Schlichte Thesen

Millionen Franzosen gingen nach dem Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ Anfang 2015 auf die Straße, um die Werte der Republik zu verteidigen. Für den Soziologen Emmanuel Todd verteidigten sie vor allem das Recht, auf den Glauben der benachteiligten islamischen Minderheit zu spucken.

Vom Ideal der Gleichheit, so der Autor, habe sich die französische Mittelschicht verabschiedet und sich stattdessen fremdenfeindlichen Ideen zugewandt. Die These klingt spannend. Doch Todd begründet sie mit einer abstrusen Theorie. Denn er leitet die gesamte Politik Frankreichs und Europas aus zwei Faktoren im kollektiven Unbewussten ab: den Familienstrukturen und der Religion. Zusammen bestimmten sie die Werte einer Gesellschaft, besonders im Hinblick auf Gleichheit.

In Frankreich, so Todd, stand infolge der Revolution von 1789 ein egalitäres Zentrum, in dem die Kirche kaum mehr Einfluss hatte, den inegalitär geprägten katholischen Randgebieten gegenüber. In ihnen habe der Katholizismus, dem alle Völker gleich gelten, die Neigung zur Fremdenfeindlichkeit gedämpft. Seit 1960 aber breche der Katholizismus in den Randgebieten zusammen – und genau darin sieht Todd  die Ursache der gegenwärtigen Misere. Den Linken im Zentrum sei mit dem Klerus der Gegner abhandengekommen; zur neuen Projektionsfläche aller Übel wurde der Islam. Die katholischen Werte Hierarchie, Gehorsam und Mutterkult hätten indessen den Niedergang des Glaubens überlebt und als „Zombie-Katholizismus“ vom Rand aus das Denken der Linken unterwandert. Nur deshalb könne Frankreichs Elite dem deutschen Kult um den Euro folgen, der den Unterschichten schade.

Todd geht auch auf soziale und wirtschaftliche Faktoren ein – etwa dass Ungleichheit und Bildungsunterschiede neue Ängste entfachen. Doch ordnet er das alles seiner Kernthese unter, dass jeder große politische Umschwung  auf eine religiöse Krise zurückgeht. So habe der Niedergang des Luthertums in Deutschland zum Nationalsozialismus geführt: Inegalitäre Familientraditionen hätten sich mit dem Erbe der protestantischen Prädestinationslehre – dem Zombie-Protestantismus – zu einer rassistischen Ersatzreligion verbunden. Das ist atemberaubend schlicht. Gab es nicht in Deutschland Gebiete mit unterschiedlichen Familientraditionen und gibt es nicht in jeder Religion gegensätzliche Strömungen? Verändern sich unterschwellige Werte nicht mit den sozialen und politischen Umbrüchen – selbst wenn die Religion äußerlich unverändert scheint? Der Soziologe versteigt sich sogar zu der Behauptung, die autoritär und egalitär ausgerichteten Familienwerte in Russland machten das Land zu einem Bollwerk gegen den Neoliberalismus. Eine Zombie-Orthodoxie erkennt er komischerweise nicht.

Auch Todds Methoden sind fragwürdig. So jongliert er mit statistischen Übereinstimmungen, die für sich genommen wenig bedeuten. Die Familienstruktur erklärt er immer zum dominanten Faktor – außer da, wo es gerade nicht ins Bild passt. Das Buch ist alles in allem wenig stringent und mäßig übersetzt. Die französischen Sozialisten und die Anhänger von Charlie hätten wahrlich bessere Kritiker verdient.

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