Massenproteste, in Gang gebracht von der Generation Z, haben zwischen dem 25. September und Mitte Oktober die Straßen der großen Städte Madagaskars erfasst. Die Bevölkerung der früheren französischen Kolonie hatte seit der Unabhängigkeit im Jahr 1960 bereits 1972, 1991, 2002 und 2009 erlebt, dass Straßenproteste, die meist von jungen Stadtbewohnern ausgingen, einen Wechsel der politischen Führung herbeiführten. Die Machthaber haben sich jetzt als unfähig erwiesen, mit einem so vorhersehbaren Phänomen umzugehen, weil sie nur auf ihre eigenen, unmittelbaren Interessen starrten.
Was sind die Ursachen der wiederkehrenden politischen Krisen? Das Regime von Andry Nirina Rajoelina war 2009 aus einem Staatsstreich gegen dessen Vorgänger Marc Ravalomanana hervorgegangen. Bei den ersten Präsidentschaftswahlen nach dem Putsch kandidierten beide Männer 2014 nicht selbst, sondern schickten Parteifreunde ins Rennen – der von Rajoelina gewann. Dann hat Rajoelina die Wahlen von 2018 und 2023 gewonnen. Sein Wahlkampf war jedes Mal geprägt von fantastischen Versprechen, die nie eingelöst wurden. Dazu zählt etwa, die Stadt Toamasina zum madegassischen Miami zu machen oder die Stromproduktion im Land zu vervierfachen. Kritische Stimmen wurden systematisch unterdrückt, auch die von aktiven Nutzern der sozialen Medien.
Unternehmer bereicherten sich auf Staatskosten
Hinter dem volksnahen Auftreten Rajoelinas verbarg sich ein Netzwerk von Plünderern, die den Staat zur Bereicherung benutzten. Zum Beispiel hat die Interessenvertretung der Treibstoffimporteure die für Wasser und Elektrizität zuständige staatliche Gesellschaft JIRAMA gezwungen, auf Kosten der kostengünstigeren Wasserkraft an teuren und umweltschädlichen thermischen Kraftwerken festzuhalten. Daher musste der Staat die JIRAMA subventionieren; dieses Finanzloch ohne Boden hat seit dem Staatsstreich von 2009 seine Nutznießer zu Milliardären gemacht. Als Folge nahmen Stromausfälle und die Armut in anderen Teilen der Gesellschaft zu.
Das System beruht auf Gewalt, speziell von Seiten der Gendarmerie statt der Armee oder der regulären Polizei. Bereits bei den Präsidentschaftswahlen von 2023, die von elf Kandidaten boykottiert wurden, schlossen sich diesen rund 50 politische Organisationen und Parteien an und riefen dazu auf, auf die Straße zu gehen. Forderungen nach mehr Demokratie und nach freien Wahlen wurden gewaltsam unterdrückt, obwohl nur wenige Menschen für Straßenprotest mobilisiert wurden und viele einfach dem Urnengang fernblieben.
Junge Leute verfolgten GenZ-Proteste in Nepal über soziale Medien
Die sozialen Netzwerke sind hingegen inzwischen zu Räumen des Austauschs und der Information geworden, obwohl zahlreiche Influencer und Whistleblower ins Gefängnis gesteckt wurden. Der Staatschef, der selbst gern auf Facebook auftritt, musste erleben, wie sich die sozialen Medien gegen ihn wandten – so sehr, dass jeder Minister dort falsche Konten unterhalten musste, um Desinformation zu verbreiten und Facebook-Rebellen anzugreifen. Diese legten die immer zahlreicheren Skandale der Machthaber offen. Zu den bekanntesten zählt die Festnahme von Romy Voos, der Stabschefin des Präsidenten, im August 2023, die dann in London wegen versuchter Korruption angeklagt wurde.
Vor diesem Hintergrund verfolgten seit dem 8. September Nutzer der sozialen Medien in Madagaskar die Märsche der Generation Z in Nepal. Eine kleine Gruppe von Gymnasiasten und Hochschulstudenten rief im Netz dazu auf, auf den Straßen der großen Städte gegen die Unterbrechung der Strom- und Wasserversorgung zu demonstrieren. Studierende der öffentlichen Universitäten folgten als erste diesen Aufrufen. Die Repression bei den Protesten Ende September war brutal: 22 Menschen starben und mindestens hundert wurden verletzt, in einigen Fällen durch Schüsse. Die Protestbewegung wuchs und wurde von einem Teil der Armee geschützt. So brach in nicht einmal einem Monat das Machtgefüge des Präsidenten zusammen und die wichtigsten Führungsfiguren, darunter auch Andry Rajoelina selbst, flüchteten ins Ausland.
