Milliarden Menschen nutzen überall auf der Welt traditionelle Heilmethoden, also Wissen, Fertigkeiten und Methoden, die auf einheimischen Vorstellungen, Glaubensinhalten und Erfahrungen basieren. Dazu zählt auch Akupunktur, die nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in 113 Ländern Gang und gäbe ist. Ayurveda wiederum ist in Indien und anderen asiatischen Ländern wie Sri Lanka, Nepal oder Bangladesch eine anerkannte Therapie in öffentlichen Krankenhäusern, wird an Universitäten gelehrt und ist auch von der WHO als therapeutisches System anerkannt. Auch traditionelle chinesische Medizin (TCM) wird in einem Großteil der chinesischen Krankenhäuser vor allem für Prävention und Gesundheitsförderung angewandt und dringt auch in andere Länder immer weiter vor.
In vielen Ländern Afrikas verlassen sich 80 Prozent der Bevölkerung auf traditionelle Medizin als ihre primäre Grundversorgung. Ossy Kasilo, im Gesundheitsministerium Tansanias Referentin für Arzneimittel und Vorstandsmitglied der weltweiten Koalition für Traditionelle, Komplementäre, Integrative Medizin (TCIH-Coalition) , erklärt dazu: „In Afrika kommt im Durchschnitt auf 25.000 Menschen ein Arzt. Traditionelle Heilende sind dagegen viel häufiger vertreten – hier kommt auf 200 Menschen ein traditioneller Heiler oder eine traditionelle Heilerin.“
Das Beste aus den verschiedenen Medizinrichtungen vereinen
In westlichen Industrieländern sind zwar einige Praktiken und Medikamente aus der traditionellen Medizin seit längerem aus dem Wellness-Sektor bekannt und verbreitet, beispielsweise Kräuterextrakte, Yoga und Qi Gong oder die gerade im Trend liegende Kräuterarznei Pei Pa Koa. Bei der klinischen Versorgung allerdings herrscht noch Zurückhaltung gegenüber Heilmethoden aus anderen Kulturen. Sie öffnet sich erst langsam einem integrativen Ansatz, der das Beste aus den verschiedenen Medizinrichtungen vereint.
Genau solch einem Ansatz haben die Mitgliedsstaaten im Mai 2025 mit der Verabschiedung der WHO-Strategie zur traditionellen Medizin für den Zeitraum von 2025 bis 2034 zugestimmt. Die Strategie soll auf den Weg bringen, woran Fachleute in- und außerhalb der WHO seit Jahrzehnten arbeiten: die weltweite Einbindung traditioneller Heilmethoden in die Gesundheitssysteme – inklusive Regulierung von Medikamenten und Heilpraktiken.
Wichtig ist dabei die sogenannte medizinische Evidenz, die die WHO in der Strategie neu gefasst hat. Unter Evidenz verstehen Fachleute den wissenschaftlichen Nachweis, dass ein Arzneimittel oder ein medizinisches Verfahren den Behandelten nützt. In der Wissenschaft wird dieser Nachweis in der Regel mit klinischen Studien erbracht. Deren Relevanz betont auch die vorgeschlagene WHO-Strategie. Aber sie räumt ein, dass Ansätze der traditionellen Medizin, die auf Erfahrung, Beobachtungen und auch auf Spiritualität beruhen, nicht immer mittels klinischer Studien bewertbar sind, erläutert Kasilo: „Stattdessen fordert sie einen inklusiven Evidenzrahmen, der verschiedene Arten von Daten wertschätzt, darunter gut dokumentierte klinische Erfahrungen, Beobachtungsstudien und gemeindebasierte Forschung.“
Dazu komme, dass Verfahren der traditionellen Medizin meist sehr individuell auf die jeweiligen Patientinnen und Patienten zugeschnitten seien, erläutert Kasilo, die über 20 Jahre lang im WHO-Regionalbüro in Afrika zuständig für die traditionellen Medizin war. „Die Wirksamkeit von Kräutermedizin beispielsweise lässt sich schon deshalb nicht ausreichend mit klinischen Studien erfassen, weil sie bei jedem einzelnen Menschen anders zusammengesetzt, dosiert und auch mit weiteren Verfahren wie etwa Akupunktur, Massage oder Meditation verbunden wird“, erklärt Kasilo. Momentan ist die Wissenschaftlerin im Gesundheitsministerium Tansanias Referentin für Arzneimittel. „Es gibt nicht das eine Verfahren, dem eine ganze Kontrollgruppe unterzogen werden kann und dessen Ergebnisse dann mit denen einer anderen Gruppe verglichen werden, die anders behandelt wurden.“ Gleichzeitig soll mehr Geld in die Erforschung der Verfahren der traditionellen Medizin fließen – wo es geht, auch mit klinischen Studien.
