Europas Zumutung

UN Photo/Loey Felipe
Bei einer Abstimmung in der UN-Generalversammlung Anfang März über eine Resolution, in der Russland als Aggressor verurteilt wurde, haben sich etliche Staaten enthalten. Rund die Hälfte der Enthaltungen kam aus Afrika.
Der Ukraine-Krieg und der globale Süden
Viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika schauen deutlich weniger entsetzt auf den Angriff auf die Ukraine als Europa oder die USA. Kaum eines hat sich den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Dafür gibt es Gründe. Der Westen muss sich das Vertrauen des globalen Südens neu erarbeiten.

Tillmann Elliesen ist Redakteur bei welt-sichten.
Markiert der Krieg in der Ukraine den Beginn einer neuen Zeit? Bundeskanzler Olaf Scholz sagt Ja. Friedrich Kramer, der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, sagt Nein. Beide haben recht.

Der Krieg ist einerseits „business as usual“: Ein großes Land schickt seine Soldaten in ein kleineres Land, wirft Bomben, feuert mit Raketen und tötet neben Soldaten und feindlichen Kämpfern auch unschuldige Männer, Frauen und Kinder – mal mit voller Absicht, mal verbrämt als „Kollateralschaden“. Vor allem Länder im globalen Süden wissen ein Lied davon zu singen: Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen und Libyen. Viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika schauen deshalb deutlich weniger empört und entsetzt auf den Angriff auf die Ukraine als Europa oder die USA. Kaum eines hat sich den Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Und als im März in der UN-Generalversammlung über zwei Resolutionen abgestimmt wurde, die Russland als Aggressor verurteilten, haben sich etliche Staaten enthalten; rund die Hälfte der Enthaltungen kam aus Afrika.

Für Milliarden Menschen im globalen Süden sind Luftangriffe auf Kiew keine Zeitenwende

„Der Krieg betrifft uns nicht“, erklärte Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador kurz nach Russlands Angriff. Indiens Regierung hat klargestellt, dass sie den Krieg nicht moralisch nach dem Schema Gut gegen Böse bewerten werde. Indonesien, das dieses Jahr den Vorsitz der Gruppe der 20 größten Industrie- und Schwellenländer hat, lehnt es ab, auf dem nächsten G20-Gipfel im Oktober über die Ukraine zu sprechen. In Afrika pflegen viele Regierungen traditionell gute Beziehungen zu Moskau, vor allem solche, die aus Befreiungsbewegungen entstanden sind, die im Kalten Krieg von der Sowjetunion unterstützt wurden. Andere afrikanische Staaten, etwa im Sahel, sind enttäuscht von Europas Politik in Bereichen wie Migration und Sicherheit und wenden sich Russland und China zu. Für diese Länder und für Milliarden Menschen im globalen Süden sind Luftangriffe auf Kiew und das Massaker von Butscha ebenso wenig eine Zeitenwende, wie die Bombardierung von Bagdad 2003 und das Grauen im Foltergefängnis Abu Ghraib eine Zeitenwende für Europa und Nordamerika waren.

Andererseits ist der Angriff auf die Ukraine nicht nur für Europa eine Zäsur, sondern auch für den globalen Süden. Der Krieg betrifft ihn eben doch. Denn anders als etwa der Angriff der USA auf den Irak vor fast 20 Jahren hat Russlands Aggression Folgen für die ganze Welt. Im schlimmsten Fall eskaliert der Konflikt zu einem Atomkrieg – das ist unwahrscheinlich, war aber seit der Kubakrise vor 60 Jahren nie mehr so sehr im Bereich des Möglichen wie jetzt. Und schon heute leiden Hunderte Millionen Menschen unter den wirtschaftlichen und politischen Folgen des Ukraine-Kriegs. Die Preise für Nahrungsmittel und für Energie steigen, Lieferketten brechen zusammen, Wirtschaften werden geschwächt und wichtige globale Aufgaben wie der Kampf gegen den Klimawandel bleiben unerledigt. Das schadet vor allem ärmeren Ländern, denen schlicht das Geld fehlt, die Folgen zu dämpfen.

