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Seit Jahrzehnten folgt die madagassische Politik einem vorhersehbaren Muster: Unzufriedenheit wächst, Proteste brechen aus, Versprechen werden gemacht, und dann ändert sich nichts Grundlegendes. Aber die aktuelle Welle der Unruhen, angeführt von einer Generation, die nur Armut, Korruption und institutionellen Verfall kennt, könnte ein Zeichen dafür sein, dass das Land einen Wendepunkt erreicht hat.
Der unmittelbare Auslöser war scheinbar klein: Zwei Stadträte in der Hauptstadt Antananarivo versuchten, einen friedlichen Protest gegen Wasserknappheit und Stromausfälle zu organisieren. Wasser und Strom sind grundlegende Dienstleistungen, doch auch im Jahr 2025 sind sie für die meisten madagassischen Haushalte noch immer unzuverlässig. Doch die beiden Stadträte wurden verhaftet und ihr Prozess auf den 11. November vertagt. Dieses Vorgehen löste Empörung unter jungen Menschen aus, die in dieser Maßnahme ein weiteres Symbol für einen Staat sahen, der die elementarsten Bedürfnisse seiner Bürger ignoriert.
Aus diesem Funken entstand die Gen Z Madagascar, eine von Jugendlichen geführte Bewegung, die nicht nur Strom und Wasser fordert, sondern auch Würde, Verantwortlichkeit und Mitsprache bei der Regierung ihres Landes. Ihre Botschaft findet weit über ihre Generation hinaus Resonanz. Sie spiegelt die kollektive Frustration über ein politisches System wider, das seit Jahren nicht in der Lage ist, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen, während es eine kleine Elite mit Zugang zu Macht und Reichtum belohnt.
Plünderungen wurden inszeniert
Die Reaktion des Staates offenbarte sowohl seine Unsicherheit als auch seine bekannte Vorgehensweise: Gegen friedliche Demonstrationen ging er mit Tränengas, Gummigeschossen und Verhaftungen vor. Dann, inmitten eskalierender Spannungen, kam es in ganz Antananarivo zu organisierten Plünderungen. Im Internet kursierten Videos, die zeigten, wie Einzelpersonen Gruppen von Plünderern Bargeld aushändigten. Das nährte den Verdacht, dass das Chaos inszeniert worden war, um die Proteste zu delegitimieren und ein hartes Durchgreifen der Sicherheitskräfte zu rechtfertigen. Dies ist eine alte Taktik: diskreditieren, spalten und dann unterdrücken.
Doch diesmal scheint diese Strategie zu versagen. Anstatt sich aufzulösen, haben sich die Proteste auf das ganze Land ausgeweitet. Dabei mobilisieren sich die Bürger in Toamasina, Antsiranana, Antsirabe und darüber hinaus nicht nur gegen Versäumnisse im Dienstleistungssektor, sondern auch gegen systemische Korruption und Vereinnahmung des Staates. Das Ausmaß und die Entschlossenheit dieser Demonstrationen lassen vermuten, dass es sich nicht um einen vorübergehenden Ausbruch handelt. Sie sind Ausdruck der seit langem aufgestauten Wut in einer Gesellschaft, in der mehr als 70 Prozent der Menschen in Armut leben, die grundlegende Infrastruktur zerfällt und Korruption die Regierungsführung auf allen Ebenen zersetzt.
Bloße Gesten des Staatschefs verfangen nicht mehr
In einem dramatischen Versuch, die Krise einzudämmen, entließ Präsident Andry Rajoelina (dessen eigener Aufstieg zur Macht mit einem Staatsstreich im Jahr 2009 begann) seinen langjährigen Premierminister und löste die Regierung auf. Er versprach ein „neues Kapitel” und eine härtere Haltung gegenüber der Korruption. Aber solche Gesten sind in der politischen Geschichte Madagaskars nur allzu bekannt. Kabinettsumbildungen und Reformrhetorik haben wiederholt als Ventile gedient, um Druck abzulassen und Krisen zu entschärfen, ohne die zugrunde liegenden Machtstrukturen zu verändern.
Und genau darin liegt der Kern des gegenwärtigen Konflikts. Bei den Protesten geht es nicht nur um Versorgungsengpässe oder Versäumnisse der Regierung, sondern um die Ablehnung einer politischen Ordnung, die seit Jahrzehnten im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Elitenetzwerke machen sich weiterhin staatliche Institutionen zur Beute, schöpfen öffentliche Mittel ab und nutzen Armut als Mittel zur Kontrolle der Bevölkerung. Die jungen Leute, die jetzt auf die Straße gehen, fordern nichts weniger als eine Neugestaltung des Gesellschaftsvertrags, so dass der Staat dem Volk dient und nicht etablierten Interessengruppen.
Ob das jetzt zu einem Wendepunkt wird, hängt davon ab, wie die herrschende Elite reagiert. Wenn sie weiterhin nur Symbolik anstelle von Substanz liefert, wird sich die Krise verschärfen und kann Madagaskar in anhaltende Instabilität stürzen. Wenn sie jedoch zuhört (wirklich zuhört) und tiefgreifende institutionelle Reformen in Angriff nimmt, könnte dieser Aufstand zum Beginn einer längst überfälligen Transformation werden.
Die Botschaft aus den Straßen Madagaskars ist klar: Die Geduld ist am Ende. Die alte Politik reicht nicht mehr aus. Eine Generation, die nichts mehr zu verlieren hat, könnte genau die sein, die alles verändert.
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