In Venezuela wird Ende Juli der Präsident gewählt. Die Regierung Maduro hat ein Mindestmaß an Fairness zugesagt, im Gegenzug haben die USA Sanktionen gelockert. Wie fair ist nun der Wahlprozess?
Die Regierung hat im Oktober in Barbados eine Vereinbarung mit der Opposition geschlossen, unterstützt von der Regierung Norwegens und natürlich den USA. Sie gibt darin Garantien für den Wahlprozess, im Gegenzug unterstützt die Opposition die Lockerung der harten US-Wirtschaftssanktionen. Was die USA und Venezuela in Katar vereinbart haben, ist aber geheim; wahrscheinlich geht es darin um die Sanktionen, zum Beispiel gegen den Erdölsektor. Trotz der Abkommen sind die Umstände der Wahlen sehr schlecht. Zum Beispiel sitzen einige Menschenrechtsverteidiger und Oppositionspolitiker in Haft, und von den rund 7,7 Millionen Venezolanern im Ausland dürfen nur rund 69.000 mit abstimmen. Trotzdem ist diese Wahl für uns sehr wichtig, denn der Wunsch nach Veränderung ist stark. Die Regierung Maduro findet kaum noch Zustimmung. Den Menschen in Venezuela ist klar, dass sie und das System des Chavismus insgesamt für die tiefe Krise verantwortlich sind. Wir spüren den Wind des Wandels, von dem die Rockband „Scorpions“ gesungen hat.
Mit der tiefen Krise meinen Sie die wirtschaftliche und soziale Not?
Ja. In Venezuela leben mindestens 19,7 Millionen der insgesamt 30 Millionen Menschen in tiefer Armut. Wir haben eine hohe Inflation, die Trinkwasserversorgung ist nicht gesichert, der Strom fällt ständig aus. Die gesamte öffentliche Infrastruktur ist aus politischen Gründen zusammengebrochen. Im Minengürtel im Süden des Landes verursacht der Bergbau dramatische Umweltschäden. Wir haben es mit einer komplexen humanitären Notlage zu tun. Das heißt keines der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte ist gewährleistet – zusätzlich zur Repression und den Verstößen gegen die politischen und bürgerlichen Rechte. Deshalb sind ja sieben Millionen Menschen ins Ausland geflohen. Die Regierung behauptet, die Wirtschaftssanktionen seien für die Misere verantwortlich, aber ihre Zahlen kann man nicht prüfen und die Korruption und die Repression gab es schon davor. Vielleicht haben die Sanktionen die Lebensbedingungen noch etwas schlechter gemacht, aber das können wir mangels Transparenz beim Staatshaushalt nicht wissen.
Sie sind dafür, die Sanktionen beizubehalten?
Wir müssen zwischen Sanktionen gegen Einzelne, die für Verbrechen verantwortlich sind, und Sanktionen gegen ganze Wirtschaftssektoren unterscheiden. Die zweiteren müssen als Druckmittel in Verhandlungen über die Bedingungen der Wahl und über den Übergangsprozess eingesetzt werden. Das tun die USA, aber ich will mehr Garantien von der Regierung Maduro, denn sie hält ihre Zusagen für die Wahl nicht ein.
Welches sind die größten Mängel – etwa, dass die populärste Oppositionskandidatin ausgeschlossen ist?
Ja; María Corina Machado hat im Oktober 2023 die Vorwahlen innerhalb Opposition ganz klar gewonnen, aber sie darf nicht kandidieren. Sie hat dann ihre Rolle an Corina Yoris abgegeben, und das Regime hat auch sie nicht zugelassen. Aber dann haben alle Oppositionsparteien sich auf Edmundo González Urrutia als Kandidaten geeinigt, und er arbeitet mit Machado zusammen.
Die Chance der Opposition ist größer als früher, weil sie jetzt einig ist?
Genau.
Ist auch die Zivilgesellschaft stärker als bei früheren Wahlen?
Das denke ich nicht. Wir mussten im Laufe der Jahre viele Angriffe hinnehmen und die Migration reißt Familien auseinander. Aber die Hoffnung ist stärker als früher und gibt uns Kraft.
Gibt es eine unabhängige Wahlbeobachtung?