Armut hat viele Gesichter
Die Gründe dafür und für die Krise im Land liegen tiefer. Der erste ist die Bevölkerungsstruktur, die über Jahrzehnte weitgehend unverändert blieb. Die Bevölkerung ist seit 1995 von 12 Millionen auf heute mehr als 30 Millionen gewachsen, doch auch jetzt sind drei Viertel der Menschen jünger als 30 Jahre. Von ihnen lebt der Großteil, rund 70 Prozent, auf dem Land.
Der zweite Grund ist Armut. Zwei von drei Madegassen leben in extremer Armut nach der Definition der Weltbank: Sie müssen mit umgerechnet weniger als 2,15 US-Dollar am Tag auskommen. Während Armut lange vor allem unter der in ethnische Gruppen geteilten Landbevölkerung vorherrschte, ist sie nun auch in die Städte vorgedrungen, die multiethnischer und weltoffener sind.
Die Armut hat unterschiedliche Gesichter. In den Trockenzonen im Süden treffen ständig wiederkehrende Hungersnöte die Volksgruppen von Viehzüchtern. Seit zwanzig Jahren haben Trockenzeiten, die die Behörden auf den Klimawandel zurückführen, die Armut dort erhalten und verschärft. Andere Landesteile wie Ikongo im Südosten sind völlig abgeschieden, weil das Straßennetz fast gar nicht unterhalten wird, so dass es an Verwaltung und öffentlichen Diensten fehlt. Unter Malaria leiden dort drei Viertel der Menschen.
Traditionelle Strukturen werden ausgenutzt
Der dritte systemische Grund für die politische Instabilität liegt in den Strukturen der Gesellschaft. Sie ist gespalten entlang ethnischer Trennlinien, die von den politischen Eliten absichtlich aufrechterhalten werden, damit kein die Grenzen dieser Gemeinschaften übergreifendes Bewusstsein entsteht. Die Eliten der jeweiligen Gruppen nutzen diesen Zustand bei der Aufteilung von Ressourcen aus.
Autor
Solofo Randrianja
ist Professor für Geschichte an der Universität von Toamasina und Direktor des „Laboratoire Governance and Development“ am Institut für politische Studien in Madagaskar.Die städtischen politischen Eliten stützen sich auf diese Strukturen und ziehen daraus Profit. In diesen sogenannten traditionellen Strukturen, die aber immer wieder an die Gegenwart angepasst werden, stellen Frauen, Angehörige der niederen Schichten und jede andere Gruppe von Untergebenen die Arbeitstiere dar.
Junge Leute haben keinen Einfluss auf politische Entscheidungen
Eine eigentliche Arbeiterschaft gibt es in Madagaskar kaum. Zwar ist der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt von 16 Prozent im Jahr 2000 auf 27 Prozent 2021 gestiegen, aber im Schnitt sind nur 8,5 Prozent der Beschäftigten dort tätig. In ihrer Mehrheit sind die jungen Arbeitskräfte weiterhin Bauern. In den 1980er Jahren kamen jedes Jahr 200.000 junge Menschen neu auf den Arbeitsmarkt, gegenwärtig müssten es mehr als 600.000 sein.
In den Städten arbeiten die meisten im informellen Sektor. In einem Bericht von Mitte 2023 bemerkt der Internationale Währungsfonds (IWF), dass bis zu 100 Prozent der kleinen Produktionsbetriebe in Madagaskar informell sind. Sie sträuben sich gegen eine Formalisierung, weil der Staat nicht für eine zufriedenstellende Versorgung mit Elektrizität oder Wasser sorgt, die es ihnen ermöglichen würde, Steuern und angemessene Löhne zu zahlen. Ihre überwiegend jungen Arbeitskräfte sind besonders anfällig für Ausbeutung. Diese Lage macht es schwer, Steuereinnahmen zu generieren. Madagaskar gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Steuerquote im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt weltweit.
Junge Leute aus den Unterschichten haben zudem keinerlei Einfluss auf politische Entscheidungen. Junge Frauen werden mit durchschnittlich 15 bis 17 Jahren Mutter, erhalten aber keinerlei Verantwortung für das Geschick ihrer Gemeinschaften. Etwas mehr als die Hälfte der Mädchen zwischen 6 und 15 Jahren, aber nur noch etwa eine weibliche Jugendliche im Alter zwischen 16 und 20 Jahren gehen zur Schule.
