Eine Gruppe von Touristen bestaunt die atemberaubende Landschaft. Das blaue Meer erstreckt sich bis zum Horizont, eingerahmt von in Jahrtausenden geformten Felsformationen und umhüllt von tropischer Vegetation. Man weiß kaum, wohin man den Blick wenden und was man fotografieren soll, so schön ist der Ausblick.
Es ist keiner der üblichen Aussichtspunkte, die man mit Rio de Janeiro, dem größten Touristenmagneten Brasiliens, verbindet, nicht der Zuckerhut und auch nicht die Plattform zu Füßen der monumentalen Christusstatue auf dem Berg Corcovado, dem bekanntesten Postkartenmotiv der Stadt. Wir befinden uns in der Favela Vidigal, in deren Straßengewimmel 15.000 Menschen leben. Sie ist zu einem der beliebtesten Ziele für Brasilianer und Ausländer geworden, die die „wunderbare Stadt“ besuchen, wie Rio auch genannt wird.
Wer hier hinauf will, tut es den Bewohnern gleich: Man lässt sich auf dem Sozius eines Motorradtaxis durch die Straßen und Gassen chauffieren. Tourguide ist Ana Lima, die in der Favela Vidigal geboren wurde, aufgewachsen ist, immer noch hier wohnt – und stolz darauf ist, ihre Gemeinde der Welt zu zeigen.
„Es ist meine Geschichte, die ich hier präsentiere“
„Ich arbeite nur noch im Tourismus. Meine Führungen haben es mir ermöglicht, ein eigenes Haus zu bauen, und es macht mir Spaß. Es ist meine Geschichte, die ich hier präsentiere“, sagt sie. „Der Tourismus ist wichtig für die Favela, weil er unsere Wirtschaft ankurbelt: die Motorradtaxis, der Markt, die Snackbar, das Restaurant. Ich empfehle immer, in der Favela zu kaufen und soziale Projekte zu unterstützen. Hier begegnen sich Kulturen, hier werden Erfahrungen ausgetauscht.“
Ein Rundgang in kleinen Gruppen aus maximal fünf Personen dauert drei Stunden und bietet neben dem Genuss der schönen Aussicht auch die Möglichkeit, mit den Bewohnern vor Ort ins Gespräch zu kommen. Auf dem Programm steht außerdem der Besuch sozialer Projekte, die Kurse in Fremdsprachen oder Musik, in Sportarten wie Tennis, Skateboarding, Fußball, Boxen oder in bildender Kunst anbieten.
„Vidigal hat wirklich etwas zu bieten. Gemeinschaft ist hier nicht nur ein Wort“, sagt Luís Pinho, der als Tourist hierhergekommen ist. Er ist Brasilianer, lebt aber seit 35 Jahren in den USA. Wann immer er nach Rio kommt, besucht er Vidigal. „Mein Tipp: mit den Leuten reden. Der Austausch ist immer sehr bereichernd.“
Viele Gäste interessieren sich für sozialen Fragen
Laut dem Jahrbuch für Tourismus 2023, das die Stadtverwaltung von Rio de Janeiro herausgibt, liegen die Favelas Vidigal und Rocinha auf den Plätzen 13 und 19 in der Rangliste der beliebtesten Touristenattraktionen. Allein die Favela Vidigal verzeichnete im Jahr 2023 mehr als 369.000 Besucher und schlägt damit Sehenswürdigkeiten wie den Botanischen Garten und die berühmte Selarón-Treppe. Viel Arbeit wurde in den gemeindeorientierten Tourismus gesteckt, bei dem die Bewohner die Führungen übernehmen, Routen festlegen, Erinnerungen, Geschichten und Wissen weitergeben und Einkommen für ihre Gemeinschaft generieren.
Die Touristen kommen aus unterschiedlichen Beweggründen, berichten die Guides. Die meisten sind an sozialen Fragen und Geschichte interessiert und besuchen die Favelas, um mehr darüber zu erfahren, wie das Leben in dieser für Brasilien so charakteristischen Form der Urbanisierung aussieht. Andere interessieren sich für die Favelas, weil sie durch Musik, Filme und Bücher von ihnen erfahren haben oder Fans von Künstlern und Sportlern sind, die dort aufgewachsen sind. Manche bevorzugen es einfach, die Stadt aus einer unkonventionelleren Perspektive kennenzulernen.
