Das Haus, mit dem Joseph Tun Khaing aus Mindat in Myanmars Chin-Staat viele glückliche Kindheitserinnerungen verbindet, ist jetzt unbewohnbar. Es wurde in den ersten Wochen des Bürgerkrieges 2021 durch Artillerie beschädigt. Auch die Kirche, in der er getauft wurde, liegt in Trümmern – zerstört bei einem Luftangriff der Armee am Palmsonntag 2025. „Wie durch ein Wunder haben meine Eltern und mein Bruder die Angriffe auf die Stadt überlebt, aber die ständige Angst um sie bleibt“, erzählt Joseph. Die räumliche Entfernung verstärke das Ohnmachtsgefühl, erklärt er. Der 33-jährige ehemalige Pastor lebt 500 Kilometer südöstlich von Mindat in Yangon, wo er am Myanmar Institute of Theology lehrt, einer renommierten theologischen Hochschule, sowie Hilfs- und Friedensprojekte im Chin-Staat koordiniert.
Im Rahmen seiner Arbeit leitet Joseph ein Team von rund 50 Mitarbeitenden, die vor Ort Hilfe für Vertriebene leisten und die Menschen in seiner Heimat mit dem Nötigsten versorgen – auch wenn er selbst nicht dorthin reisen kann. Mit Unterstützung europäischer und amerikanischer Organisationen plant er zudem ein Programm, das Vertriebenen Bargeld für ihre Grundbedürfnisse zur Verfügung stellt. Gleichzeitig arbeitet er an einem Projekt, das die christlichen Gemeinden vor Ort in Friedensarbeit einbindet. Ihm ist wichtig, dass die Menschen sich ihrem Schicksal nicht ergeben, sondern es aktiv mitgestalten.
Sein Einsatz birgt ein hohes Risiko, denn das Militär setzt humanitäre Hilfe von christlichen Organisationen häufig mit der Unterstützung der Aufständischen gleich. Mehrfach wurden bereits Mitarbeiter der von Joseph koordinierten Hilfsprojekte unter angeblichem Terrorismusverdacht festgenommen. Doch davon lässt sich Joseph nicht abschrecken. Dass er sein Leben in den Dienst der Kirche stellen würde, stand für ihn schon im Kindesalter fest. „Die zahlreichen Herausforderungen, die mir als Christ in Myanmar begegnet sind, haben mich in meinem Glauben bestärkt“, betont er.
Kämpfe gegen die Armee, aber auch zwischen Chin-Gruppierungen
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Während es in Yangon für Christen vergleichsweise sicher ist, spitzt sich die Situation in Josephs Heimat zu. Die auf Birmanisch Tatmadaw genannte Armee verübt immer wieder Luftangriffe auf Städte und Dörfer im Kampf gegen bewaffnete Widerstandsgruppen wie die Chinland Defense Force und die Chin National Army, die mittlerweile große Teile des Chin-Staates kontrollieren. Beide arbeiten eng mit der nationalen Einheitsregierung im Exil zusammen, die sich als Schattenregierung der demokratischen Kräfte versteht. Zugleich kommt es jedoch verstärkt zu Kämpfen zwischen verschiedenen Chin-Gruppierungen um Einfluss und um die beste Strategie.
Nach Ansicht von Aktivisten hat das brutale Vorgehen der Tatmadaw im Chin-Staat auch religiöse Gründe. Ungefähr 90 Prozent der ethnischen Minderheit der Chin bekennen sich zum Christentum, während es im gesamten Land Schätzungen zufolge nur etwa sechs Prozent sind. Eingeführt wurde der Glaube im 19. Jahrhundert von amerikanischen Baptistenmissionaren. Sie gründeten Schulen und Krankenhäuser und verankerten das Christentum als identitätsstiftendes Merkmal der Chin.
Der Armee war diese religiöse Eigenständigkeit stets ein Dorn im Auge. Ihre Ideologie beruht darauf, die ethnischen und religiösen Minderheiten der politischen und kulturellen Vorherrschaft der mehrheitlich buddhistischen Birmanen (Bamar) unterzuordnen.
