"Der globale Norden hat versagt"

Zum Thema
Entwicklungspolitik im Deutschen Bundestag
Entwicklungspolitik
Die Welt befindet sich in der Krise, und es genügt nicht mehr, nur Symptome zu lindern: Entwicklungszusammenarbeit muss an die Ursachen ran. Deborah Düring, entwicklungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, hat sich einiges vorgenommen.

Deborah Düring, Jahrgang 1994, ist Sozialwissenschaftlerin und entwicklungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen. Bevor sie im vergangenen Jahr über die Landesliste Hessen in den Bundestag gewählt wurde, war sie unter anderem bei der KfW Entwicklungsbank und der Organisation Survival International tätig.
Der Ukrainekrieg verschärft die Not in Entwicklungsländern. Die Ampel steht in der Kritik, nicht angemessen zu reagieren, um drohende Hungersnöte zu vermeiden. Wie beurteilen Sie das? 
Zu einer ehrlichen Debatte gehört auch zu sagen, dass diese Hungerkrise nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine droht, sondern sich bereits durch die Corona-Krise verschärft hat. In den letzten Jahren hat der gesamte globale Norden versagt. Wenn der Großteil des Getreides für Tierfutter oder für den Tank gebraucht und somit viele Lebensmittel verschwendet werden, dann bedeutet das eine global ungerechte Verteilung von Lebensmitteln. Viele Länder sind abhängig von Lebensmittelimporten aufgrund von Handelsstrukturen, die diese Abhängigkeiten reproduzieren. Die Ministerien für Landwirtschaft, Auswärtiges und Entwicklung haben eine Taskforce zur Lebensmittelkrise eingerichtet. Das von Entwicklungsministerin Svenja Schulze angestoßene Bündnis für globale Ernährungssicherheit soll Fragen der Koordinierung und Zusammenarbeit aufgreifen – nicht nur für kurzfristige Nothilfe, sondern auch für langfristige Unterstützung. Grundsätzlich wird sich diese Situation aber nicht ändern, wenn nicht Ungleichheiten und Abhängigkeiten verringert werden. Es braucht die Ernährungssouveränität des globalen Südens. 

Verschafft der Ergänzungshaushalt den dafür notwendigen Spielraum?
Es ist gut, dass wir dieses Loch im Regierungsentwurf ausgeglichen haben. Aber die Krisen nehmen zu und verstärken sich gegenseitig. Als Entwicklungspolitikerin werde ich langfristig um einiges mehr Geld einfordern, das wir perspektivisch in die Prävention künftiger Krisen investieren müssen. Außerdem haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, dass jeder zusätzliche Euro für den Verteidigungshaushalt ein zusätzlicher Euro für die Entwicklungszusammenarbeit, Krisenprävention und humanitäre Hilfe bedeuten muss. Es ist mein Anspruch, dass diese Vereinbarung erfüllt wird. 

In Ihrer ersten Bundestagsrede haben Sie sich für Impfstoffgerechtigkeit stark gemacht. Ist die internationale Zusammenarbeit da jetzt auf gutem Weg? 
Vielleicht wäre es zu hart, die Nord-Süd-Kooperation als Ganzes als gescheitert zu bezeichnen. Sie ist aber sicher keine Glanzleistung. Es hat sich gezeigt, dass die Prioritäten auf dem nationalen Wohlergehen und auf wirtschaftlichen Profitinteressen liegen. Die Süd-Süd-Kooperation hat teilweise besser funktioniert – auch weil der globale Süden gemerkt hat, dass er sich nicht auf die Solidarität Europas und Nordamerikas verlassen kann. Wir müssen die Frage danach beantworten, wie wir Pandemien in Zukunft managen wollen. Da wären ein Pandemievertrag oder ähnliche Instrumente sinnvoll, mit denen Mechanismen geschaffen werden, um zum Beispiel Patente für Impfstoffe oder lebenswichtige Medikamente automatisch auszusetzen oder global Forschungsergebnisse und Technologien zu teilen. 