„Uns geht es um eine respektvolle Besichtigung, bei der die Bewohner, die hier die Hauptpersonen sind, selbst die Führung übernehmen“, sagt Camila Moraes, Koordinatorin der Beobachtungsstelle für Tourismus in Favelas, einer Organisation, die den Ideenaustausch zwischen Forschung und Tourismusbranche fördert und gemeindeorientierte Tourismusprojekte unterstützt. Das Wichtigste an dieser Variante des Fremdenverkehrs ist für sie, dass er ein neues Bild der Geschichte ihres Landes schafft. „Wer eine Favela besucht, erfährt die Geschichte durch die Stimmen derer, die immer an den Rand gedrängt wurden“, sagt Moraes, die auch Professorin für Tourismus an der Universität von Rio de Janeiro ist.
Die Zeit der „Stadtsafaris“ ist vorbei
Autorin
Sarah Oliveira Fernandes
ist Journalistin und Geografin in Brasilien. Sie berichtet über Menschenrechte und entwicklungspolitische Themen in Lateinamerika und Asien.Der Favela-Tourismus hat sich mit den Jahren gewandelt. Seine Anfänge liegen in den 1990er Jahren, als die Touristen noch in gepanzerten Fahrzeugen durch die Gassen kutschiert wurden. Direkter Kontakt war ausgeschlossen. Organisiert wurden die Touren damals von Leuten, die nicht in diesen Gemeinden lebten. Solche „Stadtsafaris“, wie man sie nannte, wurden heftig kritisiert, weil sie die Touristen mit dem Anblick von Armut aus der sicheren Distanz unterhalten haben.
Das hat sich geändert. Heute legen die Gemeinden die Routen fest, die Guides sind Einheimische, und die Touristen erkunden die Favelas zu Fuß und gewinnen ihre Erfahrungen in direkten Begegnungen mit den Bewohnern. Die Haltepunkte, Einkaufs- und Verpflegungsstellen liegen alle in den Favelas, so dass die Bewohner von den Besuchen direkt profitieren.
„Als ich noch Kind war, haben die Touristen uns hier aus dem Auto heraus fotografiert, als wären wir Tiere. So etwas gibt es nicht mehr“, sagt die Reiseleiterin Maria Luiza Dias, genannt Malu, die in der Favela Rocinha aufgewachsen ist und dort arbeitet. „Ich sage den Besuchern, dass die Bewohner hier Vorrang haben und empfehle Zurückhaltung beim Fotografieren in den engen Gassen. Man sollte immer fragen, bevor man Leute knipst.“
Erst hoch zum Aussichtspunkt, dann hinab in die Gassen
Die Tour mit Malu in Rocinha dauert in der Regel drei Stunden. Sie bringt die Gruppe auf Motorradtaxis zum ersten Aussichtspunkt. Von dort aus blicken die Touristen auf die größte Favela Lateinamerikas, die zwischen dem wohlhabenden Stadtviertel Leblon und dem Felsen Pedra da Gavéa liegt. Anschließend steigt man zu Fuß in die Gassen hinab. Die Bewohner stören sich nicht daran. „Ich bin froh um den Tourismus, die Einnahmen helfen mir sehr. Ich verkaufe Souvenirs wie Armbänder und Kühlschrankmagnete mit Motiven von Rocinha und verdiene damit zwischen 60 und 100 Real am Tag“, sagt die Ladenbesitzerin Dona Nazaré. Umgerechnet betragen ihre Einnahmen bis zu 15 Euro am Tag.
Im Grunde ist hier alles wie in jedem Stadtviertel. Es gibt ein Gesundheitszentrum, und die Kinder gehen zur Schule. „Wir haben viele Probleme, wie man aus den Medien weiß. Ich möchte aber die guten Dinge zeigen, die es hier auch gibt“, sagt Malu, die einen Job im Marketing aufgegeben hat, um sich ganz dem Tourismus zu widmen. „Ich biete eine authentische Tour, ein Erlebnis. Wir wissen, wo es wirklich gefährlich ist, da gehen wir nicht hin.“
Die meisten der von Malu geführten Gäste kommen aus dem Ausland, viele aus Deutschland, Frankreich und Italien. Die Führungen werden in der Muttersprache der Gruppen angeboten, durchgeführt von Führern und Übersetzern, die selbst in der Favela wohnen. Auch Brasilianer interessieren sich zunehmend für solche Touren. „Sie kommen hierher und wollen etwas über unsere Geschichte erfahren, die auch ihre Geschichte ist. Wir sind alle ein Teil Brasiliens.“ Neben Rocinha und Vidigal bieten mindestens sieben weitere Favelas in Rio Führungen an, darunter Babilônia, Canta Galo und Santa Marta.
Geschichte auf Schritt und Tritt
Für Leute wie Camila Moraes von der Beobachtungsstelle für Tourismus in Favelas ist gemeindeorientierter Tourismus nicht bloß eine wirtschaftliche Aktivität, sondern ein kollektives Projekt. Einwohnerversammlungen, Motorradtaxi-Kooperativen, Kulturgruppen, Köche, Handwerker und andere wichtige Akteure der Gemeinschaft werden einbezogen, um ein respektvolles Tourismusmodell zu entwickeln, das einen echten Austausch ermöglicht und Einkommen schafft.