Die Armee nimmt Ziele mit hohem Symbolwert für die Chin ins Visier
Joseph erinnert sich an staatliche Repressalien in seiner Jugend vor 2011, als das Militär allein regierte: Der Bau neuer Kirchen war weitgehend verboten und das Schulsystem übte starken Assimilationsdruck aus. „Mein Bruder hat immer wieder überlegt, sich von seinem Glauben abzuwenden, um beruflich bessere Aussichten zu haben. Unsere Familie hat ihn davon abgehalten“, erzählt er. Dass Angst und Vertreibung zur Zeit der Militärregierungen zum Alltag gehörten, sagt auch Tluang Kip Thang, ein ehemaliger Mitarbeiter der Chin Human Rights Organisation (CHRO), der hier ein selbst gewähltes Pseudonym verwendet: „Viele unserer Bekannten sind damals geflohen, weil sie befürchteten, von der Armee zur Zwangsarbeit eingezogen zu werden.“
Infolge der zögerlichen demokratischen Öffnung taten sich ab 2011, als eine dem Militär nahestehende zivile Partei regierte, auch im Chin-Staat vorsichtig Freiräume auf. Nach jahrzehntelangen Kämpfen kam es 2012 zu einem Waffenstillstand, christliche Organisationen konnten freier arbeiten und regionale Sprachen durften etwa im Schulunterricht und lokalen Medien verwendet werden.
Nach dem Militärputsch im Februar 2021 gegen die demokratisch gewählte Regierung der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi brach im Chin-Staat dann als einer der ersten Regionen Myanmars der Bürgerkrieg erneut aus. Seitdem nimmt die Armee regelmäßig auch Ziele mit hohem Symbolwert für die Chin ins Visier.
Die CHRO, die sich für die Rechte der Chin einsetzt, hat seit 2021 über hundert Angriffe auf Glaubensstätten in der Region sowie zahlreiche weitere mögliche Völkerrechtsverletzungen durch das Militär dokumentiert. Zivile Opfer würden dabei bewusst in Kauf genommen, da viele Menschen in den Gotteshäusern Zuflucht suchten. Salai Za Uk Ling, der Vorsitzende der CHRO, spricht von einer gezielten Kampagne, um die Moral der Bevölkerung zu untergraben und die christliche Identität der Region auszulöschen. „Chin, Christentum, Widerstand – für die Junta ist das dasselbe. Die Leidtragenden sind die Zivilisten“, beklagt er.
Infolge der Gewalt mussten bislang 200.000 Chin aus ihren Heimatorten fliehen. Die meisten, wie Josephs Familie, leben weiterhin unter widrigen Bedingungen innerhalb des Landes. Einige Zehntausend haben im benachbarten indischen Bundesstaat Mizoram Zuflucht gefunden, mit dem die Chin Sprache und Glauben teilen.
Die erneute Machtübernahme der Militärs markierte für Joseph auch persönlich einen Wendepunkt: „Vor dem Coup wollte ich im Ausland weiterstudieren. Doch dann wurde mir klar: Der Zeitpunkt, die Zukunft zu gestalten, ist jetzt.“ Damals erkannte Joseph, dass seine Berufung über den Dienst als Pastor einer einzelnen Gemeinde hinausgeht. Er will in größerem Maßstab für Frieden und Gerechtigkeit arbeiten und setzt sich seitdem noch nachdrücklicher für die Glaubensfreiheit ein – ein Thema, mit dem er sich während seines Theologiestudiums intensiv beschäftigt hat.
Widerstandsfähig bleiben trotz des Konflikts
Heute unterrichtet er Studierende über Religionsfreiheit. Außerdem schult er kirchliche Verantwortungsträger darin, wie sie auf lokaler Ebene für die Rechte der Christen eintreten können. Er zeigt ihnen, wie sie ihre eingeschränkten gesetzlichen Spielräume nutzen, sich mit anderen Vertretern der Zivilgesellschaft vernetzen und Kompromisse mit staatlichen Behörden und Widerstandsgruppen aushandeln. So will er dazu beitragen, dass die Gemeinden trotz des Konflikts widerstandsfähig bleiben.
Joseph weiß, dass solche praktischen Kompetenzen für kirchliche Strukturen überlebenswichtig sind. Denn die Situation der Christen im Land ist heute bedrückender als je zuvor. Neben der Gewalt erschweren auch Einschränkungen der Glaubenspraxis den Chin das Leben. Da viele Gläubige aus den Städten in das bergige Umland geflohen sind, ist ein klassisches Gemeindeleben kaum mehr möglich. Zudem gelten in vielen Gegenden abendliche Ausgangssperren. Tluang Kip Thang beschreibt die Folgen: „Abendgottesdienste, Chorproben, traditionelle nächtliche Totenwachen sind nicht mehr möglich.“
Allerdings ist nicht nur die Armee für diese Beschränkungen verantwortlich. Auch den Oppositionskräften im Chin-Staat wirft Joseph Eingriffe in die Religionsfreiheit vor. Da Kirchen und Gemeindezentren meistens die größten Gebäude am Ort sind, nutzen die bewaffneten Gruppen diese häufig als Quartiere. Dadurch werde der Eindruck verstärkt, Religion und militärischer Widerstand seien untrennbar miteinander verbunden.