Wie muss das geplante EU-Lieferkettengesetz nachgebessert werden?
Dass der EU-Entwurf in einigen Bereichen über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgeht, ist zu begrüßen. Leider bleibt der Vorschlag hinter den Anforderungen der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und der OECD-Leitsätze für internationale Unternehmen zurück. Und es bleiben sehr viele Schlupflöcher. So würde nur ein Prozent aller europäischen Unternehmen unter diese Regelung fallen. Das heißt, 99 Prozent müssten sich nicht daran halten. Da stellt sich mir die Frage, was so ein Gesetz bringt, wenn es für niemanden gilt.

Sie sind in der letzten Bundestagswahl neu ins Parlament gewählt worden. Wie ist Ihre Erfahrung dort nach einem halben Jahr?
Ich bin mit viel Elan und Energie angekommen, aber mir ist klar, dass ich Dinge nicht von heute auf morgen verändern kann. Aber ich kann Impulse setzen und Räume für Diskussionen schaffen. So haben sich neulich bei einer Veranstaltung die Fragen aus dem Publikum mindestens zur Hälfte an dem Begriff „feministischen Entwicklungszusammenarbeit“ aufgehängt. Daran habe ich sehr gut gesehen, wie viel Reibung, Widerspruch und Debatte der Begriff erzeugt. Dabei entsteht Raum, um die Konflikte um patriarchale Machtstrukturen aufzuzeigen, die man reflektieren muss, um sie zu überwinden. Den Begriff der feministischen Entwicklungszusammenarbeit mit Bedeutung und Leben zu füllen, ist die Aufgabe des Ministeriums und auch des Parlaments. Aber es ist auch die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, sich für eine Welt einzusetzen, in der Gleichberechtigung herrscht. Wir müssen die Impulse, die wir von der Straße, von NGOs, von der Wissenschaft bekommen, aufgreifen und in die Parlamente tragen. 

Haben Sie auch einen persönlichen Schwerpunkt, für den Sie sich Ziele setzen?
Ich möchte dazu beizutragen, die Entwicklungszusammenarbeit zu dekolonisieren. Daraus ergibt sich für die nächsten dreieinhalb Jahre eine Reihe an Schwerpunkten. Statt Symptome zu lindern, müssen wir an die Ursachen ran. Gerade bei der Überschuldung einkommensschwacher Länder sind wir an einem Punkt, bei dem klar ist: So funktioniert das nicht mehr. Die Länder im globalen Süden befinden sich in einer Schuldenspirale. Wenn wir langfristige Veränderung wollen, müssen wir Abhängigkeitsstrukturen auflösen. Deutschland kann mit der G7-Präsidentschaft dabei eine entscheidende Rolle spielen. Jetzt ist der Moment, ein geregeltes Staateninsolvenzverfahren nach vorne zu treiben.

Das Gespräch führte Marina Zapf.

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Wer hat versagt? Versuchen wir bitte präziser zu sein. Nicht der Norden hat versagt, sondern dessen EZA-Politik. Noch präziser – die Nationalen und Internationalen EZA-NGOs. Sie verfügten in den ca. 60 Jahren ihrer Arbeit über kolportierte 2-3 Billionen Euro/US Dollar. Ein richtiger Teilsatz aus dem Beitrag: Zu einer ehrlichen Debatte gehört auch zu sagen, … . Hier meine Ergänzung: Das wäre eine Fehleranalyse. Genau das wird nicht gemacht. Wenn wir uns die Entwicklung in diesen 60 Jahren in der Wirtschaft, dem Sport, aber auch in den unterschiedlichsten technischen Disziplinen ansehen und die EZA-Arbeit vergleichen, so ist diese noch in der „Steinzeit“. Tatsächlich gibt es aktuell Schulprojekte, wo noch das offene Feuer gelehrt/verwendet wird. Die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist zu einer Worthülse verkommen und immer mehr EZA-NGOs gieren nach Förderungen und Spenden und werden immer mehr.
Gerhard Karpiniec
Münchendorf/Österreich

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erschienen in Ausgabe 6 / 2022: Afrika schaut auf Europa
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