Das US-amerikanische Carter Center wird Beobachter schicken und die Vereinten Nationen auch. Allerdings soll der Bericht der UN-Beobachter nur für den UN-Generalsekretär Antonio Guterres sein, nicht öffentlich. Wir fordern die Regierungen in Europa und besonders die deutsche auf, dass sie von Antonio Guterres verlangen, den Bericht zu veröffentlichen oder zumindest die Ergebnisse bekannt zu machen.
Der Regierung Maduro werden schwere Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Welches sind die häufigsten und schlimmsten?
Darüber könnten wir Stunden reden. Die Regierung Maduro stützt sich nur auf Gewalt. In Venezuela wird im Namen der Regierung gefoltert und man lässt Menschen verschwinden. Leute, die als Oppositionelle angesehen werden, werden willkürlich verhaftet; dafür reicht es schon, wenn man eine missliebige Meinung in sozialen Medien geäußert hat. Wir leiden unter organisiertem Verbrechen, das aus der Regierung unterstützt wird. Venezuela erzeugt außerdem eine Sicherheitskrise für die ganze Region, nicht nur wegen der hohen Abwanderung. Die Repression ist hart und verbreitet. Allerdings gibt es nicht mehr die Massenverhaftungen der Jahre 2017 bis 2019.
Die Repression hat nicht mehr ein so großes Ausmaß, aber sie ist ausgefeilter?
Richtig, die Regierung geht selektiver vor als früher, die Unterdrückung ist gezielter.
Welche Staatsorgane begehen Menschenrechtsverletzungen?
Die Hauptverantwortlichen sind der nationale Geheimdienst SEBIN und das Direktorat für Gegenspionage DGCIM, eine geheime Gruppe des Militärs. Auch die Polizei beteiligt sich und die Justiz ist ebenfalls mitverantwortlich.
Wie kann CIVILIS unter diesen Umständen für Menschenrechte eintreten? Können Sie zum Beispiel in Fällen von Verschwindenlassen oder Folter ein Gericht anrufen?
Nein. Und wir arbeiten in ständiger Angst. Wenn ich eine Warnung erhalte, dass ich festgenommen werden soll, werde ich sofort das Land verlassen. Denn vor der Justiz habe ich keinen fairen Prozess zu erwarten. Ich weiß, dass die Regierung alle meine Rechte im Verfahren missachten wird. Aber wenn ich nicht diese Aufgabe erfülle, wer wird es dann tun? Wir sind den Menschen schuldig, uns für sie einzusetzen.
Wenn Nicolas Maduro die Wahl verliert, wird er dann auch abtreten? Das Militär profitiert von seiner Herrschaft, und er hat schon die Wahlen 2015 verloren und weiter regiert. Was lässt Sie hoffen, dass es diesmal anders endet?
Das Risiko, dass er sich wieder über das Wahlergebnis hinwegsetzt, besteht. Aber wir denken, dass er diesmal den Willen des Volkes respektieren muss – vorausgesetzt, dass er die Wahl mit großem Abstand verliert. Und 2015 hat nicht das Militär, sondern die Justiz das Wahlergebnis gekippt. Das Militär hat es akzeptiert. Für Edmundo Gonzales und andere Oppositionspolitiker wäre es ohne Zustimmung des Militärs jetzt auch nicht möglich, sich so im Land zu bewegen, wie sie es tun.
Zumindest Teile des Militärs und anderer Staatsorgane sind bereit, eine Niederlage Maduros hinzunehmen?
Ja, falls der mit sehr großem Abstand verliert. Und zwischen der Elite im Militär und den unteren Rängen besteht ein großer Unterschied. Die Elite bereichert sich und kümmert sich wenig um die unteren Ränge; die Familien der Soldaten leiden unter der Krise auch.
Wenn die Opposition gewinnt, sollte man dann aus dem Ausland Maduro unter Druck setzen, abzutreten?
Ja. Das zu erreichen ist auch ein Ziel meiner Reise nach Deutschland. Die Staatengemeinschaft sollte der Regierung in Venezuela rote Linien aufzeigen, die sie nicht überschreiten darf, ohne sich international zu isolieren. Eine allgemein anerkannte Wahl, also mit glaubwürdigem Ergebnis, ist im Interesse aller in Venezuela, auch der Elite.