Dabei würden die Widerstandsgruppen selbst eine zum Teil aggressive säkuläre Ideologie verfolgen. „Sie setzen jede Art von Religion mit dem Regime gleich und wollen den Glauben am liebsten ganz aus dem öffentlichen Leben verbannen. Aber damit ersetzen sie bloß eine Art der Unterdrückung durch eine andere“, kritisiert Joseph.
„Es fehlt an allem“
Ebenso gravierend ist die mangelhafte Versorgungslage im Chin-Staat. „Es fehlt an allem – Unterkünften, Lebensmitteln, Hygieneprodukten, medizinischer Versorgung“, klagt Joseph. Er versteht Religionsfreiheit umfassend: Nur dort, wo die Grundbedürfnisse der Menschen gesichert sind, könne der Glauben praktisch gelebt werden.
Bereits vor dem Krieg galt die Region der Chin als die ärmste des Landes. Das gebirgige Terrain eignet sich kaum für Landwirtschaft und ist verkehrstechnisch wenig erschlossen. Nun hat die massenhafte Vertreibung das ohnehin schwache Wirtschaftsleben weitgehend zusammenbrechen lassen. Zudem lässt die Armee, die die Hauptverkehrswege nach Chin kontrolliert, seit 2021 nur unzureichend Hilfe in den Staat. Immer wieder beschlagnahmt das Militär lebenswichtige Hilfsgüter, die teils über informelle Wege in den Staat gebracht werden. Ausländische Organisationen haben sich weitgehend aus dem Gebiet zurückgezogen.
„Viele Vertriebene müssen häufig den Aufenthaltsort wechseln. Deshalb brauchen sie vor allem Bargeld, das sie selbstbestimmt für Transport, medizinische Notfälle oder die Bildung ihrer Kinder ausgeben können“, erläutert Joseph. Noch sträuben sich die internationalen Partner, Bargeld direkt an die Bevölkerung zu geben. Doch Joseph ist überzeugt, dass die Menschen selbst am besten wissen, was sie brauchen. Es ist auch der Versuch, ihnen einen Teil ihrer Würde wiederzugeben.
Besonders die katastrophale Bildungssituation im Chin-Staat bereitet Joseph Sorgen. Aufgrund der Corona-Pandemie ab 2020 und nun des Krieges gehen viele Kinder seit Jahren nicht mehr zur Schule. Zudem werden Jugendliche immer wieder von der Armee und Widerstandsgruppen zwangsrekrutiert. „Der Mangel an Bildung droht nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft der Chin zu zerstören“, warnt Joseph. Auch deshalb sei es so wichtig, Familien bei den Schulkosten zu entlasten, damit bald wieder mehr Kinder zur Schule gehen können.
Joseph ist überzeugt, dass humanitäre Hilfe lediglich die akute Notlage der Chin lindern kann. Für ein dauerhaft friedliches Zusammenleben zwischen den verschiedenen Volksgruppen Myanmars und die Möglichkeit zur freien Religionsausübung seien tiefgreifende politische und rechtliche Veränderungen nötig.
Die Kirche muss in sozialen und humanitären Fragen Flagge zeigen
Auch Salai Za Uk Ling von der CHRO sagt: „Echte Religionsfreiheit kann es nur in einem föderalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Myanmar geben.“ Dafür sei unabdingbar, dass Verbrechen gegen religiöse Einrichtungen gerichtlich verfolgt werden, unabhängig davon, wer sie begangen hat. Joseph fordert, dass christliche Institutionen am Aufbau neuer staatlicher Strukturen beteiligt werden. „Die Kirchen haben eine lange Tradition, gegen Unterdrückung einzutreten und ihren Gemeinden in sozialen Angelegenheiten zu dienen.“ Ihre Rolle in einem pluralistischen Myanmar müsse deshalb von der Armee wie auch von den demokratischen Kräften anerkannt werden.
Auch wenn ein Ende des Krieges nicht in Sicht sei, müssten die Weichen dafür schon jetzt gestellt werden. Dafür solle sich auch die internationale Gemeinschaft einsetzen. Umgekehrt müsse auch die Kirche sich professionalisieren und in sozialen und humanitären Fragen Flagge zeigen. Dafür will sich Joseph weiterhin einsetzen.
Seine Familie im Chin-Staat hat er seit Jahren nicht mehr gesehen. Sollte die Sicherheitslage es zulassen, möchte er dieses Jahr Weihnachten mit ihnen zusammen verbringen. Er ist überzeugt: „Eines Tages werden wir die Feiertage ohne Angst begehen können – in einem Myanmar, das allen Religionen einen Platz bietet.“
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