hinterfragen. Manche teilen ihre Erlebnisse später wie Fahrradfahrer Großhans in den sozialen Medien und stellen ihre Reiseberichte als Videos ins Internet. Die Titel lauten unter anderem „Das krasseste Land auf meiner Radreise“ oder „Urlaub bei den Taliban“.
Autor
Julian Busch
berichtet regelmäßig über Afghanistan, wo er bis 2023 als freier Journalist lebte. Darüber hinaus schreibt er vor allem über Themen aus Südasien und Ostafrika.Aber auch andere Individual- und Rucksacktouristen zieht es immer häufiger nach Afghanistan. Als ein langjähriger Freund von Pius S. ihm im vergangenen Jahr von seinen Reiseplänen erzählte, beschloss er nach reiflicher Überlegung mitzufahren. „Landschaftlich ist es wohl eines der schönsten Länder, die ich je gesehen habe“, erzählt der 26-Jährige, der in der Energiebranche arbeitet, am Telefon.
Von Wien aus flogen die beiden über Istanbul nach Kabul, wo sie ein lokaler Touristenführer am Flughafen in Empfang nahm und knapp zwei Wochen lang durch das Land begleitete. In Kabul besuchten sie unter anderem den historischen Vogelmarkt Ka-Faroshi, der für seine Singvögel bekannt ist, sowie das Nationalmuseum, in dem Relikte aus dem Buddhismus und der frühislamischen Zeit ausgestellt sind. Anschließend reisten sie weiter zu den berühmten Buddha-Statuen in der Provinz Bamiyan, die zwar 2001 von den Taliban teilweise zerstört wurden, aber immer noch eindrücklich sind, dann zur Blauen Moschee in Mazar-e Sharif und in die Provinz Balkh, dem Geburtsort des persischen Dichters Rumi. Übernachtet haben sie in Kabul bei Bekannten des Touristenführers, außerhalb der Hauptstadt in Hotels.
Bedrückendes, aber auch Beeindruckendes
Zwar seien die radikale Politik der Taliban gegenüber Frauen und Mädchen und die in vielen Teilen Afghanistans herrschende Armut unübersehbar und bedrückend gewesen. Dennoch seien er und seine Mitreisenden unterwegs immer wieder auf eine unglaubliche Gastfreundschaft und Freundlichkeit gestoßen. „Fast alle Afghanen und Afghaninnen, die wir getroffen haben, waren sehr offen und hilfsbereit und haben uns immer wieder zum Essen eingeladen“, sagt er.
Dabei warnen westliche Staaten bis heute vor Reisen in das Land: Erst im Mai 2024 war es in der bei Touristen beliebten Stadt Bamiyan zu einem brutalen Anschlag gekommen, Bewaffnete eröffneten auf einem öffentlichen Markt das Feuer auf eine ausländische Reisegruppe und ihre Begleiter. Drei spanische Staatsangehörige sowie drei Afghanen starben bei dem Anschlag. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ übernahm später die Verantwortung. Die Taliban verurteilten den Angriff.
Seit ihrer Machtübernahme sind aber immer wieder auch Touristen und Touristinnen in Afghanistan willkürlich festgenommen worden. Denn während die Regierung in Kabul den Tourismus größtenteils begrüße, verstünden viele der einfachen Taliban-Kämpfer, die jahrelang gegen die afghanische Armee und ihre ausländischen Partner gekämpft hätten, ihn bis heute nicht, sagt Jagoda Grondecka. Die polnische Journalistin, die jahrelang aus Afghanistan berichtete, führt heute nebenberuflich für ein polnisches Reisebüro Touristen durch das Land.
Kleine Missverständnisse werden zu großen Problemen
Kleine Missverständnisse könnten in Afghanistan schnell zu großen Problemen werden, sagt Grondecka – auch weil für viele Reisen im Land noch unterschiedliche Genehmigungen der Taliban nötig seien, für die man sich beim lokalen Touristen- und Informationsministerium anmelden muss. Zudem gebe es vor allem in den ehemals umkämpften südlichen Landesteilen aufgrund der Erfahrungen im Krieg viele Ressentiments gegenüber Ausländern, sagt sie. Doch sie ist überzeugt, das Land sei seit Ende des Krieges sicherer als je zuvor. Die meisten Teilnehmer ihrer Reisegruppen hätten viel Erfahrung und seien bereit, Risiken in Kauf zu nehmen, um das Land zu besuchen. „Viele haben eine echte Leidenschaft für das Land“, sagt sie.
Pius S. und sein Begleiter hätten sich in Afghanistan bis auf kleine Ausnahmen jederzeit sicher gefühlt, sagt er. Trotzdem würde er jedem empfehlen, sich für die Reise einen einheimischen Führer zu organisieren. „Es gibt sehr viele Checkpoints der Taliban, da ist es allein schon wegen der Sprache sinnvoll, um Misstrauen und Missverständnissen vorzubeugen“, sagt er.
Unterwegs habe die beiden Freunde immer wieder die Frage beschäftigt, wie moralisch Tourismus unter einem Regime wie dem der Taliban sein könne, das so fundamental gegen die Menschenrechte verstößt. „Wenn wir Geld für Visa bezahlen, ist es ja klar, in welche Taschen es wandert“, sagt er. Dennoch sieht er den Tourismus auch als Chance. Damit könne die Bevölkerung in den nächsten Jahren Einnahmen in der ansonsten wirtschaftlich schwierigen Lage generieren – wenn die Taliban das erlaubten. Gleichzeitig sei ihm wichtig, nach der Reise bei Freunden und Bekannten auch die guten Seiten des Landes aufzuzeigen, das so oft düstere Schlagzeilen mache, und zu erklären, welche Vielfalt, Schönheit und beeindruckende Geschichte das Land biete.
Bis sich die Tourismusbranche in Afghanistan etabliert, dürfte es aber noch eine Weile dauern: Die Taliban sind bisher international von keiner Regierung weltweit anerkannt. Ein Machtkampf hält an zwischen den afghanischen Botschaften im Ausland, die teils bis heute mit Mitarbeitern der früheren, vom Westen unterstützten Regierung besetzt sind, und anderen Botschaften unter vollständiger Kontrolle der Taliban-Regierung. Die hat im vergangenen Jahr angekündigt, keine Dokumente mehr von Botschaften anzunehmen, die nicht mit ihnen kooperierten; fast alle davon befinden sich in Europa. Für Touristen hat sich die Visabeantragung damit noch deutlich erschwert.
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