Was erwarten Sie da von anderen lateinamerikanischen Staaten wie Brasilien und Kolumbien?
Die Regierung Brasiliens ist offener für Gespräche mit der Zivilgesellschaft Venezuelas als die von Kolumbien. Aber die Region könnte viel mehr für uns tun. Wichtig wäre Druck aus einzelnen Staaten; das macht auf die Regierung Maduro mehr Eindruck als Erklärungen aus der Regionalorganisation OAS.
Muss man Maduro persönlich einen sicheren Ausweg anbieten?
Unbedingt. Ich denke, Maduro weiß das und hat deshalb die Wahlen so früh angesetzt. Nach der Verfassung müssten sie bis Dezember stattfinden, seine Amtsperiode endet im Januar. Aber er lässt früher wählen, weil der dann Zeit braucht, um auszuhandeln, dass er das Land verlassen kann oder zumindest Schutz vor Strafverfolgung bekommt. Er weiß, dass er die Wahl nicht gewinnen kann, und braucht die sechs Monate, um Garantien für sich und seine engen Getreuen auszuhandeln. Solche Verhandlungen sind nötig und man muss der herrschenden Elite Garantien geben, ohne totale Straflosigkeit zu bewirken – das wird schwierig.
Was ist danach nötig, um die Straflosigkeit zu beenden? Hilft es, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Anklagen zu Venezuela vorbereitet?
Das Gericht in Den Haag hat die Vorermittlungen abgeschlossen, aber wir wissen noch nicht, gegen wen es Anklage erheben will – vielleicht zuerst gegen Vertreter von SEBIN und DGCIM, denn das sind die Schlimmsten. Aber sehr wichtig sind für uns die Berichte mehrerer UN-Missionen, etwa der unabhängigen internationalen Fact-Finding Mission; die werden helfen, zu erinnern und die Frage der Rechenschaftsplicht anzugehen. In jedem Übergangsprozess muss man einen passenden Umgang mit der Vergangenheit finden. Und uns ist klar, dass der Neuaufbau der Institutionen mehrere Jahre brauchen wird. In dieser Zeit brauchen wir internationale Hilfe für den Wiederaufbau des Landes.
Das Land braucht auch dringend humanitäre Hilfe?
Ja, unbedingt. Was wir erhalten, ist nicht genug. Leider konkurrieren wir mit anderen Katastrophen und die Not in Venezuela wird nicht ausreichend wahrgenommen. Auch deshalb sind die Wahlen so wichtig. Will man sich weitere sechs Jahre Maduro vorstellen? Dann werden noch mehr Menschen das Land verlassen. Diese Wahl ist unsere letzte Chance, die Verhältnisse zu ändern. Wir müssen mit aller Kraft versuchen, sie zu nutzen – jetzt, wo der Wind des Wandels wieder zu spüren ist.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
Wahlen in Venezuela - Gespräch mit Mario D'Andrea Canas
"...Sie sind dafür, die Sanktionen beizubehalten?
Wir müssen zwischen Sanktionen gegen Einzelne, die für Verbrechen verantwortlich sind, und Sanktionen gegen ganze Wirtschaftssektoren unterscheiden. Die zweiteren müssen als Druckmittel in Verhandlungen über die Bedingungen der Wahl und über den Übergangsprozess eingesetzt werden...." erklärt Mario D'Andrea Canas.
Alleine dieser Ausspruch diskreditiert seinen Beitrag.
Entweder sind "Sanktionen gegen ganze Wirtschaftssektoren" wirkungslos - dann sind sie sinnlos und müssen nicht befürwortet werden. Oder sie wirken - dann sind sie (mit-)verantwortlich für die wirtschaftliche Misere im Land.
Im Klartext: der Oppositionspolitiker Mario D'Andrea Canas begrüßt die wirtschaftliche Strangulierung seines Heimatlandes, um der Opposition einen Wahlvorteil zu verschaffen.
Ich frage mich, was das größere Übel ist: Ein unfähiger Marxist Maduro oder ein amerikanisches U-Boot, das US-Interessen vertritt, nicht venezolanische.
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