Es überrascht nicht, dass es junge Leute in die Welt der Städte zieht. Sie versuchen so, der drückenden gesellschaftlichen Hierarchie zu entkommen und würdige Arbeitsmöglichkeiten zu finden. Die etwas wohlhabenderen sehen ihre Zukunft nicht in Madagaskar. Dieser Teil der Gesellschaft, die Generation Z in den Städten, hat dank des Smartphones über das Internet Zugang zur Welt. Die sozialen Netzwerke sind für sie ein virtueller Ort der Begegnung und des Austauschs. Man sieht dort Videos von Rappern, die an den wenigen Oasen der Hypermodernität in der Hauptstadt gedreht wurden. Man folgt dort allen Arten von Influencern, die ein bestimmtes Konsumverhalten anpreisen, und erlebt Vielfalt, die anderswo geächtet ist, etwa Homosexualität.
Ständige Unterbrechungen der Strom- und Wasserversorgung
Die Generation Z hat das endlose politische Duell zwischen Andry Rajoelina und Marc Ravalomanana nicht oder nur von Weitem miterlebt. Ravalomanana war ein Hoffnungsträger, wurde jedoch nach einer vielversprechenden ersten Amtszeit korrumpiert. Er ist noch immer die Hauptfigur der Opposition, zusammen mit Siteny Andrianasolo, einem früheren Anhänger Rajoelinas, der zur Gegenseite übergelaufen ist. Die Bewegung zum Boykott der Präsidentenwahlen von 2023 vermochte aber damals das Volk nicht auf die Straße zu bringen.
Diese Lücke füllt 2025 die Generation Z. Das Initiativteam kommt aus den proletarisierten Mittelschichten; es sind vor allem Universitätsstudenten, die unter miserablen Bedingungen leben und arbeiten. Sichtbares Zeichen der Misere sind die ausgedehnten und unvorhersehbaren Unterbrechungen der Wasser- und Stromversorgung, denen 30 Prozent der Madegassen mit entsprechenden Anschlüssen ausgesetzt sind, sämtlich Stadtbewohner.
Als diese gesellschaftliche Randgruppe erkennt, welchen Einfluss sie hat – zu messen an der Zahl der Follower der bekanntesten von ihnen –, wird die Kritik im Netz allmählich lauter. Skandale befeuern die sozialen Netzwerke, deren Nutzer aufgrund ihrer großen Zahl vor Strafverfolgung sicher sind. Der Presse hingegen hat man einen Maulkorb verpasst; mehrere Journalisten sitzen im Gefängnis, etwa der Herausgeber der Gazette de la Grande Île.
Manche Whistleblower werden verhaftet, aber die Bewegung ist nicht mehr aufzuhalten. Facebook archiviert all die Erklärungen und gebrochenen Versprechen Rajoelinas der vergangenen 15 Jahre. Diese Bilder entlarven den Präsidenten. Sobald er von Rechtmäßigkeit spricht oder von Liebe zum Vaterland, erinnern ihn zum Beispiel Posts daran, dass er 2014 aus freien Stücken die französische Staatsbürgerschaft beantragt hat; laut der Verfassung, die er selbst mit einem Referendum annehmen ließ, verliert er damit automatisch die madegassische Staatsbürgerschaft und hätte sich 2023 gar nicht zur Wahl stellen dürfen.
Die GenZ-Bewegung in Madagaskar hat keine Führung
In Echtzeit verfolgt diese vernetzte Randgruppe der madegassischen Gesellschaft dann den Sturz der nepalesischen Regierung. Die Demonstranten schwingen die schwarze Piratenflagge von Captain Ruffy aus der japanischen Manga-Serie „One Piece“, die weltweit zum Symbol der GenZ-Proteste wurde, und geben ihm in Madagaskar den dort üblichen Hut. Sie beziehen sich nicht auf politische Strategien und noch weniger auf Ideologien oder Regierungsprogramme. Es gibt auch keine Versammlungen mit erfahrenen Rednern. Die Bewegung hat keine Führung. Die Leitung scheint kollektiv zu sein, sie hat jedenfalls kein Gesicht. Die Werte, die vermittelt werden, sind Gerechtigkeit und die Zurückweisung von Korruption und Vetternwirtschaft.
Damit macht sich die Generation Z zum Sprecher der gesamten Gesellschaft, während sie sich zugleich als nicht politisch darstellt. Andere Teile der städtischen Gesellschaft schließen sich an wie Gewerkschaften und andere Vereinigungen, die auf ihre Mitgliedschaft bezogene Forderungen vorbringen. Die Gewalt der Sicherheitskräfte treibt dann die Zahl der Demonstranten in die Höhe. Sie fordern nun den Rücktritt von Andry Rajoelina. Nach und nach kommt es auch in kleinen, halb ländlichen Orten zu offenen Protesten.