Autorin
Ob das auch geschieht, steht freilich auf einem anderen Blatt, sagt Tido von Schoen-Angerer, Koautor der neuen WHO-Strategie zur traditionellen Medizin. „Alle wissen, dass wir mehr Forschung brauchen, aber kaum jemand gibt Geld dafür.“ Immerhin ermöglicht seit Mai 2025 das sogenannte WHO-TCIM-Dashboard erstmals eine aktuelle Übersicht über den Stand der Anwendung traditioneller und komplementärer Medizin – sowohl auf Länderebene als auch weltweit.
Klare Regeln für Qualität und Sicherheit
Ein weiterer wichtiger Aspekt der neuen WHO-Strategie sind klare Regeln für Qualität und Sicherheit. „Bei formalisierten Systemen wie TCM oder Ayurveda gibt es schon relativ gute Richtlinien und Policies der nationalen Institute. Aber bei anderen Systemen, die von Generation zu Generation übertragen bzw. von Heiler zu Heiler mündlich überliefert werden, ist das oft noch gar nicht der Fall“, erläutert Tido von Schoen-Angerer.
In Ghana ist traditionelle Medizin weit verbreitet und – wie in vielen anderen afrikanischen Staaten – oft das einzige verfügbare medizinische Angebot. Das westafrikanische Land nimmt bei der Regulierung von traditioneller Medizin eine Vorreiterrolle ein. Seit 2001 bieten dortige Universitäten einen vierjährigen akademischen Ausbildungsgang nach den Standards des Ghanaer Verbands für Kräutermedizin mit dem Abschluss Bachelor of Science in Kräutermedizin an. Im Anschluss machen die Absolventen ein einjähriges Praktikum am Zentrum für Kräutermedizin (CPMR) in Mampong-Akwapem bei Accra. Das CPMR betreibt Forschung zu pflanzlichen Arzneimitteln, unterhält Ghanas führende Klinik für pflanzliche Medizin und verwaltet Sammlungen von Gehölzen und Farmen, um eine nachhaltige Versorgung mit Heilpflanzen sicherzustellen.
Einige Praktikanten werden auch in anderen vom Gesundheitsministerium benannten Gesundheitseinrichtungen eingesetzt. Nach dem Praktikum arbeiten medizinische Kräuterkundige dann in Krankenhäusern und Kliniken mit regulär ausgebildeten Ärzten zusammen und tragen so dazu bei, eine Brücke zwischen traditioneller und biomedizinischer Medizin zu schlagen.
Ausgebildete Kräutermediziner bereichern die Schulmedizin
„Im Augenblick beschäftigen mindestens 55 Kliniken in Ghana derart ausgebildete Kräutermediziner“, berichtet Ossy Kasilo. Die Zusammenarbeit erweitere die Kenntnisse und Kompetenzen beider Seiten und erhöhe die Akzeptanz traditioneller Verfahren in der herkömmlichen Schulmedizin ungemein, betont sie: „Denn die größten Gegenspieler der TCI-Medizin sind Schulmediziner – nicht, weil sie der traditionellen Medizin feindlich gegenüberstünden, sondern weil sie schlichtweg in ihrer Ausbildung nichts darüber erfahren haben.“
Deshalb sei es so wichtig, Praktizierende der traditionellen Medizin auszubilden und die Heilmethoden in die Internationale Klassifikation der Gesundheitsinterventionen (International Classification of Health Interventions, ICHI) aufzunehmen. TCM wurde bereits 2019, Ayurveda 2020 in die ICHI aufgenommen, um diese traditionellen Medizinsysteme international vergleichbar zu machen, ihre therapeutischen Ansätze besser zu dokumentieren und die Wirksamkeit für Prävention und Therapie global transparenter und für Studien erfassbar zu machen.
