„Dass die Terroristen das ganze Land einnehmen könnten, ist falsch“

Eine Menge von afrikanischen Männern, einige mit Flaggen, schaut in die Kamera.
AFP via Getty Images
Zuspruch für die Militärregierung: Demonstration unter den Fahnen der Nation Burkina Fasos für den Putschführer Ibrahim Traore im April 2025.
Konflikte im Sahel
In Mali und Burkina Faso können Islamisten immer wieder schwere Anschläge verüben. Doch für die Bevölkerung hat sich die Lage gebessert, und die meisten unterstützen das harte Vorgehen der Militärregierungen, berichtet Olaf Bernau.

Olaf Bernau ist Soziologe, Autor und Mitbegründer des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact. Er hält sich regelmäßig in Mali und Niger auf. 2022 ist bei C.H.Beck sein Buch "Brennpunkt Westafrika. Die Fluchtursachen und was Europa tun sollte" erschienen.

In Mali und Burkina Faso gab es seit 2020 je zwei Putsche und die Militärregierungen haben dann versprochen, das Land angesichts der Anschläge von Islamisten sicherer zu machen. Gelingt ihnen das?
Das Bild ist sehr gemischt. Auf lange Sicht, verglichen mit den Jahren ab 2012, ist die Lage besser geworden. Damals beherrschten die Islamisten große Teile von Nord-Mali und haben sich erneut dort festgesetzt, nachdem eine Militärintervention Frankreichs sie kurzzeitig vertrieben hatte. Heute sind die Terroristen in Mali nicht mehr in der Lage, größere Städte und Regionen zu kontrollieren, das kann die Armee verhindern. Allerdings ist das Land so groß, dass die Sicherheitskräfte es nicht komplett kontrollieren können, dazu sind sie viel zu wenige.

Wie reagieren die Dschihadisten?
Ihre Strategie ist nun, ständig Anschläge im gesamten Land zu verüben. Die werden im Westen so gedeutet, dass die Islamisten stärker werden. Aus Sicht der Bevölkerung hat sich die Lage aber verbessert. Ich höre aus meinem Netzwerk Afrique Europe Interact – dazu gehören unter anderem eine bäuerliche Basisgewerkschaft, Frauenkollektive und Organisationen von zurückgeschobenen Migranten –, dass die Leute wieder von Gao im Norden in die Hauptstadt Bamako mit dem Bus fahren können. Das ging jahrelang nicht, weil den Busunternehmen das Risiko zu groß war. Ein Kollege, der aus Timbuktu stammt und in Deutschland lebt, hat mir gesagt, er konnte 2025 zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder Dörfer in der Umgebung von Timbuktu besuchen. Auch der Zugang zu Feldern oder Märkten ist wieder einfacher. Das im Westen häufig beschworene Szenario, dass die Terroristen das gesamte Land einnehmen könnten, ist meines Erachtens falsch. Ähnlich ist die Lage in Burkina Faso.

Laut Fachleuten etwa der Crisis Group greifen Islamisten aber in Mali zunehmend Militärbasen an, und in Burkina Faso gibt es immer mehr Angriffe auf Zivilisten und Städte. Widerspricht das nicht Ihrer Einschätzung? 
Die Lage ist zu unübersichtlich, um weitgehende Schlussfolgerungen ziehen zu können. Zum Beispiel gab es am 1. Juli 2025 in Mali gleichzeitig sieben Angriffe auf mehrere Städte oder große Dörfer, dazu einen Anschlag per Sprengfalle gegen einen Militärkonvoi und einen Zusammenstoß der Armee mit Tuareg-Separatisten im äußersten Norden. Das waren neun militärische Großereignisse an einem Tag. An diesem Tag ist es der malischen Armee aber auch gelungen, die Angriffe auf Städte und Dörfer weitgehend zurückzuschlagen. Das war eine Niederlage der Terroristen. Die haben sodann in ihren Medien angekündigt, einen Belagerungsring um zwei große Städte zu ziehen – doch bislang ist nichts passiert. Daran kann man sehen, wie schwierig eine Lagebeurteilung ist. Umso wichtiger erscheint mir, der lokalen Bevölkerung zuzuhören. Und diese fühlt sich eben sicherer.

