Auch Pakistan will kein freies Kaschmir

Syed Mehdi Shah/AFP via Getty Images
Ein weiterer Schritt Richtung ganz normale Provinz: In Skardu-City in Gilgit-Baltistan lässt Pakistan Ende 2020 wählen, die Menschen stehen dafür Schlange.
Kaschmir-Konflikt
Als Indien die Autonomie für die von Neu-Delhi beherrschten Teile Kaschmirs aufhob, hat Pakistan protestiert. Doch das ist nur noch Pose: Auch Islamabad will sich den eigenen Teil der Beute sichern.

Scharf hat Pakistans Regierung protestiert, als Indien im August 2019 den Sonderstatus für seinen Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufhob und die Autonomie dieser vorwiegend muslimischen Region außer Kraft setzte. Indien hat gleichzeitig den Bundesstaat geteilt, in Jammu und Kaschmir sowie Ladakh, um beide Teile der Region Kaschmir vollständig in Indien einzugliedern. Der Umzug soll und wird die Einwanderung aus dem restlichen Indien nach Kaschmir beschleunigen und es Unternehmen aus anderen Staaten ermöglichen, sich in der Region niederzulassen.

Pakistans Empörung über diese einseitige Entscheidung Indiens war jedoch in erster Linie für das heimische Publikum bestimmt. Auch Islamabad arbeitet darauf hin, die Teile Kaschmirs, die von Pakistan verwaltet werden, in sein Staatsgebiet einzugliedern. Ein wichtiger Grund dafür ist deren Bedeutung für die Wirtschaftskooperation mit China. 

Pakistans jüngster Schritt dahin waren die Wahlen in Gilgit-Baltistan in der Region Kaschmir im November 2020. Dort gewann die Regierungspartei Pakistans, Tehreek-e-Insaf, 22 der 33 Parlamentssitze; die Oppositionsparteien erhoben danach Fälschungsvorwürfe. Die Parteien waren sich aber einig darin, diese Wahlen abzuhalten, um Gilgit-Baltistan als fünfte Provinz Pakistans zu etablieren. Im Ergebnis wird die Teilung Kaschmirs immer mehr verfestigt, obwohl Pakistan und Indien sie beide offiziell ablehnen.

Auch China ist beteiligt

Gilgit-Baltistan ist wie Jammu und Kaschmir Teil des Gebiets, das bis 1949 zum Fürstenstaat Kaschmir gehörte und seitdem sowohl von Neu-Delhi als auch von Islamabad beansprucht wird. Der Kaschmir-Konflikt wurzelt in der Trennung von Indien und Pakistan im Jahr 1947. Wie andere indische Teilstaaten hatten Jammu und Kaschmir die Möglichkeit, über ihr Schicksal zu entscheiden. Der dort herrschende Maharadscha (Fürst) Hari Singh bevorzugte zunächst einen unabhängigen Status, aber ein von Pakistan unterstützter bewaffneter Aufstand drängte ihn dazu, Indien beizutreten. Als indische Truppen Singh zu Hilfe kamen, griff auch die Armee Pakistans ein. 

Indien und Pakistan führten 1948, 1965, 1971 und 1999 vier Kriege, um das gesamte frühere Kaschmir zu kontrollieren. Im April 1948 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 47, in der Pakistan aufgefordert wurde, seine Truppen abzuziehen, gefolgt von Indien. Danach sollte eine Volksabstimmung stattfinden, bei der die Einheimischen über ihre Zukunft entscheiden konnten. Die wurde aber nie durchgeführt. 1949 wurde das Gebiet auf Vermittlung der Vereinten Nationen entlang der Kontrolllinie aufgeteilt. Heute hat Pakistan de facto die Herrschaft über Azad Kaschmir und Gilgit-Baltistan. Auch China ist beteiligt: Es hat seit 1956 das Gebiet Aksai Chin, das Teil des ursprünglichen Jammu und Kaschmir gewesen war, unter seine Kontrolle gebracht – auf Kosten Indiens.

Provisorische Teilung

Sowohl Indien als auch Pakistan betrachten die Teilung Kaschmirs als provisorisch und haben das von ihnen verwaltete Gebiet lange nicht als „normale“ Landesteile behandelt. Der von Indien verwaltete Teil besaß bis 2019 als Jammu und Kaschmir größere Rechte der Selbstverwaltung als andere Bundesstaaten Indiens. Pakistan hat die von ihm verwalteten Teile bereits 1949 in Azad Jammu und Kashmir (AJK) und die damaligen Northern Areas aufgeteilt (Azad heißt „frei“). AJK hat in den vergangenen 73 Jahren eine gewisse Autonomie genossen. Dagegen hat Pakistan seit 1949 eine willkürliche Kontrolle über die Northern Areas ausgeübt, ohne formal deren Status zu ändern. Seit Mitte der 1970er Jahre wurde Zuwanderung von außerhalb der Region von Islamabad aktiv gefördert. Auch vom Staat unterstützte anti-schiitische Dschihadisten konnten in den Northern Areas Ableger gründen, wodurch der Anteil der überwiegend ismailitisch-schiitischen Einheimischen an der Bevölkerung sank.