Dass gerade die indische und die chinesische traditionelle Medizin eine Vorreiterrolle spielen, ist kein Zufall. Beide Länder setzen sich seit Jahrzehnten innerhalb und außerhalb der WHO für die Anerkennung der traditionellen Medizin ein – auch finanziell. So finanziert Indien nahezu komplett das im März 2022 eingerichtete Globale Zentrum für traditionelle Medizin (GTMC) der WHO in Jamnagar im Bundesstaat Gujarat im Westen Indiens. China wiederum hat viele Jahre die WHO-Abteilung für traditionelle Medizin in Genf maßgeblich finanziert, berichtet Tido von Schoen-Angerer. Er fürchtet deshalb nicht, dass der drastische Rückzug der USA aus der WHO große Einbrüche bei der Weiterentwicklung und Anerkennung der traditionellen Medizin bewirken wird: „Die großen Sponsoren in diesem Bereich waren und sind China und Indien, und die werden auch weiterhin dazu stehen.“ Dass der kommende zweite WHO-Gipfel zur traditionellen Medizin vom 17. bis 19. Dezember in Neu-Delhi stattfindet, gemeinsam organisiert mit der indischen Regierung, ist kein Zufall.
Unter welchen Bedingungen darf indigenes Wissen verwendet werden?
Lob für die Anerkennung und Weiterentwicklung der traditionellen Medizin durch die WHO äußerte auch Roshanak Ghods, Professorin für persische Medizin an der medizinischen Universität von Teheran, gegenüber der internationalen Fachzeitschrift „The Lancet“. Allerdings bedauert sie, dass es bei der Erarbeitung der Strategie weder einen systematischen Austausch mit Indigenen Gemeinschaften gegeben habe, noch ein klares Regelwerk vereinbart worden sei, zu welchen Bedingungen wer indigenes Wissen für die Entwicklung von Medikamenten und Heilverfahren verwenden dürfe.
Solche Vorgaben sind in der World Intellectual Property Organization (WIPO) entwickelt worden. Sie sollen unter andrem das Wissen indigener Völker und lokaler Gemeinschaften weltweit rechtlich schützen, dessen nachhaltige Nutzung fördern und gerechte Vorteile für die Träger dieses Wissens sichern. Die WIPO entwickelt dafür internationale rechtliche Instrumente, die traditionelles medizinisches Wissen vor missbräuchlicher Nutzung durch Dritte schützen sollen, beispielsweise ein Programm zur Dokumentation von traditionellem medizinischem Wissen und Schutzmaßnahmen, mit denen Gemeinschaften selbst Rechte am geistigen Eigentum, ihrem traditionellen Wissen, beanspruchen können. Die WIPO bietet auch Trainings und Mentoring-Programme über Rechte am geistigen Eigentum für Heilpraktiker und indigene Gemeinschaften an. Darüber hinaus berichtet Tido von Schoen-Angerer, dass das WHO-Zentrum für traditionelle Medizin dabei ist, zusammen mit der WIPO und Vertretern indigener Völker und Gemeinschaften einen rechtlichen Rahmen für geistiges Eigentum zu entwickeln, vor allem in Sachen fairer Aufteilung der Gewinne und einer gerechten Regierungsführung, die Macht und Rechte der Indigenen respektiert.
Ossy Kasilo erwartet vom WHO-Gipfel zur traditionellen Medizin Mitte Dezember in Neu-Delhi einen verbindlichen Aufruf zum Handeln, der die Entwicklung der traditionellen Medizin mit der im Mai formulierten globalen Strategie für traditionelle Medizin (2025–2034) in Einklang bringt. „Wichtig wären die Einrichtung eines globalen Forschungskonsortiums und eines internationalen Registers für klinische Evidenz zur traditionellen Medizin sowie ein konkreter Aktionsplan, um traditionelle und komplementäre Medizin in die Gesundheitssysteme der Welt zu integrieren.“ Der Flaschenhals dabei ist wie so oft das Geld, das die Mitgliedstaaten der WHO bereitstellen müssen. „Auf jeden Fall aber wird der Gipfel die Süd-Süd-Zusammenarbeit stärken, insbesondere zwischen Indien, China und afrikanischen sowie lateinamerikanischen Staaten und deren traditionellen Medizinsystemen.“
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