Der Rat der Christlichen Kirchen in Madagaskar (FFKM), dem nicht katholische Kirchen angehören, bietet sich als Vermittler an und ebenso die Afrikanische Union, jedoch zu spät. Die Hierarchie der katholischen Kirche wiederum hat sich in den Ruf gebracht, zu Rajoelina zu stehen – vor allem, da sie sich 2023 geweigert hat, eine Verschiebung der Präsidentenwahlen zu fordern. Die Protestanten der FFKM gelten hingegen als Anhänger Ravalomananas und als Leute der Vergangenheit. Die Situation scheint verfahren.
Oberst Michael Randrianirina wird der neue Präsident
Dann erklärt am 11. Oktober 2025 ein Teil der Armee, das Sonderkommando CAPSAT, sich auf die Seite der Demonstranten zu stellen. Denn Rajoelina hatte die Gendarmerie gegenüber der eigentlichen Armee und den Polizeikräften bevorzugt. Immer wieder wurden Armeeoffiziere verhaftet oder ins Exil gezwungen. Der neue Präsident, Oberst Michael Randrianirina, war als Chef der Militäreinheit im Süden ebenfalls kurzzeitig ins Gefängnis gesteckt worden, bevor er zum CAPSAT berufen wurde. Die ist eine Verwaltungseinheit, die allerdings die Munition der Streitkräfte hütet.
Den Offizieren der CAPSAT gelingt es im Oktober, den größten Teil der Streitkräfte zu überzeugen, sich ihnen anzuschließen oder zumindest neutral zu bleiben. Ein paar Monate zuvor hatte der Generalstab eine Ausgangssperre über die Truppen verhängt und Offiziere unter Arrest gestellt. Ebenso wollte der Generalstab den gesamten Waffen- und Munitionsbestand an die Gendarmerie übertragen. Beobachter sehen die Betreiber des Sturzes von Rajoelinas Regime von dieser Seite kommen, bevor überraschend die Generation Z die politische Bühne betritt.
Noch fehlt es an durchdachten Vorschlägen
Jetzt steht Madagaskar das Schwierigste noch bevor. Die politische Klasse wird sich ebenso wie die Militärs in Stellung bringen, um die Früchte des Sieges zu vereinnahmen. Wird sich die Jugend den Sieg wieder nehmen lassen wie nach früheren Protestbewegungen? Der Vorteil der heutigen Bewegung ist, dass sie nur ein paar Dutzend Tage gedauert hat; die früheren dauerten mehrere Monate und hatten jedes Mal eine schreckliche Wirtschaftsrezession zur Folge.
Ein mafiöses System zu zerschlagen reicht aber nicht, um zu verhindern, dass sich ein ähnliches neu bildet. Wie kann die Generation Z ein Gesellschaftsprojekt um inklusive Werte herum aufbauen? Die Zentrifugalkräfte sind groß.
Zu den Projekten der Militärs, die jetzt an der Macht sind und dieser einen legalen Anstrich geben wollen, gehört eine Nationalkonferenz zur Neubegründung des Landes. Sie geben sich höchstens zwei Jahre, um diese Neugründung einzuleiten und Wahlen abhalten zu lassen. Aber die Anhänger Rajoelinas verfolgen Rivalitäten innerhalb der Streitkräfte genau. Ein sehr bekannter Offizier der Gendarmerie droht bereits, mit Tausenden seiner Männer aus dem tiefen Süden auf die Hauptstadt zu marschieren.
Nach Jahrzehnten des Verfalls der Schulbildung fehlt es an durchdachten Vorschlägen. Ausgangspunkt für die Reflexion könnten das Projekt einer Plattform sein, die alle Teile der Generation Z bündelt, die studentischen Organisationen von allen Universitäten Madagaskars: Sie wollen eine Art Jugendparlament auf die Beine stellen, das als einiges Sprachrohr gegenüber Behörden und politischen Parteien auftritt. Die Generation Z hat sich zunächst als vermeintlich unpolitisch dargestellt – eine unhaltbare Position – und ist nun hin- und hergerissen dazwischen, sich formell zu organisieren oder weiter Druck von außen auf das politische System auszuüben. Aber sie behauptet sich allmählich als Kraft, die Auswege vorschlägt.
Aus dem Französischen von Christine Lauer.

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