In Vidigal begegnet man Geschichte auf Schritt und Tritt. Ana führt ihre Gruppen auf schmalen Pfaden und durch verwinkelte Gassen zu Aussichtspunkten und historischen Schauplätzen. Man passiert die alte Wäscherei, den Fußballplatz und die Kirche São Francisco de Assis, die Papst Johannes Paul II. 1980 besuchte. „Wir berichten auch über die Bemühungen des Staates, die Favela zu beseitigen, und über unseren Widerstand. Wir erklären, dass die Gassen nach Personen benannt wurden, die geholfen haben, diese Gemeinschaft aufzubauen“, sagt sie.
Ein Highlight jeder Tour ist die Erkundung der Küche von Vidigal. Die Touristen besuchen einen Imbiss, wo es Açaí gibt, dunkle Beeren aus dem Amazonasgebiet und Coxinha. Oder mit Hühnchen gefüllte, frittierte Teigtaschen, ein typisch brasilianisches Gericht. Im Haus von Leka können sie Sacolé kosten, Eis am Stiel aus Milch mit Fruchtsaft, das in Brasilien sehr beliebt ist. Und wer sich die Zeit zum Mittagessen nimmt, kann Joãos gut gewürzte Speisen im Restaurant Petisco do Vidigal probieren.
Das Image verbessert, aber die Benachteiligung bleibt
„Das Image der Favela hat sich total verändert“, sagt Ana, die ihren Bürojob in der Verwaltung aufgegeben hat, um sich ganz dem Tourismus zu widmen. Trotzdem ist es nach wie vor nicht einfach, mit gemeindeorientiertem Tourismus Geld zu verdienen. Er allein kann die jahrzehntelange Benachteiligung der Favelas nicht überwinden. Camila Moraes sagt: „Der Staat behandelt die Favelas immer noch so, als würden sie gar nicht zur Stadt gehören. Das ist absurd: Laut der Volkszählung von 2022 leben 22 Prozent der Bevölkerung von Rio in Favelas.“
Die Regierung sollte den Favela-Tourismus fördern, sagt Moraes. „Der Markt hat die Favela bereits zu einer Marke gemacht, zu einem Stil, der sich konsumieren lässt. Jetzt ist der Staat an der Reihe, die Ausbildung der Guides zu fördern und wirklich etwas für die Sicherheit zu tun, nicht nur für die Touristen, auch für die Bewohner der Favelas“, sagt sie.
Der gemeindeorientierte Tourismus hilft auch den vielen Initiativen, die sich in den Favelas entwickelt haben. Die Spanne reicht von urbanem Gartenbau, Solarenergie- und Wiederaufforstungsprojekten bis zu Volksbibliotheken und Vereinen, die kostenlosen Unterricht in Sprachen, Tanz, Sport und Musik anbieten. Die Gruppe BatucaVidi, in der Kinder aus Vidigal lernen, Trommeln und anderen Schlaginstrumenten Samba-Rhythmen zu entlocken, konnte sogar schon nach Genf reisen und bei einer Veranstaltung der Vereinten Nationen auftreten. Das breite Kursangebot umfasst auch Capoeira, Yoga, Tennis, Judo und sogar Surfen.
Malu lernt Französisch, Ana vermietet ihre Wohnung mit Meerblick
„Die Favela hat großes Potenzial und einen lebendigen Unternehmergeist. Manchmal braucht es nur einen kleinen Anschub, und den kann der Tourismus liefern“, sagt Ana. Sie nutzt jede Gelegenheit, auf ihren Touren kleine Geschäfte zu fördern. „Wir halten bei Läden, in denen man T-Shirts und Bikinis kaufen kann, und wer will, kann sich auch die Haare schneiden oder flechten lassen. Hier hilft jeder jedem. Gerne bringe ich auch anderen aus dem Viertel bei, selbst Tourguide zu werden.“
Für Guides wie Ana und Malu ist der Tourismus viel mehr als nur eine Einnahmequelle. Er ermöglicht Autonomie, Anerkennung und Entwicklung. Malu lernt derzeit Französisch, um sich besser mit den Touristen aus Europa verständigen zu können. Ana richtet ihre Wohnung mit Meerblick her, um sie an Gäste vermieten zu können. Die Favelas, jahrzehntelang als Schandfleck betrachtet und von den Bulldozern bedroht, erzählen nun ihre eigene Geschichte – kreativ und gastfreundlich, mit Stolz, Humor und Bewusstsein für die eigene Vergangenheit.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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