Wenn der Bürgerkrieg jetzt in Anschlägen ausgetragen wird statt als Kampf um Gebiete, bringt das wirklich ein Ende näher? Kann die Armee ihn militärisch beenden? 
Im Moment nicht. Für viele Beobachter ist das aber eine Frage der Zeit. Die Armeen Malis und Burkina Fasos haben stark aufgerüstet und ihre Soldatenzahl vergrößert. Viele gehen davon aus, dass die Islamisten Schritt für Schritt zurückgedrängt werden können, wobei die Gefahr ständiger Anschläge noch eine Weile anhalten wird. Ähnlich wie in Nigeria, wo Boko Haram in ländliche Gebiete abgedrängt wurde und trotzdem weiter Anschläge verübt.

Wer schließt sich den Dschihadisten an? 
Sie rekrutieren sich überwiegend lokal und aus jungen Männern. Dahinter stecken neben der Armut, von der alle betroffen sind, zwei Arten sozialer Spannungen: erstens die Diskriminierung von pastoralistischen Gemeinschaften, also Viehhirten, und zweitens Konflikte innerhalb dieser Gemeinschaften selbst. So werden unter den Fulbe-Hirten bis heute die Nachfahren früherer Sklaven stark benachteiligt, etwa beim Zugang zu Weideflächen. Die Dschihadisten versuchen, solche Spannungen auszunutzen, und machen verlockende materielle Angebote: Sie zahlen hohe Gehälter und man bekommt noch ein Motorrad und eine Waffe. Damit ist ein verarmter Viehhirte oder ein Bauer ohne Land ein gemachter Mann. Die Gewalt wird nur enden, wenn die sozialen und ökonomischen Probleme so weit angegangen werden, dass die Menschen wieder eine Perspektive sehen, ohne Gewalt zu etwas zu kommen. Aber richtig ist auch: Sobald die militärische Logik sich verfestigt hat, geht es ohne Militär nicht. Denn die Dschihadisten vereiteln gezielt all die Ansätze, die den Krieg beenden könnten. Sie greifen zum Beispiel Imame und Dorfvorsteher an, die lokale Friedensinitiativen starten, und verhindern Projekte gegen die Armut.

Oberst Assimi Goïta (l-r), Übergangspräsident von Mali, Brigadegeneral Abdourahamane Tiani, Übergangspräsident in Niger, und Hauptmann Ibrahim Traoré, Übergangspräsident von Burkina Faso, nehmen an dem ersten Gipfel der von ihnen gegründeten Konföderation Allianz der Sahel-Staaten (AES) teil.

Haben nicht auch die Militärs solche lokalen Initiativen gestoppt und einige beteiligte lokale Führer verhaftet?
Ich kann das nicht ausschließen, aber ich habe nichts dergleichen gehört. Und es würde der offiziellen Politik widersprechen. 

Woher bekommen die Dschihadisten ihr Geld? 
Aus mafiösen Geschäften. Das größte ist wahrscheinlich Viehdiebstahl, daneben sind sie im Schmuggel von Zigaretten, Waffen oder Drogen tätig. Sie nehmen auch Wegezölle. Und neuerdings erheben sie große Beträge, indem sie von Dörfern den Zakat fordern, eine im Islam vorgesehene Steuer, mit der Drohung: Entweder ihr zahlt oder wir greifen euch an. Das ist eine Art Schutzgelderpressung. Damit haben sie es im Zentrum Malis geschafft, viele Dörfer zu Tributzahlungen zu zwingen. Früher haben sie auch Mitarbeitende westlicher Organisationen entführt, aber die sind kaum noch anzutreffen. 

Rekrutieren die lslamisten besonders in bestimmten Gruppen? 
Hauptsächlich unter Viehhirten; die sind überwiegend Fulbe, aber nicht ausschließlich. Man sagt im Sahel gern: Fast alle Terroristen sind Viehhirten, aber nur die wenigsten Viehhirten sind Terroristen. Diese Unterscheidung geht allerdings im Kampf immer wieder verloren und die Hirten, oder die Fulbe, werden unter Generalverdacht gestellt.