2009 benannte dann Pakistans Regierung die Northern Areas um in Gilgit-Baltistan und gab der Region ihre erste gesetzgebende Versammlung. Das verlieh ihr einen provinzähnlichen Status und schuf einen Rechtsrahmen dafür, dass alle in Gilgit-Baltistan lebenden Personen den Status als Einwohner erhalten können. Der Region wurde jedoch keine Autonomie eingeräumt. Als selbst die Gilgit-Baltistan-Reformverordnung von 2018 keine Selbstverwaltung gewährte, sondern festlegte, dass Gilgit-Baltistan vom Zentrum aus regiert blieb, kam es zu Protesten.

Die kaschmirischen Nationalisten auf beiden Seiten der Waffenstillstandslinie haben die Pläne zur Änderung des Status quo in den von Pakistan verwalteten Gebieten entschieden verurteilt. Auch wenn sie anders als ihre indischen Kollegen nicht so gut organisiert sind, haben die Kaschmiri-Nationalisten in Pakistan den Kampf für einen unabhängigen Staat Kaschmir am Leben gehalten. Islamabad hat offiziell aber jede Darstellung verboten, in der der Beitritt Kaschmirs zu Pakistan angezweifelt wird. Im Jahr 2016 nannte Syed Ali Shah Geelani, der damalige Vorsitzende eines Bündnisses kaschmirischer Separatistenparteien, in einem Brief an den pakistanischen Ministerpräsidenten Nawaz Sharif die Pläne, Gilgit-Baltistan den Status einer Provinz zu geben, sogar eine „Katastrophe“ für Kaschmir. 

Für die Schaffung der fünften Provinz traten und treten aber die Gilgit-Baltistan-Nationalisten ein. Die setzen sich aus Einheimischen zusammen, die sich vom pakistanischen Staat betrogen fühlen, weil sie ihnen über 70 Jahre lang die Grundrechte verweigert haben. Sie fühlen sich auch vom Kaschmir-Konflikt entfremdet und behaupten, dass sie sich vom Volk der Kaschmiris unterscheiden und von den imperialen Mächten in den Streit verwickelt wurden. Für die Gilgit-Baltistan-Nationalisten würde ein Provinzstatus für Gilgit-Baltistan den Einheimischen endlich die verfassungsmäßigen Rechte verleihen, die sie seit Jahrzehnten anstreben.

Die fünfte Provinz Pakistans

Diese wachsende nationalistische Bewegung in Gilgit-Baltistan war einer von zwei Anstößen dafür, Gilgit-Baltistan in Richtung auf eine normale Provinz nach der Verfassung Pakistans zu verändern. Der zweite und entscheidende kam aus China: Es war der Wirtschaftskorridor China-Pakistan, ein Bestandteil der von China angestrebten neuen Land- und Seeverbindung nach Westen (Belt and Road Initiative).

Nur Monate nach der offiziellen Einweihung des China-Pakistan-Wirtschaftskorridors im Jahr 2015 wurde die Umwandlung von Gilgit-Baltistan in die fünfte Provinz Pakistans in Gang gesetzt. Der Wirtschaftskorridor verbindet die chinesische Provinz Xinjiang mit Belutschistan an der pakistanischen Küste und verläuft über Gilgit-Baltistan; ohne dieses umstrittene Territorium hätten China und Pakistan keine gemeinsame Grenze. China möchte seine bisher höchste Auslandsinvestition absichern und sicherstellen, dass der Korridor nicht in den langwierigen Kaschmir-Streit zwischen Indien und Pakistan verwickelt wird. Das Projekt wird oft als Schuldenfalle für Pakistan bezeichnet und bewirkt, dass Islamabad jetzt nach der Pfeife Pekings tanzen muss. 

Indische Soldaten patrouillieren in Gagangir an der unruhigen Grenze zwischen Indien und China.

