Wer bleiben darf, kümmert sich auch

Toni Keppeler
Edgar Corea (links) lebt seit mehr als vierzig Jahren in La Chacra. Zusammen mit anderen Bewohnern hat er das einstige Elendsviertel in El Salvadors Hauptstadt San Salvador saniert und mit Wasser und Strom ausgestattet.
El Salvador
Die Siedlung La Chacra in San Salvador zeigt, wie es mit viel Bürger­beteiligung möglich ist, aus einem Slum ein ansehnliches Wohnviertel mit Grünflächen und mit Wasser-, Strom- und Straßenversorgung zu machen.

Kaum etwas haftet so hartnäckig an einem Namen wie ein schlechter Ruf. Die Bewohner des Armenviertels La Chacra im Südosten von San Salvador wissen das. Taxifahrer zucken noch immer zusammen, wenn man sie darum bittet, dorthin zu fahren. Sie setzen ihre Fahrgäste lieber am Eingang zum Stadtviertel ab, am vierspurigen Boulevard Venezuela, gleich hinter den Eisenbahnschienen, auf denen seit Jahrzehnten kein Zug mehr fährt. Sie wollen nicht hinunterfahren in die tiefe Schlucht des Río Acelhuate, des Flusses, der schon von weitem modrig stinkt und der in allen erdenklichen Farben schimmert und schäumt. 

Dabei bedeutet „La Chacra“ übersetzt „das kleine Landgut“. Aber in der Hauptstadt von El Salvador denkt man bei diesem Namen nicht an Sommerfrische und Schatten spendende Bäume. Man denkt an Hütten aus Wellblech und Karton, an Müll und Exkremente auf staubigen Wegen, an Millionen von Stechmücken und Gestank. Und natürlich an zwielichtige Gestalten und an Gewalt. In den 1980er und 90er Jahren war das tatsächlich so. Knapp 7000 Menschen wohnen in dieser Schlucht am Rande der Hauptstadt auf weniger als einem Quadratkilometer.

Edgar Corea ist einer von ihnen. Er kam 1982 als Elfjähriger zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester nach La Chacra. Sie waren Flüchtlinge, in ihrer Heimatprovinz Morazán im Osten El Salvadors wütete der Bürgerkrieg; ganze Dörfer wurden von der Armee ausgelöscht, weil die Regierung glaubte, die Bewohner unterstützten die linke Guerilla. Auch Coreas Vater war umgebracht worden. „Damals wohnten noch nicht viele Leute hier“, erinnert sich Corea. „Es gab nur ein paar Hütten aus Holz, Karton und Wellblechplatten, ohne Plan einfach irgendwo zusammengenagelt.“ Andere hatten Wände aus Bambusstangen, zugeschmiert mit Lehm. Das Abwasser floss offen durch die steilen unbefestigten Wege, die sich in der Regenzeit in Schlammrutschen verwandelten. Den Müll warf man in ein großes Loch oder gleich in den Río Acelhuate.

La Chacra ist viel besser als sein schlechter Ruf

Armselige Hütten gibt es heute kaum noch. Die Straßen sind gepflastert, die steilen Wege haben Treppen. Die Häuser sind zwar klein, aber die meisten sind gemauert und bunt angestrichen. Cashewbäume in den Gassen spenden Schatten, darunter stehen Bänke aus Beton. An Trinkwasser herrscht kein Mangel: Vier starke Quellen entspringen in dieser Schlucht und versorgen nicht nur das Viertel, sondern auch weite Teile der Hauptstadt. Es gibt einen großen Waschplatz, Spiel- und Sportplätze. Alle Häuser haben Strom und Toiletten mit Wasserspülung, die ans Abwassernetz angeschlossen sind. La Chacra ist noch immer nicht reich. Aber es ist viel besser als sein schlechter Ruf, und Edgar Corea ist einer von denen, die sich für diese Veränderung eingesetzt haben. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist er Mitglied eines Stadtteilkomitees, viele Jahre war er der Vorsitzende dieser Gruppe.

Am öffentlichen Waschplatz reinigen die Frauen von La Chacra Geschirr und Besteck.

Die ersten Bewohner haben sich in den 1940er Jahren in La Chacra niedergelassen. Es waren Familien aus dem Hinterland, die in der Hauptstadt Arbeit suchten. Das „kleine Landgut“ war damals ein Naherholungsgebiet am Rand von San Salvador, mit vielen Bäumen und einem Schwimmbad. Das Stadtzentrum lag nur gut einen Kilometer entfernt. Die Siedler wurden geduldet, es waren nicht sehr viele. Zum ersten Mal ist die Siedlung dann 1965 sprunghaft gewachsen. Bei einem Erdbeben waren in der Hauptstadt Mietskasernen eingestürzt; viele der Obdachlosen ließen sich in La Chacra nieder.

Autor

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.