Den Sicherheitskräften und mit ihnen verbundenen Milizen werden Massaker an Zivilisten vorgeworfen, die den Dschihadisten neue Rekruten verschaffen. Stimmt das? 
Das gibt es, aber nicht in allen Sahelländern gleichermaßen. In Mali hat die Armee schon 2018-2019, also vor den Putschen, nach mehreren großen Massakern in Dörfern zwischen Fulbe und Dogon die Selbstverteidigungsmilizen stark zurückgedrängt und das Heft des Handels in die Hand genommen. In Burkina Faso dagegen, wo die Gewalt später eskaliert ist, sind lokale Selbstverteidigungskräfte gesetzlich vorgesehen und haben ein Eigenleben entwickelt. Inzwischen hat die Militärregierung sie straffer in die staatlichen Sicherheitskräfte eingebunden und das hat deren Übergriffe verringert, aber sie finden weiter statt.

Die Junten haben ausländische Söldner engagiert, speziell die russische Gruppe Wagner beziehungsweise ihre Nachfolgeorganisation Afrika-Korps. Denen werden schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Untergräbt das die Legitimität der Armeen? 
In Burkina Faso sind nur wenige russische Söldner und bilden eher eine Art Präsidialgarde. Dagegen sind in Mali ungefähr 1500 von ihnen und sie sind direkt in den Anti-Terror-Kampf eingebunden. Videos zeigen, dass sie tatsächlich an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt sind. Das schadet aber nicht dem Ansehen der Armee. Die Bauern, mit denen meine Organisation zusammenarbeitet, sind seit Jahren mit Terror konfrontiert, der schreckliche Folgen für sie hat: Schulen und Krankenstationen sind geschlossen, Menschen im Land vertrieben und es gibt Hunger, weil nichts angebaut werden kann. Ein paar Tausend Dschihadisten lähmen ganze Gesellschaften mit über 20 Millionen Menschen. Aus diesem Gefühl heraus sagen viele: Wir müssen jetzt zurückschlagen. Kaum jemand bestreitet, dass es Übergriffe gibt. Aber die Leute fühlen sich derart unter Druck, dass ihnen jedes Mittel gegen die Terroristen legitim erscheint. In Mali habe ich selbst von schärfsten Kritikern der Militärregierung oft gehört: Wir stehen alle hinter unserer Armee, der FAMA, sie kämpft für unser Land. Auf die lässt fast niemand etwas kommen.

Auch nicht die Gruppen, die sie bekämpft?
Natürlich, die Stimmung ist anders, wo die FAMA im Norden und im Zentrum des Landes Antiterror-Operationen durchführt und wo es auch zu Opfern unter der Zivilbevölkerung kommt, auch durch Übergriffe seitens der Armee oder von Söldnern. Zumindest in Mali kommt es jedoch punktuell zu juristischen Ermittlungen gegen die Täter, obwohl die Armee selbst hohe Verluste erleidet. Insbesondere wegen solcher Verluste meinen lokale Beobachter, dass eine vollständige Aufarbeitung der Vorgänge erst nach Abklingen der Kämpfe möglich sein wird.

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Fühlen Hirten, die von der Armee oder Wagner angegriffen werden, sich nicht ihrerseits unter Druck, so dass eine Spirale der Gewalt entsteht und das Zusammenleben der Gruppen in den Dörfern immer schwieriger wird? 
Auf jeden Fall, solche Spaltungen sind das Kalkül der Terrorgruppen. Gerade im Zentrum des Sahel leben in vielen Dörfern mehrere Sprachgruppen, und Ackerbau und Viehzucht ergänzen sich ökonomisch eigentlich. Viele machen sich Sorgen, wie das künftig gehen kann. Aus der Spirale kommt man nur raus, wenn es gelingt, Räume zu schaffen, in denen die Terroristen nicht alles vorwärts Weisende kaputt machen können, und Vertrauen wieder wächst. Aber alle, auch an der Staatsspitze, wissen, dass das kein Konflikt zwischen Ethnien werden darf. Es steht in Burkina Faso und Mali unter Strafe, sich abwertend über Ethnien, etwa die Fulbe, zu äußern oder zu Gewalt gegen sie aufzurufen.