Das Bild vom angeblich moralisch überlegenen Westen ist getrübt

Wie schon zweimal in den vergangenen gut hundert Jahren droht ein militärischer Konflikt in Europa den gesamten Globus in den Abgrund zu reißen. Das ist eine Zumutung für Milliarden Menschen, die damit nichts zu tun haben und auch nichts zu tun haben wollen. Moskau wollte diesen Krieg und hat kaltblütig seinen Nachbarn überfallen. Und es liegt an Moskau, wie lange der Krieg noch dauert. Aber in den 30 Jahren zuvor haben Europa einschließlich Russlands und der Ukraine sowie die USA es verpatzt, auf dem Kontinent eine sicherheitspolitische Ordnung aufzubauen mit dem Ziel, die Welt nicht noch einmal einer solchen Zumutung auszusetzen.

Das muss nachgeholt werden, sobald die Waffen in der Ukraine schweigen. Zugleich muss der Westen auf den globalen Süden zugehen und glaubhaft machen, dass eine Welt, in der liberale Demokratien das Sagen haben, besser ist als das, was Diktaturen wie Russland oder China bieten. Viele Menschen sind davon nicht überzeugt, und das aus guten Gründen. Der erbärmliche Abzug aus Afghanistan nach 20 Jahren Krieg, der schäbige Umgang mit dunkelhäutigen Flüchtlingen oder die egoistische Impfstoffpolitik in den ersten zwei Jahren der Corona-Pandemie haben das Bild vom angeblich moralisch überlegenen Westen weiter getrübt.

Der Westen muss sich das Vertrauen des globalen Südens neu erarbeiten

Länder, die sich nicht bedingungslos der Front gegen Russland anschließen, verbitten sich den Vorwurf, sie stünden moralisch auf der falschen Seite. Die Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wägen in ihrer Haltung zum Ukraine-Krieg ihre Interessen ebenso ab wie Europa und die USA. Nachdem sich Südafrika in der UN-Generalversammlung enthalten hatte, erklärte Präsident Cyril Ramaphosa, das bedeute nicht, das sein Land nicht die Menschenrechte hochhalte oder sich nicht um die zivilen Opfer in der Ukraine sorge.

In der neuen Welt, in der Putin die internationale Ordnung mit Gewalt auf den Kopf stellen will, muss der Westen sich das Vertrauen des globalen Südens neu erarbeiten. Er sollte sich anhören und ernst nehmen, warum ihm immerhin jeder fünfte Staat in der UN-Generalversammlung nicht gegen Russland folgen wollte. Er sollte die ärmeren Länder dabei unterstützen, mit den wirtschaftlichen Folgen des Krieges fertig zu werden – und zugleich deutlich machen, dass er andere Krisen wie den Klimawandel und die Pandemie weiter im Blick hat. Und er sollte heute damit anfangen.

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Mir erschließt sich nicht, inwiefern die Enthaltung einiger Länder bei der Resolution gegen den Angriffskrieg Russlands Beleg für den moralischen Bankrott des Westens sein soll. Das Gesellschaftsmodell in Algerien, Süd-Sudan oder Madagaskar ist ja nun auch nicht im Fokus der russischen Attacken, sondern das westliche. Insofern ist nicht zu beklagen, dass es bisher "verpatzt" wurde, eine Friedensordnung aufzubauen in Europa, sondern dass der russische Cyber- und Informationskrieg und die russische Einflussnahme auf europäische und amerikanische Gesellschaften so wenig ernst genommen wurde und wird. Nicht Mexiko oder Mali, sondern das freiheitliche Gesellschaftsmodell des Westens is under attack. Dies zu akzeptieren und unser westliches Modell konsequent zu verteidigen, das ist moralisch geboten. Davon wird der globale Süden am Ende mehr profitieren als von politisch geschwächten und moralisch in die Ecke gedrängten liberalen Gesellschaften.

Antwort auf von Martin Benninger (nicht überprüft)

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Was aber bedeutet das westliche Modell? Kann es denn wirklich so weitergehen? Was bedeutet Freiheit, wenn jetzt schon ein kleiner Teil der Menschheit so viel Geld besitzt und alle Freiheiten hat, wohingegen ein sehr großer Teil der Menschheit nicht einmal weiß, wie sie den nächsten Tag überleben soll? Kriege sind überall auf der Welt furchtbar und sollte es im 21. Jahrhundert überhaupt nicht mehr geben. Leider ist die Gier des Menschen noch nicht überwunden, solange ihnen nicht bewusst ist, dass sie endlich sind und auch ein goldener Sarg sie nicht wieder lebendig macht. Und was bedeutet schon Demokratie, wenn in wichtigen Fragen das Volk gar nicht gehört wird? Wenn wir eine Partei wählen dürfen, die dann doch ganz anders handelt, als sie es vor der Wahl versprach?

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erschienen in Ausgabe 6 / 2022: Afrika schaut auf Europa
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