Die nächste Welle von Neusiedlern bildeten dann Flüchtlinge während des Bürgerkriegs, der von 1980 bis 1992 dauerte. Und als 1986 ein weiteres Erdbeben das Schwimmbad zerstörte, hatte in der Stadtverwaltung niemand mehr Interesse am einstigen Naherholungsgebiet. San Salvador war gewachsen, La Chacra lag nun eingeklemmt zwischen dem Fluss, der Bahnlinie und zwei großen Durchgangsstraßen. Daneben war ein Industriegebiet entstanden, das die Schlucht als Müllkippe nutzte. Nach dem Erdbeben verteilte die japanische Botschaft dort Wellblechplatten und lockte damit weitere Siedler an. Seither hat La Chacra den Ruf, stinkend, verdreckt und bitterarm zu sein – und auch gefährlich.

Die Verwandlung des Armenviertels begann 2002. In jenem Jahr hatte eine Kommission von UN-Habitat, dem Siedlungswerk der Vereinten Nationen, bei einer Konferenz in Nairobi zum ersten Mal definiert, was ein Slum sei: ein städtisches Viertel, in dem viel zu viele Menschen auf zu engem Raum wohnen. Ein solches Stück Land sei in der Regel von seinen Bewohnern besetzt worden, weshalb die Besitzverhältnisse unklar seien und die Siedler jederzeit vertrieben werden könnten. Sie lebten in improvisierten Unterkünften, ohne sichere Trinkwasserversorgung und schon gar nicht mit Abwasserleitungen und Toiletten. Trinkwasser war in La Chacra aus den vier Quellen zwar immer vorhanden. Aber sonst sah es dort genauso aus wie in einem Slum laut der Definition von UN-Habitat. Gleich neben dem Müllplatz, erinnert sich Corea, gab es eine Reihe öffentlicher Plumpsklos, die einzigen Toiletten im Viertel. „Oft musste man lange anstehen, der Gestank war unerträglich.“

Die Bewohner schätzen die gegenseitige Hilfe

Im Jahr 2002 war Héctor Silva von der zur Partei gewordenen ehemaligen linken Guerilla FMLN Bürgermeister von San Salvador. Er wollte La Chacra zu einem besseren Ort machen. Doch wollte er die Hütten nicht einfach platt walzen lassen und dafür Mietskasernen errichten. Das wäre zum einen teuer geworden. Zum anderen hatte es solche Versuche schon viele gegeben. Die meisten waren gescheitert, weil die neuen Mietshäuser von den Slumbewohnern nicht angenommen wurden. So unsicher und prekär deren Wohnverhältnisse auch waren – sie schätzten ihre gewachsenen Nachbarschaften und die dort entstandenen Netzwerke der gegenseitigen Hilfe.

Silva versuchte es deshalb mit einer billigeren Lösung: Wenn die Menschen in La Chacra sicher sein könnten, dass sie nicht mehr vertrieben würden, dann würden sie sich mehr um ihre Hütten und ihr Stadtviertel kümmern, glaubte er. Voraussetzung dafür war, dass sie Besitzer des Bodens würden, auf dem sie wohnten. So sah das auch die Stiftung Fundasal, die in einem anderen Elendsviertel von San Salvador bereits erste Erfahrungen mit der Sanierung von Slum­gebieten gesammelt hatte. „Wir können nur dann vernünftig arbeiten, wenn mindestens vier von fünf der Bewohner Eigentümer ihres Grundstücks sind“, sagt Fundasal-Mitarbeiterin Claudia de Handal. Dieses Problem ließ sich in La Chacra politisch lösen. Der allergrößte Teil der Flächen gehörte entweder den staatlichen Wasserwerken oder der Stadt, nur ein kleines Stück war Privatbesitz. Silva verteilte das Land an die Bewohner, Fundasal plante die nötige Infrastruktur und die deutsche Entwicklungsbank KfW finanzierte die Sanierung.

Fundasal plante gemeinsam mit Vertretern der Bewohner, wie das Viertel nach der Sanierung aussehen sollte. Alle wollten auch danach dort wohnen bleiben. Nur diejenigen wurden umgesiedelt, die ihre Hütten an einem von Erdrutschen gefährdeten Hang oder sonst einer gefährlichen Stelle errichtet hatten. 