Zugleich schwelt der chinesisch-indische Konflikt um Ladakh. Seit Juni 2020 führen die beiden Länder militärische Gefechte. Hier hat China eindeutig mehr im Blick als nur seine Ansprüche auf das Territorium Aksai Chin und Ladakh: Pekings militärische Machtdemonstration soll Indien von jeglichen Plänen für das von Pakistan verwaltete Kaschmir abhalten. Denn der chinesisch-pakistanische Wirtschaftskorridor ist das Rückgrat von Pekings geplanter Belt and Road Initiative, in die Billionen US-Dollar fließen sollen. Sie wird es China ermöglichen, bis 2049 in Übereinstimmung mit der Vision von Xi Jinping mehr als ein Drittel der Länder der Welt, hauptsächlich in Asien und Afrika, wirtschaftlich zu beeinflussen. Und Peking hat einen willigen Gehilfen in Pakistan, das alle Kontrolle an China abgegeben hat.

Der Status quo wird festgeschrieben

Das alles verstärkt die militärische Befestigung der Waffenstillstandslinie in Kaschmir und bietet allen drei Ländern weitere Anreize, den Status quo dort festzuschreiben. Dies wird allen drei Staaten – China, Pakistan und Indien – helfen, ihre vorrangigen Interessen auf Kosten der Selbstbestimmung der Kaschmiris zu wahren. Das mögliche Ergebnis könnte als informelle Friedensvereinbarung akzeptiert werden analog der zwischen Israel und den Golfstaaten. Pakistan arbeitet bereits daran, auch Azad Jammu und Kaschmir zur eigenen Provinz zu machen. 

Der Wirtschaftskorridor verbindet Xinjiang mit Belutschistan; dies sind zusammen mit Kaschmir die am stärksten unterdrückten Gebiete in der Region. In Pakistan werden nationalistische Bewegungen von Belutschen und Paschtunen militärisch unterbunden, und die Menschenrechte gelten wenig. Auch Kaschmiris können hier keinen eigenen Staat fordern. Die Proteste gegen die willkürliche Verhaftung lokaler Aktivisten in Gilgit-Baltistan, angeführt von Nationalisten der Provinz im Oktober und November 2020, wurden mit eiserner Faust behandelt. Und Pakistan hat auf Proteste gegen die chinesischen Internierungslager für Uiguren verzichtet und hilft Peking sogar, Uiguren auf pakistanischem Territorium zu verhaften – insbesondere in Gilgit-Baltistan.
Das steht im Widerspruch zum Anspruch auf ganz Kaschmir. Das Interesse Pakistans an dem von Indien verwalteten Kaschmir ist jetzt nur noch bloße Rhetorik. Die bisherige Politik Pakistans, dschihadistische, gegen Indien gerichtete Gruppen in Kaschmir zu unterstützen, wird infolge internationaler Schritte gegen Terrorfinanzierung schwieriger. Und Kaschmir ist jetzt auch eine kritische Front des neuen Kalten Krieges zwischen China und den USA, unterstützt von Pakistan beziehungsweise Indien. 

Das nutzt Pakistans Militär. Wo es in den vergangenen sieben Jahrzehnten Kaschmir und den fortwährenden Konflikt mit Indien als Rechtfertigung für überhöhte Verteidigungsbudgets heranzog, ist es jetzt der Wirtschaftskorridor. Das pakistanische Militär hat die dschihadistischen Gruppen eingeschränkt, die lange in Pakistan nicht angerührt wurden – sie gelten jetzt als potenzielle Bedrohung für diesen Korridor. Das Militär zog auch politisch die Fäden für die Wahlen in Gilgit-Baltistan im November 2020: Es unterstützte Tehreek-e-Insaf, indem es starke Politiker von dessen Rivalen zwang, der Partei beizutreten und den Abstimmungsprozess zu manipulieren. 

Laut erfahrenen pakistanischen Diplomaten kann Pakistan möglicherweise an seinem Anspruch auch auf das von Indien verwaltete Kaschmir festhalten, falls der Provinzstatus von Gilgit-Baltistan nur vorübergehend oder von einer endgültigen Lösung des Kaschmir-Konflikts abhängig ist. Aber die Resolution 47 des UN-Sicherheitsrats von 1948 sieht für eine Lösung als ersten Schritt den Rückzug der pakistanischen Truppen aus Gilgit-Baltistan und Azad Jammu und Kaschmir vor. Weder Islamabad noch Peking werden auch nur entfernt in Betracht ziehen, damit den Wirtschaftskorridor in der zunehmend militarisierten Region zu gefährden. Für die pakistanische Armee ist es weitaus wichtiger, Pakistans Teil von Kaschmir zu sichern, als weiter um das gesamte zu kämpfen.


 

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erschienen in Ausgabe 4 / 2021: Abholzen, abbrennen, absperren
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