Beiden Militärregierungen wird vorgeworfen, dass sie die zivile Opposition und kritische Medien unterdrücken, um sich an der Macht zu halten. Zu Recht? 
Ja. Es gibt Prozesse wegen Meinungsdelikten. Doch manchmal geht es primär um Korruption und Unterschlagung in der von den Militärs gestürzten alten politischen Klasse: Deren Mitglieder bekommen Steuernachforderungen für viele Jahre – zum Beispiel, wenn sie nicht nachweisen können, woher das Geld für ihre Häuser oder Autos stammt. Wenn sie deshalb Probleme mit der Justiz bekommen, sagen sie, sie würden für ihre Kritik an der Militärregierung verfolgt.

Aber es werden tatsächlich Menschen für Meinungsäußerungen verfolgt, zum Beispiel Journalisten? 
Ja.  Die Art freier Presse wie vor den Putschen gibt es nicht mehr. Allerdings war die im Sahel auch stark geprägt von scharfen, polemischen Meinungsartikeln. Halbwegs neutrale Schilderungen von Sachverhalten waren eher selten. Der öffentliche Diskurs war jahrzehntelang von Gerüchten, Unterstellungen und übler Nachrede vergiftet. Viele im Sahel sagen daher nun selbst: Es ist ganz gut, dass wir uns jetzt zügeln müssen. Insofern kommt es auch darauf an, wie man Dinge sagt: Wenn man auf scharf formulierte Kommentare und Glossen verzichtet, kann man vieles äußern. Es gibt in privaten Radios jeden Tag Sendungen, in denen kritisch und kontrovers diskutiert wird. Einige Tabus gibt es allerdings, etwa Übergriffe der Armee oder von Wagner. Dies zeigt: Der Übergang zur Unterdrückung von missliebiger Kritik ist fließend und man kann dafür heute im Gefängnis landen.

Wollen Sie sagen, die Leute wünschen sich starke Männer, die ihnen beibringen, sich wieder vernünftig zu benehmen?
Ich gebe hier wieder, was die Leute in Mali, Burkina Faso oder Niger denken. Ich selbst vertrete bei Gesprächen im Sahel immer die Meinung, dass man die Redefreiheit nie beschränken darf. Aber es ist wichtig, die Sichtweise im Sahel zur Kenntnis zu nehmen. Die Menschen bestreiten nicht, dass die Redefreiheit beschränkt wird, sondern begründen, warum.

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Zugespitzt gesagt: Viele wissen, dass es Menschenrechtsverletzungen gibt, und finden das in Ordnung? 
Das wäre mir zu zugespitzt. Den Menschen im Sahel sind Menschenrechtsverstöße nicht egal. Sie halten sie aber für unvermeidbar, um aus einer für alle katastrophalen Lage herauszukommen. Vor allem trauern sie auch um alle Opfer. Als am 1. Juli die Terroristen bei ihren Angriffen große Verluste erlitten hatten, wurden Bilder von Dutzenden getöteten, sehr jungen Dschihadisten im Internet geteilt. Und alle Frauen aus unserem Netzwerk haben bei einem Online-Treffen gesagt: Da kann man gar nicht hinschauen, da werden unsere Kinder in einem sinnlosen Krieg verheizt. Die Leute leiden sehr an der Situation. 

Selbst wenn die Gründe für ein militärisches Vorgehen nachvollziehbar sind – finden Sie es auch klug oder richtig? 
Nein. Vieles ist zu kritisieren und wird meines Erachtens auch zu Recht am Ort kritisiert. Und natürlich ist es nicht richtig, wenn Soldaten einen Kämpfer oder Zivilisten erschießen, der keine Gefahr darstellt. Aber ich halte es für wichtig, zu verstehen, was man im Sahel denkt, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Nach den Militärputschen haben die anderen Staaten der ECOWAS und westliche Länder die falschen Schlüsse gezogen und Mali, Burkina Faso und dann den Niger mit Sanktionen belegt oder Hilfe eingestellt. Damit wollten sie für Demokratie eintreten, haben aber das Gegenteil bewirkt. Denn die Sanktionen wurden im Sahel als hochgradig ungerecht empfunden, da ja die gestürzten Regierungen als Fassadendemokratien galten – mit Phänomenen wie Korruption, Straflosigkeit und Repression. Das hat das Freund-Feind-Denken und die Bereitschaft zu autoritären Vorgehensweisen befördert statt behindert. Es ist gut, dass Deutschland hier differenzierter herangeht als Frankreich: Das deutsche Entwicklungsministerium hält im Sahel Kontakte, statt den Leuten weitere Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann. 

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