Wo früher die Müllkippe war, ist heute ein großer Sportplatz

Dann ging es an die Arbeit. Die Bewohner bildeten über hundert Arbeitsgruppen, Corea, der Handwerker ist und etwas von Elektrik, Klempnerei und Mauern versteht, koordinierte eine davon. „Zunächst musste der ganze Müll beseitigt werden“, erinnert er sich. „Da kamen über 6000 Kubikmeter zusammen.“ Dann wurden die Wege aufgerissen, um Wasser- und Abwasserleitungen zu verlegen. Offene Abflusskanäle wurden überdeckelt. Schließlich wurden die Straßen gepflastert, steile Zustiege zu Gassen mit Treppen versehen und wo nötig Stützmauern hochgezogen. Wo früher die Müllkippe war, ist heute ein großer Sportplatz. Dazu gibt es vier Kinderspielplätze, den öffentlichen Waschplatz, einen Kindergarten und eine Grundschule. Bei einer der Quellen wurde sogar ein kleines Schwimmbecken gebaut. „Fundasal hat nur die Facharbeiter gestellt“, sagt Corea. „Alles andere mussten wir selbst erledigen.“

Das Geld für die Facharbeiter und Baumaterialien kam von der KfW, und ein bisschen blieb auch für kleine Kredite für Baumaterialien von privaten Hausbesitzern. Im Wesentlichen aber müssten die sich selbst um die Verbesserung ihrer Wohnungen kümmern. „Wir haben hier Familien, die haben jeden Dollar, der übrig war, in ihr Haus gesteckt“, sagt Corea. „Aber andere sind so arm, dass nie ein Dollar übrigblieb.“ So gibt es neben schmucken Häuschen mit Zierpflanzen im kleinen Vorgarten noch immer ein paar Wellblechhütten. Andere sind in einem Zwischenstadium: Das Fundament und der erste Meter sind gemauert, so dass es im Inneren auch bei tropischen Wolkenbrüchen trocken bleibt. Die Wände darüber und das Dach sind aus Wellblech.

2006 war das Sanierungsprojekt abgeschlossen. Seither müssen sich die Bewohner selbst um den Erhalt der öffentlichen Einrichtungen kümmern. Die Nachbarschaftskomitees, die 2002 gegründet wurden, gibt es weiterhin. Immer wieder organisieren sie kommunale Arbeitstage, etwa um gemeinsam den Müll auf den Straßen einzusammeln. Derzeit sammeln sie Geld, um den Geräten auf den Spielplätzen einen neuen Anstrich zu verpassen. Den haben sie inzwischen auch nötig.

Man hat gelernt, mit kriminellen Banden zu leben

Auch die letzten rechtlichen Probleme würde Corea gerne bald regeln. So haben ein paar Bewohner noch immer keine Besitzurkunde über den Grund, auf dem ihr kleines Haus steht, weil der in Privatbesitz ist und die Eigentümer viel zu hohe Preise verlangen. Seit La Chacra ein ansehnliches Stadtviertel geworden ist, seien die Preisvorstellungen für ein paar Quadratmeter Boden in die Höhe geschossen, ein Kauf sei für arme Leute unerschwinglich geworden, sagt Corea. „Die Verhandlungen sind schwierig. Mit einem Besitzer reden wir schon seit zwanzig Jahren – ohne Erfolg.“ Immerhin hat noch keiner dieser Eigentümer eine Räumungsklage angestrengt.

Von der derzeitigen Regierung sei keine Hilfe zu erwarten, glaubt Corea. Präsident Nayib Bukele hat bislang nur die Polizei und das Militär nach La Chacra geschickt. Er führt derzeit einen Krieg gegen die „Maras“ genannten Banden, die für einen Großteil der Gewaltkriminalität in El Salvador verantwortlich sind. Ende März vergangenen Jahres hat er den – zwischenzeitlich immer wieder verlängerten – Ausnahmezustand verhängt. Seither wurden mehr als 65.000 junge Leute ohne Angabe von Gründen verhaftet. La Chacra galt bis zu den Massenverhaftungen als Gebiet dieser Banden, auch dort wurden ein paar Dutzend junge Leute festgenommen.

„Sicher“, sagt Corea, „auch wir hatten hier eine Mara, aber mit der konnte man reden. Von den Läden im Viertel hat sie kein Schutzgeld erpresst.“ Allenfalls die Getränkelaster und andere Zulieferer hätten Wegzoll bezahlen müssen. Man habe gelernt, mit dieser Bande zu leben. Das einzig Lästige sei gewesen, dass man Besucher vorher bei ihr anmelden musste, damit sie gefahrlos ins Viertel kommen konnten. Nun sei die Bande verschwunden und viele ihrer Mitglieder im Gefängnis. Aber auch viele Unschuldige habe es getroffen. Seinen Schwiegersohn zum Beispiel, von dem wisse er ganz sicher, dass er nie etwas mit den Banden zu tun hatte. Nun müsse Corea seine Tochter finanziell unterstützen, weil vom Vater ihres Kindes kein Geld mehr komme. „Den Soldaten genügt es, wenn du jung bist und arm und in einem Viertel wie diesem lebst. Dann nehmen sie dich mit.“ Dabei seien gerade die jungen Leute wichtig für die kommunalen Arbeitseinsätze. „Sie werden uns fehlen. Wer weiß, wann wir sie wiedersehen.“ So sei der Schaden, den Bukeles Feldzug gegen die Maras angerichtet hat, zumindest in La Chacra größer als der Nutzen.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2023: In der Stadt zu Hause
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